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BERICHT/160: Fotografinnen der Avantgarde - vergessen, wiederentdeckt, gefeiert (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010

Der magische Moment
Fotografinnen der Avantgarde - vergessen, wiederentdeckt, gefeiert

Von Karoline Hille


Für Frauen war die Fotografie seit den 20er Jahren das emanzipatorische Mittel schlechthin. Anders als die etablierten Künste bedeutete sie für beide Geschlechter Neuland. Es gab kein entwickeltes Berufsbild und zunächst kaum Ausbildungsmöglichkeiten. Frauen konnten mit der Kamera in der Hand nahezu gleichberechtigt arbeiten. Sie etablierten eigene Formen des Sehens, schufen den Beruf des Fotografen und Fotoreporters maßgeblich mit und trugen zum Siegeszug der Fotografie bei. Die Neue Frau - mit Bubikopf und Zigarettenspitze - und das Neue Sehen passten perfekt zusammen.


Irgendwann in den 30er Jahren hat Ré Soupault ihre beiden handlichen Rollfilmkameras, die Rolleiflex 6x6 und die Babyflex 4x4, mit denen sie fast alle ihre zwischen 1934 und 1950 entstandenen Fotografien aufgenommen hat, selbst zum Gegenstand eines Fotos gemacht. Wie Ikonen eines neuen Zeitalters verdoppeln sich da die beiden nebeneinander stehenden Apparate auf einer Spiegelplatte. Und Marianne Breslauer wusste noch viele Jahrzehnte später genau, welchen ihrer Fotoapparate sie für bestimmte Aufnahmen verwendet hatte, sie schwärmte regelrecht von ihnen und bewahrte sie sorgsam auf. Nicht anders als Lucia Moholy, die ihre Laufbodenkamera aus Holz, mit der sie alle Bauhausaufnahmen machte, mit ins Exil rettete, wo diese ihr in London den Neuanfang als Porträtistin ermöglichte.

Um 1930 hatte sich der Beruf der Fotografin als "wunderschöner, interessanter, aber zugleich auch schwieriger Frauenberuf", wie Lotte König schrieb, durchgesetzt. Die Gründung von eigenen Lehrinstituten begünstigte die Entwicklung. In Berlin war vom renommierten Lette-Verein, der die Ausbildung von Frauen förderte, eine Fotografische Lehranstalt eingerichtet worden, hier hat Marianne Breslauer ab 1927 studiert und ihr Diplom gemacht. Germaine Krull erlernte in München bereits um 1920 das Handwerk und Dora Maar ein paar Jahre später in Paris an der École de Photographie. Und wenn es am Bauhaus auch erst ab 1929 eine eigene Fotoklasse gab, so gehörte diese Schule zweifellos zu den Wegbereitern der modernen Fotografie, deren internationaler Ruf maßgeblich von Lucia Moholy, der Frau des Bauhausmeisters László Moholy-Nagy mitbegründet wurde.

Nach ihrer Ankunft 1923 in Weimar machte sie eine einjährige Lehre bei einem Weimarer Fotografen. Auch die in Pommern als Erna Niemeyer geborene Ré Soupault, die von 1921 bis 1925 am Bauhaus studierte, erwarb hier die technischen Grundlagen des neuen Mediums. Für die Amerikanerin Florence Henry, die als bedeutendste Vertreterin der Bauhausfotografie in Paris gilt, kam der Anstoß ebenfalls während eines Aufenthaltes am Bauhaus. Andere, später anerkannte Fotografinnen erlernten den Beruf bei bereits berühmten Kollegen, wie Man Ray in Paris. Der Amerikaner war ein Landsmann von Berenice Abbott, die für ein paar Francs als seine Assistentin "schuftete", bevor sie mit großem Erfolg ein eigenes Fotostudio eröffnete, so wie wenig später Dora Maar, die sich mit exquisiten Modefotografien einen Namen machte, bevor sie zu einer der wichtigsten Fotografinnen des Surrealismus wurde. Wie diese beiden gründete auch das amerikanische Fotomodell Lee Miller - Assistentin, Geliebte und Modell von Man Ray - zunächst in Paris und später in New York ein eigenes Atelier. Das fototechnische Verfahren der "Solarisation" war um 1929 beider folgenreichste Entwicklung.


Verdrängungsmechanismen

Alle diese Fotografinnen waren unabhängig, lebten gut von ihrer Arbeit und widmeten sich neben dem Broterwerb durch Mode- und Porträtaufträge auch den ambitionierten Experimenten der Avantgardefotografie. Es zog sie in die großen Metropolen, nach Berlin, London, New York und Paris. Nach 1933 änderte sich die Situation, der Konkurrenzdruck verstärkte sich, vor allem in Paris, wohin auch zahlreiche Berufsfotografinnen aus Deutschland emigrierten. Eine dieser jungen Frauen war die 1910 in Stuttgart geborene Jüdin Gerta Pohorylle, die über die Arbeit bei einer Bildagentur und die Liebe zu dem ungarischen Fotografen André Friedmann ihr Interesse an der Fotoreportage entdeckte. Die beiden bildeten als "Reportage Capa & Taro" ein Team. Zwei Wochen nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs gingen sie für die französische Linkspresse nach Barcelona, wo beide unter ihren Pseudonymen arbeiteten. Nur ein Jahr war die mutige Frau mit der Kamera in diesem ersten Medienkrieg in der Geschichte der Kriegsfotografie unterwegs. Sie verstand sich nicht als neutrale Beobachterin, ihre Teilnahme galt dem Individuum und erstmals bewusst der Frau als aktiver Kämpferin. Frei von Heroismus und Stilisierung nutzte sie die Mittel der modernen Bildreportage und suggerierte mit Nahaufnahmen und ungewöhnlichen Bildausschnitten die Unmittelbarkeit der Augenzeugin. Sie starb beim Rückzug der republikanischen Truppen im Juli 1937 durch einen Unfall. Die Trauerfeier für sie in Paris wurde zu einer politischen Demonstration. Während Robert Capa, der 1954 im Indochinakrieg umkam, zum berühmtesten Kriegsfotografen der Welt avancierte, geriet Gerda Taros Name in Vergessenheit, da ihre Aufnahmen aus kommerziellen Gründen ihrem Lebensgefährten zugeschrieben wurden. Allerdings galt im Europa der Nachkriegszeit weibliche Autorschaft wenig. Die Fotografinnen der Avantgarde verschwanden wie die Malerinnen und Autorinnen aus der Erinnerung.

