Schattenblick →INFOPOOL →KUNST → FAKTEN

BERICHT/110: Selbstverstümmelung als kritische Kunstform (ROSA)


ROSA:33 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - Oktober 2006

Selbstverstümmelung als kritische Kunstform

Von Markus Brunner


Die aus der bildenden Kunst entstandene Aktionskunst setzte den menschlichen Körper und den ihm in manchmal sehr blutigen Aktionen zugefügten Schmerz ins Zentrum des Versuchs, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu überwinden. Während dabei anfangs der echt versehrte Körper noch als das Vehikel des "wirklichen", vorsymbolischen Lebens angesehen wurde, verschob sich bald der Fokus auf die Thematisierung der Produktion von Körpern und Körperbildern.


*


Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg war die Krise der bürgerlichen Kunst, die die Dadaisten schon in den 10er-Jahren entblösst hatten, offensichtlich geworden: Die durch die klassische Trennung von Schein und Sein, von Kunst und Wirklichkeit zur gesellschaftlichen Irrelevanz verdammte Kunst hatte weder dem Alltagsgrauen noch dem von Auschwitz und Hiroshima etwas entgegenzusetzen gewusst. Die Abschottung der schönen Künste als Ersatzbefriedigung für die gesellschaftlich nicht eingelösten Wünsche der BürgerInnen musste angegriffen und umgekehrt das Leben, die Wirklichkeit, wieder in die Kunst hineingeholt werden.

Auf unterschiedliche Weise wurde versucht, das Tafelbild der klassischen Malerei in die Wirklichkeit zu erweitern: Der Akt des Malens und damit der Körper des (meist männlichen) Künstlers wurden in das Bild einbezogen, Leinwände in öffentlichen Aktionen bemalt und beschattet, der Körper als Pinsel benutzt. Manche Künstler griffen die Zweidimensionalität des Bildes an, durchbohrten und zerschnitten systematisch die Leinwand. In der Nachkriegs-Avantgardekunst wurde so weniger über das darzustellende Objekt als vielmehr über die Produktionsbedingungen der Kunst, über den Künstler selbst und seinen Körper nachgedacht.


Der Wiener Aktionismus

Radikal weitergetrieben wurde diese Tendenz in den 60er-Jahren von einer Schar Wiener Maler, die unter dem Label Wiener Aktionismus in die Kunstgeschichte eingehen sollten. Sie alle kamen von der gestischen Malerei her, und ihr Bestreben, das Tafelbild zu überwinden, die Hülle des Scheins zu sprengen, um in ein unmittelbares Sein einzudringen, führte schliesslich bei allen zu unterschiedlichen Formen der Aktionskunst.

Otto Mühl und Hermann Nitsch experimentierten beide auf sehr verschiedene Weise mit neuen, "lebensnaheren" Materialien, sie ersetzten Farbe durch Nahrungsmittel und Tierblut und benutzten den Körper, den sie mit Blut, Kadavern, schliesslich bei Mühl auch mit Exkrementen beschatteten, als Material.

Der Radikalste und Konsequenteste der Wiener Aktionisten war aber wohl Günter Brus, der "die Malerei mit malerischen Mitteln zu überwinden" versuchte und dabei einen sehr physischen und existentiellen Kampf gegen die Leinwand führte. In seinem Versuch, in die Wirklichkeit vorzudringen, spannte er Seile und Papierleinwände durch den ganzen Raum, durch die er mit zusammengebundenen Händen hindurchkriechen musste, um überhaupt an die zu bemalenden Leinwände zu gelangen, über deren Rahmen er hinausmalte, die er durchstach, bespuckte und mit Urin und Ejakulat beschmierte. Irgendwann wurde der ganze Raum zur Leinwand, seine ganze Umgebung und schliesslich auch er selbst, als er sich mit weisser Grundfarbe und schwarzen, seinen Körper formatierenden und zerstückelnden Linien bemalte. So geschmückt wanderte er durch Wien, machte damit die ganze Stadt zum Kunstwerk und sein Gemälde zu einem Teil des Alltagslebens - und wurde prompt verhaftet. Auch Brus ersetzte die Farbe bald durch "wirkliche" Materialien, die er allesamt aus sich selbst gewann: In seinen "Selbstanalysen" beschmierte er sich mit Kot, trank Urin und begann sich selbst mit Rasiermessern zu schneiden, damit mit seinem eigenen Blut rinnende Linien zu ziehen. In dieser radikalen Konzentration auf den eigenen Körper war die Trennung von Schein und Sein überwunden: Jeder künstlerische Schnitt war auch ein realer.

