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BERICHT/019: "Verlorene Moderne. Der Berliner Skulpturenfund" - Artefakte erzählen - Teil 2 (SB)


"Verlorene Moderne, Der Berliner Skulpturenfund" im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Artefakte erzählen



Die einstige Form ist bei manchen Statuen kaum noch zu erkennen, sie sind übersät von tiefen Rissen und einer dicken Patina, die von großen Bränden und tiefen Stürzen zeugen. Viel ist nicht geblieben, einige Tonscherben, das zertrümmerte Bildnis eines Kopfes, teils nur Fragmente. Betritt man den lichten Raum, fühlt man sich zurückversetzt in andere Zeiten, man erahnt nur, welche Schicksale und Katastrophen sich hinter den Statuen verbergen mögen. Doch schaut man etwas genauer hin, erkennt man Erstaunliches - vor nicht einmal hundert Jahren wurden diese Werke geschaffen. Sie galten als verschollen, und vor zwei Jahren erblickten sie durch einen der bedeutendsten Kunstfunde der letzten Jahre wieder Tageslicht. Einen derart direkten Bezug zur Geschichte und den Ereignissen, die hinter solchen Kunstwerken stehen, findet man nur selten.

Otto Baum (1900-1977) - Stehendes Mädchen, 1930 - Bronze - Foto by Schattenblick - © 2012 Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Otto Baum (1900-1977),
Stehendes Mädchen, 1930
Bronze
Foto by Schattenblick
© 2012 Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Die Geschichte dieser Entdeckung begann in Berlin: Bei den Bauarbeiten der U-Bahn Linie U5 vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor finden seit Oktober 2009 archäologische Untersuchungen vor dem roten Rathaus statt, um den mittelalterlichen Stadtbau zu studieren. Im Januar 2010 fiel beim Freiräumen eines Kellerbodens des ehemaligen Hauses der Königsstraße 50 ein metallener Gegenstand auf, welcher nach Untersuchung und Reinigung im Museum für Vor- und Frühgeschichte als das Bildnis der Schauspielerin Anni Mewes des modernen Künstlers Edwin Scharff identifiziert werden konnte. Erst im August des Jahres konnten von den Archäologen um den Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, Prof. Dr. Matthias Wemhoff, weitere Bronze- und Terrakottafiguren in unmittelbarer Nähe gefunden werden.

Die Entdeckung im Bombenschacht (auf dem Infotisch) - Foto: 2012 by Schattenblick - © Museum für Vor- und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin

Die Entdeckung im Bombenschacht (auf dem Infotisch)
Foto: 2012 by Schattenblick
© Museum für Vor- und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin

Insgesamt wurden 16 verschollen geglaubte Kunstwerke entdeckt, die in Verbindung mit der nationalsozialistischen Beschlagnahmeaktion "Entartete Kunst" aus dem Jahre 1937 gebracht werden konnten. Aufgrund umfangreicher Recherchearbeiten stellte sich heraus, dass es sich bei dem Haus in der Königsstraße 50 um ein Magazin des Reichspropagandaministeriums gehandelt hatte, in dem hunderte Kunstwerke gelagert worden waren, nachdem die Ausstellung "Entartete Kunst" im Jahre 1937 endete, zu deren Zweck im gesamten Deutschen Reich tausende Werke als artfremd diffamiert und konfisziert wurden.

"Das faszinierende für mich als Archäologe an diesem Komplex ist auch, dass das übrig geblieben ist, was von diesen großen Katastrophen der Welt immer übrig bleibt, nämlich das, was nicht brennbar ist. Das ist Bronze, das ist Keramik, das ist Stein und es ist genauso gezeichnet wie das, was wir sonst im neuen Museum ausstellen",

so Prof. Dr. Wemhoff, denn fast alle der dort gelagerten Kunstwerke fielen dem Bombenkrieg zum Opfer, als das Haus 1944 komplett niederbrannte und die verbliebenen Fundstücke aus dem dritten Stock bis in den Keller stürzten.

Ob das Lager für eine dauerhafte Verwahrung gedacht war oder im Kriegszustand schlicht vergessen wurde, ist unklar. Kunstwerke, die einmal dort gesammelt waren, befinden sich heute an anderen Orten und gelten als nicht zerstört. Daher scheint sicher, dass es für viele Stücke auch einen Weg aus dem Magazin hinaus gegeben haben muss, und die Vermutung liegt nahe, dass es nicht als ungünstig gewählte Endlagerstätte, sondern vor allem als Verkaufsraum für Privatsammler und Kunsthändler fungiert haben dürfte.

Die Bewertungskriterien, die ein Kunstwerk als entartet klassifizierten, sind vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Gedankenguts und nationalsozialistischer Ideologie zu lesen. Bei diesen Stücken handelt es sich hauptsächlich um Menschenbilder, die in ihrer abstrakten Form nicht den gradlinigen, volkstümlichen Idealen entsprachen und in ihrer scheinbaren Deformierung kein propagandistisches Bildnis des Deutschen Volkes darstellten. Wie inkonsequent diese Kriterien letztendlich durchgesetzt wurden, wird erkennbar, wenn man in die neu aufgearbeiteten Inventarbücher der Museen schaut. So wurden teils expressionistische Stücke jüdischer Künstler - wie in einem aktuellen Beispiel zu sehen, die Terrakottafiguren von Moissey Kogan - nicht beschlagnahmt, obwohl sie eigentlich die damals angesetzten Kennzeichen trugen.

