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TIERE/114: Der Wolf und sein Mensch ... (SB)



Überall auf der Welt eilt dem Wolf ein mehr als schlechter Ruf voraus. Obgleich er, wie andere auch, zu den gefährlichen Raubtieren zählt, hegt der Mensch im allgemeinen einen ganz besonderen Groll gegen ihn, der allzu oft in blanken Hass und Vernichtungsabsichten mündet. Über den Wolf werden viele Legenden verbreitet, die seine Gefährlichkeit, Verschlagenheit und Gerissenheit hervorheben. Auch in den Märchen wird ihm die Rolle des Bösewichts zugeschrieben. Doch hat all das wirklich etwas mit dem Wesen dieses wilden Tieres zu tun? Neueste Wolfsforschungen zeigen ein ganz anderes Bild von Isegrim.


Zeichnung von Rotkäppchen, dass sich zum als Großmutter verkleideten Wolf hinabbeugt - Foto: by Carl Offterdinger [Public domain], via Wikimedia Commons

Foto: by Carl Offterdinger [Public domain], via Wikimedia Commons


Sind Mensch und Wolf gar nicht so verschieden?

Die Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Wolf sind vielfältiger als bislang anerkannt wurde. In freier Wildbahn sind Wölfe rechte Familientiere. Vater und Mutter Wolf übernehmen die Leitung und leben mit ihren Jungen zusammen, die über mehrere Jahre bei ihnen bleiben. Sie bekommen in dieser Zeit kleine Geschwister, die von den größeren lernen. Erreichen die männlichen Jungwölfe nach ihrer Geschlechtsreife ein bestimmtes Alter, verlassen sie ihr "Elternhaus" und suchen sich ein junges Weibchen, um schließlich mit ihr eine eigene Familie zu gründen.

Aber das heißt nicht, dass Wölfe harmlos sind, ebenso wenig wie ein Tiger, Löwe, Panther, ein Krokodil, ein Piranha oder ein Hai. Sie alle sind gefährlich und bedrohlich für ihre Beute. Wenn sie hungrig sind, jagen und töten sie andere Tiere, um satt zu werden - es sind wilde Tiere. Doch sind sie deswegen schlecht oder böse?


Ein stehender Wolf von der Seite zeigt eine typische dunkle Fellfärbung auf der Oberseite, Kopf, Rücken, Schwanz - Foto: 2005, by Malene Thyssen (Own work) [CC BY-SA 2.5 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5)], via Wikimedia Commons

Foto: 2005, by Malene Thyssen (Own work) [CC BY-SA 2. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5)], via Wikimedia Commons

Das Problem entsteht, wenn nicht ausreichend Platz für Mensch und Tier vorhanden ist oder anders ausgedrückt, wenn der Mensch dem Tier nicht genügend Raum zum Überleben übrig lässt. Doch es gab und gibt hier und da auch heute noch andere Möglichkeiten des Zusammenlebens zwischen Wolf und Mensch. Ein Biologe aus Indien veröffentlichte seine jahrelangen Forschungen und Beobachtungen der indischen Wölfe und eines traditionellen Hirtenvolkes, das als Nomaden durch die Savanne Indiens zieht. Er wollte wissen, was an der Legende dran ist, die besagt, dass die Wölfe den Hirten folgen.


Der indische Wolf - ein Geisterwolf?

Auch in Indien wird der Wolf von Menschen gejagt und getötet oder vergiftet. Es leben nur noch wenige von ihnen in dieser für sie feindlichen Umgebung und ihre Art gilt als stark gefährdet. Zwar steht der indische Wolf schon seit 1972 unter Schutz, doch hilft ihm das wenig. Ein weiterer Grund für den starken Rückgang der Wolfspopulation ist, dass die natürlichen Beutetiere wie Antilopen, Nagetiere, Hirschziegenantilopen und Hasen verschwunden sind. Auch sie fielen der Landwirtschaft und dem Siedlungs- und Straßenbau zum Opfer oder sind in ganz andere Gebiete geflüchtet.


Ein indischer Wolf liegt auf einer Steinplatte, er sieht eher schmächtig aus - Foto: 2008, von Farhan from Karachi, Pakistan (P6210081) [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

Der indische Wolf ist kleiner und schmaler als seine nördlichen Brüder
Foto: 2008, von Farhan from Karachi, Pakistan (P6210081) [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons


Doch der indische Wolf ist extrem anpassungsfähig, er lebt in sehr trockenen Gebieten, beispielsweise in der Halbwüste Ghajards. Sehr zum Ärger der Menschen greift er sich auch Haustiere, um seinen Hunger zu stillen. Aber das erweist sich oft als sehr schwierig und so ernähren sich die Wölfe auch von Datteln, Bananen oder ähnlichem Obst.

