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BERICHT/121: Kongreßbericht - Unfaßbar schön (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 2/2008

Kongressbericht - Kulturgeschichte
Unfassbar schön

Von Birgit Fenzel


Schönheitsfragen bewegten die Teilnehmer des 12. Berliner Kolloquiums der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung. "Ist Schönheit messbar?" lautete die Frage, der sich Kunsthistoriker, Literatur- und Musikwissenschaftler, Automobildesigner, Mathematiker und Juristen unter der Leitung von Wolfgang Klein, Direktor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, näherten.


Die Venus von Botticelli gilt unter Kunstfreunden allgemein als schön. Bei anderen Werken gehen die Meinungen allerdings deutlich auseinander, denn ästhetische Urteile können erheblich schwanken. Solche Werturteile unterscheiden sich von Mensch zu Mensch, sind an Moden und Zeiten gebunden und scheinen sich deshalb auch hartnäckig einer soliden wissenschaftlichen Untersuchung zu entziehen. "Nicht zufällig schreckt die Wissenschaft vor Fragen, die mit Werten oder Werturteilen zu tun haben, gern zurück", sagt Wolfgang Klein, Direktor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, der das Kolloquium zur Frage "Ist Schönheit messbar?" leitete. "Ein solches Kolloquium ist eine gute Gelegenheit, die Sache einmal zu thematisieren."


Gesucht seit der Antike

Mit der Frage nach dem Maß der Schönheit befand sich die Berliner Expertenrunde, die in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung zusammenkam, in bester Tradition und Gesellschaft. Denn die Suche nach der Formel des Schönen zieht sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit. Schon seit dem klassischen Altertum bemühten sich Philosophen und Künstler, dieses Geheimnis durch Zahlen, Maßeinheiten und Proportionsverhältnisse zu lüften. Immer wieder aufs Neue entwarfen sie die schönsten Berechnungen vom idealen Verhältnis der Teile, um sie dann doch wieder zu verwerfen.

Bis heute hat die Frage danach, ob sich Schönheit mit Zahlen messen und in Formeln fassen lässt, offenbar nichts von ihrer Faszination verloren. Dabei ist die Suche inzwischen sehr unterschiedlich motiviert, wie schon allein die Fragen zeigen, die in Berlin aufs Tapet kamen: Wie zum Beispiel geht ein Automobildesigner vor, wenn er mit seinen Fahrzeugen Käufer begeistern will? Wie ein Vorsitzender Richter, der ein Urteil über den Kunstcharakter eines Streitobjekts finden muss? Können Mathematiker der Schönheitschirurgie Formeln liefern, mit deren Hilfe schöne Gesichter geformt werden können? Wodurch zeichnen sich schöne Stellen in der Musik aus?

"Schönheit kann direkt verbunden werden mit Absatz", formulierte der Gastgeber des Kolloquiums, Gisbert Freiherr zu Putlitz, Vorstandsvorsitzender der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung, eine nicht unwesentliche Motivation, der ungelösten Grundsatzfrage der Ästhetik auf den Grund zu gehen. Doch auch darüber hinaus stelle sich die Frage nach Schönheit und deren Messbarkeit in vielfacher Hinsicht im Spannungsfeld der Wechselbeziehungen zwischen Mensch, Umwelt und Technik - dem erklärten Hauptthema der Stiftung seit über 20 Jahren. Putlitz: "Wenn wir mehr darüber wissen, auf welcher Grundlage diese ästhetischen Wirkungen entstehen, hat das Konsequenzen für die Gestaltung unserer Umwelt durch Architektur, Städtebau und Landschaftsgestaltung sowie Produktdesign."

Doch so praktisch eine DIN-Norm der Schönheit wäre, allen Bemühungen zum Trotz ist bis heute noch kein befriedigendes Ergebnis in Gestalt einer allgemeinen, überzeitlich gültigen Schönheitsformel herausgekommen. Goldener Schnitt, Bodymaß-Index oder 90-60-90 als Idealmaße für die weibliche Topfigur sind in diesem Sinne schöne Versuche, die jedoch keinen Bestand als normative Vorgaben haben.