Auch die Anonymisierung von Werken gehörte zu den erprobten Mechanismen, mit denen die Kunst von Frauen verdrängt wurde. Einer der spektakulärsten Fälle betraf die berühmten Architektur-, Objekt- und Porträtaufnahmen, die bis heute unser Bildgedächtnis vom Bauhaus prägen. Sie wurden zwischen 1923 und 1928 von Lucia Moholy gemacht. Kaum als Eigenleistung gewürdigt, galten sie als selbstverständliche Zuarbeit einer Meister-Ehefrau für das Bauhaus und seinen Ruhm. Bei ihrer Emigration musste Lucia Moholy 1933 alle Glasnegative zurücklassen. Sie wurden von Walter Gropius nach Amerika mitgenommen, anonymisiert und unter Missbrauch des Copyrights zur Bauhaus-Werbung eingesetzt. Erst nach Einschaltung von Rechtsanwälten erhielt Lucia Moholy nach dem Krieg einen Teil zurück. Den Rang der vergessenen Fotografin bewies 1995 eine Ausstellung im Berliner Bauhaus-Archiv. Die Künstlerin hat diese Anerkennung nicht mehr erlebt.


Aufbruch in eine neue Zeit

In der Diskussion über den Umgang mit Bildmedien erfährt heute vor allem die Kriegsfotografie eine kritische Neubewertung. Dadurch tritt auch Gerda Taro endlich als Pionierin der Kriegsfotografie aus dem langen Schatten von Robert Capa. Zu ihrem 100. Geburtstag war sie im Frühjahr im Kunstmuseum Stuttgart in einer aufwendig recherchierten Retrospektive wiederzuentdecken. Dagegen steht die Präsentation des spektakulären, in der Nachkriegszeit ebenfalls vergessenen Werkes von Lee Miller in Deutschland bislang aus. Die einstige glamouröse Modefotografin berichtete als amerikanische Korrespondentin ab 1944 direkt von den Kriegsschauplätzen. Ihre Fotografien aus dem befreiten Konzentrationslager Buchenwald sind in ihrer Intensität einzigartige Zeugnisse des Holocaust. Obwohl dieser wichtige Werkkomplex wie überhaupt Leben und Werk vieler Avantgarde-Fotografinnen längst gut erforscht ist, zeigt nicht nur das Beispiel Gerda Taro, dass eine breite öffentliche Wahrnehmung und Verankerung im kulturellen Gedächtnis erst durch große Einzelausstellungen ermöglicht wird.

Dies wird beispielhaft durch ambitionierte Werkschauen für Marianne Breslauer und Ré Soupault bestätigt. Beide arbeiteten nur eine begrenzte Zeit als Reportagefotografinnen, die eine von Berlin, die andere von Paris aus. Mit ihren Fotografien haben sie das Lebensgefühl der untergehenden, zerrissenen Epoche vor dem Zweiten Weltkrieg eingefangen. Mehr denn je gelten heute die Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem Kultur- und Alltagsleben jener Jahre als authentisch, sie erscheinen frisch und nah und zugleich eigentümlich fern, berühren sie uns doch in der Erkenntnis, dass der festgehaltene magische Moment auch damals nur eine Sekunde währte. Marianne Breslauer konnte jüngst in der Berlinischen Galerie neu entdeckt werden. Ré Soupault war 2007 im Berliner Gropiusbau eine Retrospektive gewidmet, in der vor allem ihre außergewöhnliche Fotoserie von 1939 über die verstoßenen Frauen im "Reservierten Viertel" von Tunis stark beeindruckte. Dass sie weit mehr als eine ausgezeichnete Fotografin war, zeigt die Mannheimer Kunsthalle im nächsten Jahr, wie überhaupt Ré Soupaults Leben in seinen vielen Facetten für den Aufbruch der Frauen in eine neue Zeit stehen kann.

Karoline Hille ist promovierte Kunsthistorikerin und arbeitet als Publizistin und Ausstellungskuratorin in Ludwigshafen. 2009 erschien im Belser-Verlag: Spiele der Frauen. Künstlerinnen im Surrealismus.


Irme Schaber u.a. (Hg): Gerda Taro. (Fotoband) Steidl, Göttingen 2007, 176 S., 30,00 Euro

Unda Hörner: Scharfsichtige Frauen. Fotografinnen der 20er und 30er Jahre in Paris. edition ebersbach, Berlin 2010, 160 S., 25,00 Euro

Ausstellungskataloge:

Rolf Sachsse: Lucia Moholy: Bauhausfotografin, Berlin 1995.

Manfred Metzner (Hg.): Ré Soupault - Die Fotografin der magischen Sekunde. Wunderhorn, Heidelberg 2007, 192 S., 25,80 Euro

Kathrin Beer, Christina Feilchenfeldt (Hg.): Marianne Breslauer, Nimbus, Wädenswil (Schweiz) 2010, 215 S., 38,00 Euro


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010, S. 63-66
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2010