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DOCUMENTA/023: Wenn die Zeit tickt - Die 100 Tage von Kassel (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2012

Wenn die Zeit tickt - Die 100 Tage von Kassel

Von Karoline Hille



Die documenta 13 ist eröffnet. Noch nie war die weltweit bedeutendste Ausstellung für Gegenwartskunst so politisch und weiblich, sinnlich und poetisch, naturverbunden und wissenschaftsorientiert. Noch nie hat sie sich so intensiv mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt und von Kassel aus ins Globale geweitet.


Riesige Metronome ticken, geraten aus dem Takt und in einen wilden, sich rasend beschleunigenden Tanz, der alles mit sich reißt und den Glauben an die Sicherheit der Zeit als große Illusion der Moderne entlarvt. Der Normierung und Vermessung der mechanischen Zeit im Sinnbild der Uhr steht der vergängliche menschliche Körper mit seinem Atem und dem Schlag des Herzens gegenüber, das einem anderen Rhythmus folgt. Mit seiner grandiosen Multimediaoper Die Verweigerung der Zeit, einer mehrteiligen Videoinstallation, entstanden nach einer Life-Performance mit Musikern und Tänzern aus Johannesburg, gibt der südafrikanische Zeichner und Filmemacher William Kentridge den "Takt" für eine Kunst vor. Eine Kunst, die sich dem Diktat der Zeit nicht unterwirft, sondern sich von ihr emanzipiert durch die unbezähmbare "Neugierde auf die Welt", wie Carolyn Christov-Bakargiev, die Leiterin der 13. documenta, es formuliert hat.

In einer der Szenen formieren sich die Akteure als Schattenspiel zu einer tänzerischen Prozession, die von der frohgemuten Jugend bis zum gebrechlichen Alter den Lauf des Lebens vorführt. Zum Rhythmus einer hölzernen, gemeinsam mit dem Physiker Peter Galison konstruierten, "Atmungsmaschine" wandert der groteske Festzug über die alten Backsteinwände der riesigen Werkhalle im Nordflügel des im 19. Jahrhundert erbauten Kasseler Hauptbahnhofs. Ein kongenialer Ort, den man hätte erfinden müssen, gäbe es ihn nicht bereits.

Wieder einmal überrascht und verzaubert der Altmeister der Animation, verwurzelt im politisch engagierten Avantgardetheater der 20er Jahre, bei Brecht und Dada, sein Publikum. Schon 1997 auf der documenta X war Kentridge mit seinen melancholischen Zeichentrickfilmen, die die durch den Holocaust und die Apartheid verursachten Traumata thematisierten, die große Entdeckung. Seine markanten verwischten Kohlezeichnungen fungieren auch in der neuen Arbeit als Hintergrundfolien, wie überhaupt diese Allegorie über die Zeit nicht nur zu den Hauptwerken dieser documenta zählt, sondern eines ihrer Leitmotive bildet. Denn in ihr geht es sowohl um die Kreisläufe innerhalb der Natur, als auch um das Vergessen und die Erinnerung an Zeiten, die vergangen sind.