Für den Max-Planck-Forscher Klein liegt das Scheitern der Suche nach der Norm des Schönen weniger daran, dass es diese Formel nicht gibt, sondern schlichtweg an der Methodik. "Was bislang fehlt, ist eine empirische Untersuchung der ästhetischen Eigenschaften, also die Suche nach Argumenten, die die Ästhetik eines Objektes wissenschaftlich begründen - genauso wie Gesetzmäßigkeiten anderer Gegebenheiten unserer Welt."

Als ein Beispiel nennt er die Literaturwissenschaften, die sich unter anderem mit von vielen als schön empfundenen Texten beschäftigen. Goethes Marienbader Elegie oder Der Panther von Rilke sind typische Beispiele dafür. "Ich habe mir oft überlegt, wie man denn mit empirisch gut abgesicherten Methoden den Problemen der Ästhetik - sei es in der Literatur oder einer anderen Ausdrucksform - zu Leibe rücken könnte; ich denke, da gäbe es viele Möglichkeiten", so Klein.

Um das Konstruktionsprinzip der Schönheit zu durchschauen, müssten die Geisteswissenschaften allerdings ihren Blick verengen. "Üblicherweise liegt ihr Fokus auf dem Großen und Komplexen", erklärt Wolfgang Klein: "Hier muss man jedoch klein anfangen und nicht gleich versuchen zu erklären, warum Goethes Marienbader Elegie, Beethovens Klaviersonate Appassionata oder Rembrands Nachtwache von vielen - aber eben nicht allen - als schön angesehen werden."


Mut zum langen Weg des Wissens

Am Muster möglichst einfacher Texte, Klangfolgen und Formen müsse man "schauen, wie sich Prinzipien verhalten". Diese Methode sei jedoch wie in jeder empirischen Wissenschaft, die sich mit variablen Erscheinungen befasst, "mühselig, öde und langwierig" - mithin genau das, "was viele Geisteswissenschaftler eher ungern machen", so Klein. "Doch nur auf diesem Wege wird sich klären lassen, welche Faktoren und möglicherweise auch Regelhaftigkeiten unserem ästhetischen Urteil zugrunde liegen", fügt er hinzu. Dieses wiederum erfordere von den Geisteswissenschaftlern "Mut zum langen Weg des Wissens".

Wie diese empirische Vorgehensweise in den Geisteswissenschaften aussehen kann, exerzierte Ulrich Konrad vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Würzburg am Beispiel kurzer Ausschnitte aus Verdis La Traviata vor. Akribisch analysierte er den Phänotyp "schöner Stellen" in der Musik, knöpfte sich dabei Takt für Takt vor, dozierte über Akkorde, metrisch unbetonte Zeit, strenge Regularität und andere kompositionstechnische Strukturmerkmale dieser Stellen, die diesen den gewissen Chillfaktor verleihen - also jenes wohlige Schauern, das sich in erhöhter Herzfrequenz und verändertem Hautleitwert manifestiert und mit Messinstrumenten dokumentieren lässt. Doch letztlich war auch von Ulrich Konrad nicht zu erfahren, wie die geheimnisvolle Formel der Ästhetik aussieht.

Dabei eigneten sich empirische Verfahren besonders gut für Forschungsgebiete mit sehr unscharfem oder variablem Charakter, sagt Klein. Und genau diese Eigenschaft zeichne eben auch die ästhetischen Fragen aus, die er mit wissenschaftlicher Gründlichkeit angehen und beantworten würde. "Nicht zufällig fällt bei der Diskussion darüber, ob etwas schön ist oder nicht, oft der Satz: De gustibus non est disputandum - über Geschmack lässt sich nicht streiten", sagt er. Damit verweist er auf die in ästhetischen Streitfragen üblicherweise vollzogene rhetorische Vollbremsung. Diese trage im Einzelfall zwar wenig zur Klärung der Frage bei, deute aber durchaus auf Charakteristisches: Die große Relativität der Urteile.


Ästhetik im Versuchslabor

Auch sei die Schönheit nur eine von sehr vielen ästhetischen Eigenschaften, die ein Kunstwerk oder einen Gebrauchsgegenstand auszeichnen können und die auf den Rezipienten eine bestimmte Wirkung ausüben. Diese Relationen will Klein mit empirischen Methoden erforschen. "Man muss zu klären suchen, wieso ein Text mit bestimmten, objektiv bestimmbaren Methoden auf eine Person mit bestimmten, gleichfalls objektiv bestimmbaren Merkmalen bestimmte Wirkungen hat."

