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TIERGESCHICHTEN/012: Spinnen sind auch Menschen ... (SB)



Wir saßen gerade bei meiner Oma im Garten am Kaffeetisch und ließen uns die Erdbeertorte mit Schlagsahne schmecken. Die Sommerferien verbringe ich stets bei ihr, und ich kann es kaum erwarten, die Fahrt in das kleine Dorf anzutreten. Wir lachten und schwatzten über dies und das, als sich plötzlich eine Spinne neben meinem Sitzplatz abseilte. Ich erschrak, ruckte blitzschnell mit dem Stuhl zu Seite, kippte dabei meine Tasse Kakao um und fand mich auf dem Rasen hockend wieder. Meine Oma fragte besorgt, ob ich mir wehgetan hätte, was aber nicht der Fall war. Sie lächelte und half mir auf. Als ich mich wieder an den Tisch gesetzt hatte, war die Spinne verschwunden.

"Ich kann Spinnen nun mal nicht leiden", erklärte ich empört.

"Ist schon gut, Lena, ist schon gut. Gerade ich kann dich gut verstehen, aber wie du weißt, gehören die Spinnen nun mal hierher und es kann nicht verkehrt sein, mit ihnen auszukommenn."

"Wieso sagst du das, Oma?", wollte ich wissen.

"Na, wenn du magst, erzähl ich dir von meiner ganz persönlichen Begegnung mit Spinnen."

"Oh ja, gern."

Schnell holte ich mir einen anderen Becher und schenkte mir einen neuen Kakao ein, dann lauschte ich gebannt der Erzählung meiner Oma, die wie folgt begann:

"Also Lena, du weißt, dass ich nicht immer hier auf dem Land gelebt, sondern meine ersten Lebensjahre in einer Großstadt verbracht habe. Doch genau wie du, konnte ich die Sommerferien kaum erwarten, denn dann fuhren meine Mutter und ich ans Meer, wo wir meine Tante besuchten. Sie bewirtschaftete mit ihrem Mann, also meinem Onkel, einen kleinen Bauernhof. Für mich war das ein spannendes Erleben, die Tiere zu versorgen, auf den Pferden zu reiten oder das Melken der Kühe zu lernen. Fliegen, Käfer, Ameisen und Spinnen bevölkerten den Stall in großer Zahl. Ich fürchtete mich eigentlich nicht vor ihnen, denn sie taten mir nichts und hielten sich stets in gemessenem Abstand zu mir. Doch eines Abends sollte ich eine Überraschung erleben. Nach dem Essen, dass wir an dem Tag ziemlich spät einnahmen, stieg ich die Treppe zu dem kleinen Zimmer unter dem Dach hinauf, in dem ich in der Ferienzeit wohnen durfte. Reichlich müde schlüpfte ich in mein Nachthemd, schlug die Decke von meinem Bett zurück und erschrak. Es gelang mir gerade noch nicht laut loszuschreien.


Mitten auf dem aufgeschlagenen Bett hockt eine dicke, schwarze Spinne - Buntstiftzeichnung: © 2021 by Schattenblick

Spinne im Bett
Buntstiftzeichnung: © 2021 by Schattenblick


Stocksteif blieb ich stehen und wusste im ersten Moment nicht, was ich unternehmen sollte. Dann aber griff ich nach dem leeren Glas, das auf meinem Nachtisch stand und stülpte es entschlossen über die schwarze und ziemlich große Spinne. Die Gefahr war gebannt! Doch für die arme Spinne war es wohl ein Schock, plötzlich in Gefangenschaft zu sein. Völlig panisch suchte sie nach einem Ausweg. Rasch hielt ich Ausschau nach einem geeigneten Gegenstand, einem Papier oder einer dünnen Pappe, die ich unter das Glas schieben konnte, um die Spinne dann hinaus auf den Flur zu befördern. Ich zog das Lesezeichen aus meinem Buch, schob es vorsichtig unter das Glas und trug das Spinnentier in den Flur, wo ich es aus seinem Gefängnis befreite. Nachdem ich mein Bett sorgfältig auf etwaige andere unliebsame Bewohner untersucht hatte, legte ich mich schlafen.

Der nächste Tag, ich weiß es noch genau, brachte so viele spannende Begebenheiten mit sich, dass ich das nächtliche Erlebnis mit der Spinne völlig vergessen hatte. Ich erzählte sogar niemanden davon, denn es schien mir ziemlich unwichtig in Anbetracht der Geburt eines Fohlens, bei der ich dabei sein durfte. Am Nachmittag fuhren wir an die See und badeten und später tobte ich noch mit Tantchens Hund Nico. Nach dem Abendessen war ich so erschöpft und todmüde, dass ich gleich zu Bett gehen wollte, nur noch Zähneputzen und dann ab ins Land der Träume. Endlich stand ich fertig im Nachthemd und schlug die Bettdecke zurück.

Und nun darfst du raten, was ich dort sah."

"Wie kann ich das wissen, Oma?"

"Nein, das kannst du nicht wissen Lena. Aber denk nur, es war eine große, schwarze Spinne!"

Diesmal blieb mir der Mund offenstehen und ich blinzelte, um mich zu vergewissern, ob ich wirklich eine Spinne gesehen oder mir das bloß eingebildet hatte. Nein, sie war echt und bewegte sich so geschwind zum Rand der Matratze, dass jeder Gedanke daran, sie zu fangen überflüssig schien. So verfolgte ich nur noch ihren Fluchtweg und als ich sicher war, dass sie sich nicht mehr in der Nähe aufhielt, legte ich mich schlafen.

Als ich am dritten Tag in mein Zimmer ging, hatte ich mich mit einem Becher und einer dünnen Pappe bewaffnet. Sollte die Spinne es sich heute wieder in meinem Bett gemütlich gemacht haben, würde ich sie sofort fangen und ganz weit nach draußen in den Garten bringen. Ob du es glaubst oder nicht, ich fand die Spinne tatsächlich wieder im Bett, fing sie auch sofort ein und gab ihr deutlich zu verstehen, dass ich wütend war, dass es mein Bett sei und sie sich gefälligst einen anderen Platz suchen solle. Verärgert tapste ich mit meinem Fang auf Puschen in den Flur, stieg die Treppe hinab und stolperte unten angekommen über Nico, den am Treppenabsatz schlafenden Hund.

Ich schaffte es gerade noch mich zu fangen, Nico sprang so rasch auf seine vier Pfoten, kläffte mich an, mein Spinnenfanggerät fiel zu Boden und die Spinne ergriff sofort die Flucht. Nico sah das Krabbeltier und sprang - seine Pfote landete knapp neben der Spinne - und auf einmal wollte ich sie retten. Gerade noch schimpfte ich mit ihr und nun war ich beseelt von dem Gedanken an ihre Rettung. Nun, der Hund war schneller. Mit einem Satz erreichte er die Spinne und schnappte sie sich. Die Spinne tat mir mit einem Mal wirklich leid."

"Und seitdem magst du Spinnen?"

"Nein, Lena, das nun gerade nicht, aber wenn sie sich dort aufhalten, wo sie mich nicht weiter stören, habe ich nichts gegen sie", erklärte mir meine Oma, "und wenn sie sich neben meinem Sitzplatz abseilen, kann doch nichts passieren. Sie gehen ihren Weg und ich esse meinen Kuchen."

Ende


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 164 vom 10. Juli 2021


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