Auf der Suche nach den seltenen indischen Wölfen durchstreift besagter Biologe weite Savannengebiete. Dabei trifft er auf ein Hirtenvolk, dass wie in alten Zeiten ganz traditionell als Nomaden über das Land zieht. So erfährt er, dass die Wölfe ihnen tatsächlich folgen und sich irgendwie unsichtbar in ihrer Nähe aufhalten. Die Wölfe seien wie Staub, heißt es, und der Grund wird bald verständlich, denn sie tauchen plötzlich wie aus dem Nichts auf. Ihre Fellfarbe bietet die perfekte Tarnung und sie bewegen sich nahezu lautlos. Ihr Verhalten hat sich verändert, beispielsweise treten ihre Welpen nur einzeln auf und bewegen sich nicht in einer sichtbaren Gemeinschaft mit Vater- und Muttertier. Obgleich es für die Jungen gefährlich ist, die Graslandschaft allein zu durchstreifen, scheint es immer noch sicherer zu sein als wenn sie sich in großen Familien bewegen und dadurch auch auffälliger wären. Für die Jungen ist es wichtig das unvorhersehbare Auftauchen und das fast magisch wirkende Verschwinden zu lernen. Und wer weiß, ob sie wirklich allein sind?

Der Forscher beobachtet wie der Wolf einen für Menschen kaum hörbaren Laut ausstößt. Kurze Zeit später tauchen ganz plötzlich seine vier Jungen aus unterschiedlichen Richtungen auf und auch die Wölfin folgt seinem Ruf. Sie begrüßen sich innig, sind aber nur für kurze Zeit zusammen, dann trennen sich ihre Wege wieder und so plötzlich wie sie aufgetaucht sind, sind sie auch wieder verschwunden. Ist dies bereits die neue Lebensweise der Wölfe, die ihrer gefahrvollen Lebenssituation angemessen ist?

Um ihre Schafe oder Ziegen vornehmlich des nachts beieinander zu halten, ganz besonders gilt dies auch für die Jungtiere, bauen die Nomaden einfache Zäune, da sie nie lange an einem Ort bleiben. Doch die Wölfe sind schlau, sie haben viel dazu gelernt. Einige von ihnen sind besonders geschickt und heben die Befestigungsstöcke des Zauns aus dem Boden oder suchen nach irgendeinem Schlupfloch, wo sie unter der Umzäunung ins Innere gelangen können. Da die Tiere zudem aber noch von den Hirtenhunden bewacht werden, ist es für den Wolf trotzdem ziemlich schwierig, ein Schaf oder eine Ziege zu reißen.


Besteht zwischen Nomaden und Wölfe ein stilles Abkommen

Damit ist das Staunen über das intelligente Verhalten der Wölfe für den Biologen aber noch nicht zu Ende. So beobachtet er eines Tages, wie ein Wolf sich einer Herde Schafe nähert. Die Schafe laufen aber nicht weg, sondern bauen sich vor dem Wolf in einem geschlossenem Pulk auf und es scheint fast so, als wollten sie den Wolf angreifen. Der weicht ein wenig zurück, aber nur um dann mitten hinein in die Herde zu stürmen, sich blitzschnell ein Lamm zu greifen, um mit seiner Beute rasend schnell wieder zu verschwinden. Hatte die Schafsherde etwa ein Lamm geopfert, um erst einmal wieder Ruhe vor dem Wolf zu haben?

Zwei Jahre lang hat der Forscher die Nomaden mit ihrer Herde begleitet. Doch was ihn noch immer wundert, was ihm unverständlich bleibt, ist das Verhalten der Nomaden. Sie sind nicht besonders aufgeregt, wenn ein Wolf auftaucht und sich ihren Tieren nähert. Zwar veranstalten sie durchaus ein Getöse, um ihn zu verjagen, doch verfolgen sie ihn nicht und niemand scheint den Wolf töten zu wollen. Während im ganzen Land die seßhaften Hirten und Bauern den Wolf auf jede Art und Weise vernichten wollen, bleiben sie ohne Haß gegen ihn. Am Schluß erfährt der Biologe auch den Grund dafür. Eine Legende, die seit Generationen bei den Nomaden überliefert wird, lautet ungefähr so:

Es waren einst drei Brüder, die den elterlichen Viehbestand unter sich aufteilen sollten. Zwei Brüder betrogen aus lauter Gier den dritten und als er das bemerkte, verfluchte er seine beiden Brüder, auf dass sie für immer durchs Land ziehen müssen. Er selbst lebte fortan im Wald und kehrte als Wolf zurück, folgte seinen Brüdern mit ihren Viehherden und forderte seinen Tribut. Wird also ein Lamm gerissen, dann erinnert es die Nomaden an ihre Gier und wie könnten sie dem Wolf, also ihrem Bruder, Böses antun.

Die Entwicklung in Indien, der anwachsende Städte- und Straßenbau, die Landwirtschaft und Industrie fordern ihren Platz. Das hat auch für die Nomaden zur Folge, dass sie nicht mehr lange ihrer Tradition gemäß werden leben können und damit verliert auch der Wolf einen gewissen Freiraum, der ihm aufgrund dieser Legende zuteil wurde und wohl vielen Wölfen das Überleben ermöglichte.


Diesem Artikel liegen folgende Quellen zugrunde:

TV-Sendung
"Indiens wilde Wölfe"
Dokumentarfilm, Indien, 2014
Regie: Senani Hedge
45 Min.

https://www.waldwissen.net/wald/tiere/saeuger/wsl_raubtiere_mythologie/index_DE

http://www.sturmwoelfin.de/wolfsgeschichtenindischewolfsmythen.htm


22. Februar 2018


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