Dass es sich bei der ästhetischen Bewertung um eine komplizierte Verbindung einzelner Eigenschaften handelt, ist eine Erfahrung, die Hans-Dieter Futschik sofort unterschreiben würde. Als Designdirektor der Daimler AG zeichnet er dafür verantwortlich, dass Autofahrer die von ihm gestalteten Fahrzeuge schön finden - und kaufen. "Warum ein Automobil sinnlich wahrgenommen und als schön empfunden wird, lässt sich durch das Zusammenspiel vieler unterschiedlicher ästhetischer Eigenschaften und anderer - über die Form des Objekts hinausreichender - Faktoren erklären", so Futschik.

Um herauszufinden, auf was der potenzielle Kunde anspricht, praktizierten die Daimler-Designer nichts anderes als empirische Ästhetik, wobei sie sich unterschiedlicher Messmethoden bedienten, um der emotionalen Wahrnehmung von Automobilen auf den Grund zu gehen. Beim Automobildesign spielten, so Futschik, zwar auch Erkenntnisse aus der Gestaltungslehre eine Rolle. Wichtige Impulse lieferten aber vor allem die Resultate aus den Car Clinics - Versuchslabors, in denen Testpersonen Automodelle vor der Markteinführung bewerteten. "Diese Urteile beruhen mit Sicherheit auf einer Vielzahl unterschiedlicher ästhetischer wie sozialer Eigenschaften des Automobils, die unbewusst auf den Betrachter wirken", resumiert Futschik unzählige Analysen dieser Testreihen. Die meisten Menschen würden auf Automodelle ähnlich reagieren wie auf Kunstwerke - unmittelbar, intuitiv und mit eindeutigen Werturteilen wie etwa "gefällt mir" oder "gefällt mir nicht".

Die Formel des Schönen, deren Umsetzung zwangsläufig Begeisterung beim Kunden auslöst, wäre nicht nur für Designer wie Hans-Dieter Futschik das große Los. Auch Vertreter anderer Berufsgruppen wüssten mit ihr eine Menge anzufangen. Unter Juristen ist sie mindestens genauso gefragt, wie beim Auftritt des Rechtsexperten Haimo Schack von der Universität Kiel deutlich wurde. "Schönheit als Gegenstand richterlicher Beurteilung" habe schon so manchen Richter in arge Bedrängnis gebracht. Denn gewöhnlich hätten diese die Aufgabe, Normen auf einen Sachverhalt anzuwenden, wobei die Normen sehr genau definiert seien.

"Je präziser die Rechtsnorm gefasst ist, desto geringer ist die Gefahr, dass subjektive Empfindungen einzelner Richter ein Urteil beeinflussen und somit Willkür in den Gerichtssaal einzieht." Bezeichnenderweise kämen Wörter wie "schön" oder "Schönheit" als Kriterien im Gesetzestext nicht vor. Trotzdem müssten Richter gelegentlich über ästhetische Probleme urteilen, wobei es ihnen dann meist gelinge, die ästhetischen Werturteile zu umschiffen. Zum Beispiel müsse nach Beschädigung einer Sache deren Originalzustand wiederhergestellt werden - egal, ob dieser schöner oder hässlicher war. Auch müssen die urheberrechtlich geschützten Werke der schönen Künste aus Sicht der Rechtssprechung nicht schön, sondern bloß individuell sein und auf irgendeine Art die menschlichen Sinne anregen.

So leicht kommt der Mathematiker Peter Deuflhard nicht um die Frage nach dem Maß der Schönheit herum. Dabei ist es nicht die Suche nach den schönsten Algorithmen, die den Professor für Scientific Computing an der Freien Universität Berlin und Leiter des Berliner Zuse-Instituts beschäftigt. Vielmehr operiert er mit Zahlen - beinahe buchstäblich - denn eine seiner Forschungsgruppen unterstützt Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen bei der Operationsplanung und ermittelt die Maße für ein wohlproportioniertes Gesicht.