Sie wirkt fast wie ein farbiges Pendant zu Kentridge' Schwarzweiß-Magie, die in der documenta-Halle inszenierte, einzigartige Videocollage von Nalini Malani aus Bombay. Ebenso sinnlich, kritisch und opulent spielt auch sie mit den Schatten. Rundum an die Wände projizierte Videos und die gemalten Figuren von fünf durchsichtigen, rotierenden Zylindern, die an der Decke befestigt sind und an buddhistische Gebetsmühlen erinnern, umfangen das Publikum mit einem endlosen Reigen wandernder Bilder im Wechsel von Werden und Vergehen. Von einem feministischen Ansatz her hat Nalini Malani in dieser Installation Ohnmacht und Unterdrückung, aber auch Kraft und Stärke von Frauen thematisiert. Der vieldeutige Titel In Search of Vanished Blood entstammt einem Gedicht des pakistanischen Dichters Faiz Ahmed Faiz, das mit Texten von Christa Wolf und Rainer Maria Rilke den Hintergrund dieser anspruchsvollen Arbeit bildet, die weder kopflastig noch plakativ wirkt. Gleichzeitig hochpoetisch und messerscharf in ihrer Analyse entwickelt sie einen dramatischen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Carolyn Christov-Bakargiev (kurz CCB) hat entgegen ihrer Beteuerung, kein Konzept zu haben, in der documenta gleichwohl ihren Ideen und Überzeugungen eine unverwechselbare Gestalt verliehen. Mehr als in den vergangenen Ausstellungen bezog sie den Stadtraum und ungewöhnliche Orte ein, vor allem aber den Landschaftspark in der Karlsaue, der nun von über 50 Künstlerinnen und Künstlern bespielt wird, vielfach in eigens entworfenen Holzhäusern. Dabei behielt sie bewährte Ausstellungsstätten bei: documenta-Halle, Neue Galerie, Hauptbahnhof und als zentralen Ort das Fridericianum. Mit etwa 70 Künstlerinnen hat sie mit einer Selbstverständlichkeit, die keiner Rechtfertigung bedarf, so vielen Frauen wie noch nie auf einer documenta ein Forum geboten und damit das weibliche Potenzial eindrücklich unter Beweis gestellt. Darunter zahlreiche vergessene Pionierinnen der Moderne, die nun eine längst überfällige, späte Würdigung erfahren, wie etwa die brasilianische Bildhauerin Maria Martins (1894-1973) und die Malerinnen Emily Carr (1871-1945) aus Kanada und Margaret Preston (1875-1963) aus Australien. Ebenso zwanglos hat CCB den, bei aller Offenheit weiterhin eurozentrischen Blick ihrer Vorgänger abgelegt und Künstler und Künstlerinnen aller Kontinente gleichberechtigt einbezogen, wofür nicht zuletzt die Ausweitung der documenta auf drei weitere Länder steht: Afghanistan, Ägypten und Kanada.


Ein neuer, politisch-historischer Ansatz

Bei der Suche nach künstlerischen Antworten auf die drängenden Probleme der Zeit, auf Krisen, Emanzipationsbewegungen, Kriege oder traumatische Ereignisse erinnert Carolyn Christov-Bakargievs documenta erstmals an die Geschichte dieser Kunstinstitution selbst und reflektiert kritisch die historischen Bedingungen ihrer Entstehung. Erstaunlich viele, auch ganz junge Künstlerinnen und Künstler haben sich unter dem Thema "Zusammenbruch und Wiederaufbau" mit Engagement und Fantasie auf die Vergangenheit eingelassen und in ihren Werken vielfache Korrespondenzen und Bezüge zur Gegenwart hergestellt. Wie ein roter Faden durchzieht diese Erinnerungsarbeit die 13. documenta und prägt ihren Charakter. Dieser neue, politisch-historische Ansatz, seine museale Umsetzung und künstlerische Visualisierung soll im Folgenden etwas näher betrachtet und mit einigen Beispielen vorgestellt werden.

Die Ruine des Fridericianums erwies sich 1955 für Arnold Bodes Inszenierung der ersten documenta als idealer Ort. Dabei beanspruchte sie mit der Rehabilitierung der Moderne zweifellos politische Bedeutung als Nachweis für Deutschlands Wiedereintritt in den Kreis der westeuropäischen Kulturnationen. In dieses Konzept passte die Erinnerung an die jüngste deutsche Geschichte, an Nazismus, Holocaust, Krieg und "entartete" Kunst nicht. Niemand wollte im Wirtschaftswunderland an die Vergangenheit erinnert werden.

Fast 60 Jahre später breiten sich nun vom wieder aufgebauten Kasseler Fridericianum - dem Zentrum der documenta -, die zahlreichen Wege der Ausstellung in die Stadt aus. Denn hier in der halbkreisförmigen Rotunde, dem Eingang gegenüber, befindet sich ihr "Gehirn", das die Gedanken und Ideen assoziativ bündelt: Eine Art Wunderkammer oder Miniatur-Puzzle mit einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Werken, Objekten und Dokumenten, die im Gang durch die Geschichte auch Zeugnis ablegen von Krieg und Zerstörung, aber ebenso von Widerstand, Emanzipation und Hoffnung erzählen. Sie alle sind versammelt um die "Baktrischen Prinzessinnen", kleinen Figurinen aus Chlorit und Kalkstein, entstanden im zweiten vorchristlichen Jahrhundert in Zentralasien, die hier als Metaphern für die Fragilität der Körper wie der Kunst stehen. Lee Millers beeindruckende Kriegsfotografien aus Nazideutschland von 1945 finden sich hier ebenso wie im libanesischen Bürgerkrieg beschädigte Museumsobjekte, das 1968 in Prag erdachte Ziegelstein-Radio oder das letzte von Ahmed Basiony auf dem Tahrir-Platz in Kairo gedrehte Video. Durch Polizeikugeln getroffen, starb der ägyptische Künstler am 28. Januar 2011.