Kunst und "Wirklichkeit" wurden in dieser Selbstreferentialität identisch, "aber nicht um den Preis einer lügnerischen Versöhnung (...), sondern es wird die Differenz umso schmerzlicher bewusst"(1), so der Künstler und Kunsthistoriker Peter Weibel. Unmittelbarkeit, die Preisgabe jeder symbolischen Ordnung, hatte die "Selbstentleibung", die Selbstaufgabe zur Bedingung und zur Folge. Dass mit dieser Darstellung einer existentiell leidenden Kreatur und der sich selbst verstümmelnden Wirklichkeit auch ein Gesellschaftskommentar gemacht wurde und Brus deshalb, wie auch Mühl, von der politischen Linken breit diskutiert wurde, leuchtet ein.

Geschlecht aber war bei den Aktionisten kein Thema. Die Suche nach der "wahren" Wirklichkeit versperrte vollkommen die Sicht auf die gesellschaftliche Konstruktion dieser Wirklichkeit und der "realen" Körper. Gerade bei Mühl und Nitsch, wo nicht nur der eigene Körper, sondern auch Modelle benutzt wurden, wurden Geschlechterbilder und -verhältnisse eher reproduziert als thematisiert, was von feministischer Seite schon damals kritisiert wurde.

Anfang der 70er-Jahre ging die Ära des Wiener Aktionismus zu Ende. Brus hörte wegen "akuter Selbstgefährdung" auf, er wollte nicht "in Richtung Extremaktionismus" weitergehen. Ein solcher entwickelte sich gerade in den USA. In einer seiner minimalistischen und radikal auf seinen Körper konzentrierten Arbeiten liess sich Chris Burden z.B. 1971 von einem Freund in den Oberarm schiessen. Auch wenn solche Aktionen sicher als Gesellschaftskommentar zu lesen sind, hier als Auseinandersetzung mit Gewalt und Waffenfetischismus, inszenierte Burden - ganz im Gegensatz zu Brus' androgynen Leidensdarstellungen - in seinen oftmals lebensgefährlichen Aktionen eher einen modernen männlichen Heldenmythos. Seine Aktionen waren eine Art Mutprobe, in denen er aus einem Kampf gegen die Technik als Sieger hervorging: "Die Kunst besteht in dem, was ich durchmache."


Aktionskunst von Frauen

Aber nicht nur Männer versehrten im Rahmen von Kunstperformances ihren Körper. Die Jugoslawin Marina Abramovic schnitt sich 1975 mit einer Rasierklinge einen Stern in den Bauch, peitschte sich aus bis sie keinen Schmerz mehr spürte und liess sich danach, auf Eisblöcken liegend, von einem Wärmestrahler die Wunden noch mehr öffnen, bis Zuschauer aus dem Publikum sie aus dieser lebensgefährlichen Situation retteten. Ihre zahlreichen Versuche, sowohl gesellschaftliche Grenzen und diejenigen des traditionellen Kunstbetriebs, wie auch ihre eigenen psychischen und physischen auszuloten und zu überwinden, bedrohten immer wieder ihr Leben. Anders als Burden wurde dabei aber nicht ein Heldenmythos inszeniert; Abramovic betonte immer wieder, wie sehr sie durch das Publikum erst die Kraft für ihre Aktionen gewinne, durch die sie Schmerz und Todesangst zu überwinden hoffte. Trotz ihrer immer stärker werdenden esoterischen Orientierung, durch die sie ihre Aktionen als Überwindung ihres "weltlichen Egos" und als Sprung in den "Kosmos" deutete, lassen sich v.a. die frühen Aktionen durchaus gesellschaftskritisch als der Versuch der Darstellung und Überwindung gesellschaftlicher Gewalt, Codierung und Einschreibung begreifen.

Interessant ist, dass es nur Frauen gewagt haben, sich radikal dem Publikum auszusetzen und damit auch die Kontrolle der Aktionen aus der Hand zu geben. Angelehnt an eine Aktion von Yoko Ono aus dem Jahre 1965, bei der diese das Publikum aufforderte, sich mit einer Schere Stoffstücke aus ihrem Kleid herauszuschneiden und mitzunehmen, stellte sich Abramovic neun Jahre später dem Publikum vollkommen zur Verfügung. Neben einem Tisch, auf dem 72 Gegenstände wie Wasser, Zucker, Farbe, aber auch Nadeln, Messer und eine geladene Pistole lagen, standen die Künstlerin und ein Schild mit dem Hinweis, dass sie während der folgenden sechs Stunden ein Objekt sei und die volle Verantwortung dafür übernehme. Das - zum Teil zufällig von der Strasse in die Galerie geholte - Publikum begann harmlos, bemalte und schmückte sie, wurde dann aber immer aggressiver, demütigte sie, schnitt sie schliesslich und legte ihr die Pistole in die Hand und an die Schläfe bis zum Ende ein Teil des Publikums sie gegen die Aggressoren abschirmte und rettete. Nicht nur sprengte Abramovic mit dieser Aktion grundlegend das traditionelle Verhältnis von Künstlerin und RezipientIn, sondern sie legte damit auch auf radikalste Weise gesellschaftliche Gewalt- und Geschlechterverhältnisse frei.