Bevor der Chirurg sein Skalpell ansetzt, um bei einem Patienten entstellende Gesichtsanomalien zu korrigieren, berechnen Deuflhard und sein Team, wie sein Gesicht danach am schönsten aussehen könnte. Dabei müssen sie bei jedem Patienten neu beantworten, was ein schönes Gesicht ausmacht. "Ist das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnitts eine Kodierung für die Schönheit eines Gesichts oder ist es doch eher die Siebtel-Teilung?", skizziert er einige der Fragen, die sich ihm dabei stellten. Eine Formel für jeden Patienten hat er bislang nicht gefunden, er forscht weiter. "Ich gehe dabei mit dem Wissen eines Mathematikers und Physikers vor und prüfe, was die Geisteswissenschaften zum Thema zu bieten haben."


Frust für Mathematiker

Als Ergebnis dieser Suche wünscht er sich einen "Katalog von Kriterien, nach denen sich die Operationsplanung in der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie richten könnte". Doch weder die alten Meister aus Kunst und Philosophie noch Resultate aus den Experimentallabors der modernen Wissenschaft lieferten ihm bislang die gesuchte Maßvorgabe. So konnte sein Beitrag dem Forum lediglich eine Demontage gängiger Schönheitsformeln liefern - wie etwa jener Resultate aus der Attraktivitätsforschung, mit denen nachgewiesen sein soll, dass sehr symmetrische Durchschnittsgesichter bei Frauen und Männern gleichermaßen ankommen. Für Deuflhard liefert diese aus psychologisch-ästhetischen Experimenten abgeleitete Hypothese von der Attraktivität des mittelmäßigen Gesichts jedoch keinen Anhaltspunkt für seine Arbeit. Er hält die Experimente für methodisch wenig überzeugend und moniert offenkundige Schwachpunkte bei ihrer Auslegung. Sein Fazit fällt entsprechend desillusionierend aus: "Ich habe keine Hoffnung auf die Formel der Schönheit."

Doch damit möchte sich der Sprachforscher Wolfgang Klein keineswegs zufriedengeben. "Der Umstand, dass es bei einem klar festgestellten Phänomen, das jeder nachvollziehen kann, eine große Schwankungsbreite gibt, kann kein Grund sein, es nicht wissenschaftlich zu untersuchen", sagt er und zieht die Konsequenz: "Schönheit, verstanden als Oberbegriff für verschiedene ästhetische Werte wie Anmut oder Eleganz, muss deshalb empirisch fassbar, und das heißt zu einem gewissen Maße auch messbar sein."

Die Zeit sei reif für die Etablierung einer exakten Wissenschaft des Schönen, sagt Klein, der mit Gegenwind aus den eigenen Reihen rechnet. Speziell seine Vorschläge zur empirischen Fleißarbeit bei der Explikation schöner Werke werden - so seine Vermutung - auf erhebliche Widerstände aus den geisteswissenschaftlichen Disziplinen stoßen. Dennoch hofft er auf Unterstützung gerade aus diesen Reihen. Denn es seien gerade die Literatur-, Musik- und Kunstwissenschaftler, die wegen ihrer tiefen Kenntnis der Materie für eine empirische Erforschung des Schönen gebraucht würden. Schließlich geht es um Fragen, deren gesellschaftliche Bedeutung zweifelsfrei erscheint: "Wenn es unmöglich wäre, über ästhetische Urteile rational zu diskutieren, dann bräuchten wir keine Musik-, Kultur, und Kunstkritik mehr."


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Ästhetische Werturteile sind relativ - das wird auch am Beispiel von Botticellis Venus und der Venus von Willendorf aus der Altsteinzeit deutlich. Beide Darstellungen verkörperten das Schönheitsideal ihrer Zeit, treffen aber nicht mehr unbedingt die heutigen Idealvorstellungen.

Michelangelos David, Beethovens Klaviersonate Appassionata und Rilkes Gedicht Der Panther - drei unterschiedliche Phänotypen des Schönen. Wissenschaftler fragen sich, welches Prinzip allen dreien innewohnt und ihnen das hohe ästhetische Prädikat verleiht.

90-60-90 als Idealmaße für die weibliche Topfigur, der Goldene Schnitt beim Karosseriedesign oder Symmetrie und Proportion für den perfekten Körper sind nur einige Resultate, die bei der Suche nach der Formel der Schönheit herausgekommen sind.

Das Schöne und das Hässliche in Gestalt der Nofretete und eines Porträts einer grotesken alten Frau des flämischen Malers Quentin Massys. In der Dialektik mit ihrem Gegenteil gelingt eine Definition: Schönheit ist die Abwesenheit des Hässlichen.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 2/2008, S. 62-69
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2008