Vom "Brain" der documenta führt ein direkter gedanklicher Weg zu den Rotunden im ersten und zweiten Stock. Hier sind die beeindruckenden Teppiche der schwedischen Künstlerin und Widerstandskämpferin Hannah Ryggen (1894-1970) über den Spanischen Bürgerkrieg und das Naziregime ausgestellt, mit Titeln wie Tod der Träume oder Hitlerteppich. Auch die polnische Künstlerin und Arnold-Bode-Preisträgerin Goshka Macuga entwarf Teppiche, und zwar zwei riesige Wandteppiche mit unterschiedlichen Menschengruppen, entstanden nach digitalen Fotocollagen. Sie beziehen sich inhaltlich aufeinander und bilden geistig ein Ganzes. Denn der eine Teppich wird in Kabul präsentiert und zeigt die Karlsaue, der andere mit dem zerstörten Königinnenpalast von Kabul hängt im Kasseler Kuppelraum.

Das von Kriegen verwüstete Afghanistan spielt eine wichtige Rolle auf dieser documenta. Mariam Ghani, die 1978 in New York geborene Videokünstlerin, zeichnet in dialogischer Form in ihrer Zweikanal-Installation ebenso raffiniert wie poetisch das Porträt zweier historischer Gebäude, die vom Wahrzeichen der Aufklärung zu Symbolen von Barbarei und Zerstörung verkamen: Das Fridericianum und der immer noch in Trümmern liegende Darulaman-Palast in Kabul, beide erkundet sie in langen Kamerafahrten. Auch der Amerikaner Michael Rakowitz verbindet in seiner sehr schönen, eindrücklichen Arbeit die beiden Länder. Aus Bamiyan-Stein, dem Material der von den Taliban gesprengten Buddha-Statuen, schuf er mit afghanischen Steinmetzen Nachbildungen von Büchern, die 1941 bei der Bombardierung von Kassel im Museum verbrannten. Etwa 50 dieser steinernen Bücher zeigt der Künstler nun am Ort ihrer Vernichtung, ergänzt durch beschädigte Schriftstücke, darunter eine damals fast verbrannte mittelalterliche Pergamenthandschrift.

Die documenta-Wege der Erinnerung führen auch ins Kloster Breitenau bei Kassel, das bis 1945 als Konzentrationslager missbraucht wurde und mehrere Arbeiten inspirierte. Die Wege führen nach Auschwitz, wo die deutsch-jüdische Künstlerin Charlotte Salomon 1943 ermordet wurde. Sie wurde nur 26 Jahre alt. Ihr erstaunliches Werk Leben? oder Theater?, bestehend aus Hunderten von Gouachen, gehört zu den Höhepunkten der Ausstellung. Und die Wege führen nach Dachau, denn hier war der katholische Dorfpfarrer, Nazigegner und Gärtner Korbinian Eichner (1885-1966) inhaftiert. In vier Jahren züchtete er heimlich vier neue Apfelsorten. Ihm zu Ehren werden im Fridericianum nicht nur seine unzähligen kleinen Apfelbilder ausgestellt, die in ihrer Strenge der Konzeptkunst ähneln, sondern es wurde auch ein Korbiniansapfelbäumchen in der Karlsaue gepflanzt.

Mögen seine Früchte noch in vielen Jahren an die 13. documenta in Kassel anno 2012 erinnern.

(Die Ausstellung läuft noch bis zum 16. September 2012; täglich geöffnet von 10 bis 20 Uhr. Informationen: www.documenta.de)


Karoline Hille ist promovierte Kunsthistorikerin und arbeitet als Publizistin und Ausstellungskuratorin in Ludwigshafen. 2009 erschien im Belser-Verlag: Spiele der Frauen. Künstlerinnen im Surrealismus.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2012, S. 77-80
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2012