Bei den meisten Aktionistinnen war die Auseinandersetzung mit Geschlecht zentral. Der teilweise sexistische und objektivierende Umgang der Wiener Aktionisten mit weiblichen Modellen wurde kritisiert und der von ihnen gerühmte vermeintlich vorgesellschaftliche, "wirkliche" Körper als gesellschaftlich codierter dechiffriert, womit sich der ganze Fokus der Körperaktionen verschob. Eine der reflektiertesten Aktions-Künstlerinnen und Wiener Aktionistin der 2. Generation, Valie Export, thematisierte bei ihren schmerzhaften Körperarbeiten im Zeichen eines "Feministischen Aktionismus" v.a. die gesellschaftliche Vermittelt- und Konstruiertheit ihres "weiblichen" Körpers und von Wirklichkeit überhaupt. Indem sie sich ein Strumpfband auf die Schenkel tätowierte oder sich in einem an alltägliche Verrichtungen der Körperpflege erinnernden Akt die Nagelbetten mit einem Teppichmesser blutig stocherte, entblösste sie nicht nur die "Blutspuren" in der Geschichte der von Männern zum blossen Objekt gemachten Frau, sondern legte auch Emanzipationsformen frei: "die Freude am eigenen Widerstand, die Freude, Schmerz zu ertragen und zu überwinden, die Freude, den fremden Widerstand zu überwinden, den Verlust zu sehen und zu spüren und darüber zu lächeln."(2) In einer Reinszenierung und Selbstaneignung des erlebten Leides, im performativen Akt der ironisierenden Übertreibung der Einschreibung sollte die "schmerzliche Energie des Widerstandes" die Frau endlich als selbstbestimmtes Subjekt setzen.


Postmoderner Aktionismus

Die 80er-Jahre brachten einen neuen Typus von Körperaktionen hervor. In ihnen wurde und wird bis heute auch die Konstruiertheit von Körperlichkeit thematisiert, aber mit dem Ziel, mithilfe moderner Techniken radikal alle Natur im Menschen zu überwinden und sich durch bewusste Veränderungen des Körpers auch physisch neu zu schaffen. Auch wenn hier Geschlechtsidentitäten stets dekonstruiert werden, müssen sich viele solcher Aktionen den Vorwurf gefallen lassen, Naturbeherrschung zu verherrlichen und sich damit mehr affirmativ als kritisch gegenwärtigen Körperoptimierungs- und Flexibilisierungsbestreben zu nähern.

Und: Dieser spielerischen Auseinandersetzung und Arbeit mit dem menschlichen Körper geht jede Thematisierung von Schmerz abhanden - und damit auch dasjenige, worum es den frühen AktionistInnen in ihrer gesellschaftskritischen Intention zentral ging: die den Menschen formenden und knechtenden gesellschaftlichen Verhältnisse.


Anmerkungen:

(1) Weibel, Peter. Zur Aktionskunst von Günter Brus, S. 39, in: Museum Moderner Kunst Wien (Hg.). Günter Brus. Der Überblick, Salzburg 1986, S. 33-49.

(2) Export, Valie. Feministischer Aktionismus. Aspekte, S. 159, in: Nabakowski, Gislind / Sander, Helke / Gorsen, Peter (Hg.). Frauen in der Kunst, Frankfurt a. M. 1980, Band 1, S. 139-176.

Autor:
Markus Brunner studiert in Hannover Sozialpsychologie und Soziologie mit den Schwerpunkten Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie.
markusbrunner@soziologie.ch


*


Quelle:
ROSA:33 - Zeitschrift für Geschlechterforschung,
Ausgabe Oktober 2006, S. 27-29
Herausgeber: Historisches Seminar
Karl-Schmid-Strasse 4, CH-8006 Zürich
E-Mail: rosa.gender@gmail.com

Das Rosa-Jahresabonnement kostet 15 SFr / 11 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2007