Daher wirft der Fund möglicherweise auch ein neues Licht auf den geschichtlichen Aspekt der Ausstellung aus dem Jahr 1937, denn wie Dr. Claudia Banz, Kuratorin der Abteilung Moderne im Museum für Kunst und Gewerbe (MKG), sagt:

"Hinter der Aktion 'Entartete Kunst' stand auch ein Vorwand, um diese Kunst verkaufen zu können. In Hitlers Entourage waren viele Kunstsammler - Goebbels, Himmler -, alle haben gigantische private Sammlungen angelegt und wussten, dass es sich um gute Kunst handelte. Ich denke, sie haben die Chance ergriffen, sich selbst daran zu bedienen. Zudem ist bekannt, dass entartete Kunst auch verkauft wurde, um die Kriegskasse aufzufüllen. Dadurch wurde dieser Kunst, die angeblich so entartet war, indirekt der Stempel der guten Kunst aufgedrückt, denn argumentiert man mit der Logik der Nationalsozialisten, könnte man sie ja nicht verkaufen, weil keiner sie wollte."

Zumindest verdeutlicht die Berliner Entdeckung, dass finanzielle Interessen der NSDAP bei der Säuberungsaktion der Deutschen Museen einen großen Stellenwert einnahmen und schlussendlich gar den ideologischen Beweggründen vorangestellt wurden, wodurch die Kunstwerke der vorsätzlichen Vernichtung entgingen.


Entartete Kunst im MKG

Unter den 16 wiederentdeckten Skulpturen befinden sich auch fünf, die aus der Sammlung des MKG stammen. Max Sauerlandt, Direktor des MKG von 1919‍ ‍bis 1933 in Hamburg, erwarb in seiner Amtszeit etwa 300 zeitgenössische Kunstwerke. Sauerlandt wollte als Museumsdirektor junge, noch nicht etablierte Künstler fördern und sie durch den Ankauf und die Ausstellung ihrer Werke zu neuem Schaffen ermutigen. Er führte einen engen Kreis aus teils bis heute unbekannten Künstlern wie Richard Haizmann, Rudolf Nesch und Moissey Kogan, die er teilweise auch direkt finanziell unterstützte, und legte größten Wert auf zeitgenössische, expressionistische Kunst. Stets versuchte er, ihrer Präsentation gerecht zu werden und sie innovativ auszustellen. So schrieb er in einem Brief an Otto Freundlich 1930:

"Im Verhältnis zur Gegenwartskunst habe ich in diesem Jahr einen Sprung nach vorne getan, dadurch, dass ich - ich glaube wieder als erster Museumsdirektor - ein paar Holzplastiken von Kirchner, Heckel und Schmidt Rottluff gekauft habe. Um diese, wie ich glaube, sehr charakteristischen Arbeiten richtig zur Geltung zu bringen, hat unser modernster Architekt Karl Schneider das Treppenhaus des Museums vollkommen umgestaltet, so dass dieser Raum mit seinem Inhalt nun wirklich ein Programm ausspricht. Ich hoffe, dass dieses Beispiel weiter wirken wird." [1]

Und so muss es wohl eine Überraschung für Max Sauerlandt gewesen sein, als am 4. April 1933 drei Regierungsbeamte der NSDAP im Museum für Kunst und Gewerbe auftauchten und damit begannen, Stücke der modernen Sammlung zu konfiszieren. Sauerlandt war bei den nationalsozialistischen Behörden durch den Umbau in Ungnade gefallen, die Hamburger Nachrichten sollten diesen später als eine Art "Höllentor" bezeichnen. Einen Tag darauf endete Sauerlandts Karriere durch einen Telefonanruf, der ihn von seinem Posten als Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe beurlaubte und ihm den Zutritt verbot. Wie sich die Situation für Sauerlandt weiter entwickelt hätte, kann man heute nur spekulieren, denn er verstarb am 1. Januar 1937 im Alter von 53 Jahren an einem Krebsleiden.


Die heutige Ausstellung

Anlässlich dieser Vorkommnisse zeigt das Museum für Kunst und Gewerbe seit dem 22. April 2012 die Ausstellung "Verlorene Moderne, der Berliner Skulpturenfund", ermöglicht durch die Hermann Reemtsma Stiftung in Zusammenarbeit mit MKG-Direktorin Prof. Dr. Sabine Schulze, dem Archäologen Prof. Dr. Matthias Wemhoff vom Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte und der Kuratorin Dr. Claudia Banz.

Gezeigt werden erstmals alle 16 Fundstücke in Kombination mit einem Raum voll Werken der von Sauerlandt favorisierten Künstler, über deren Leben und Schicksal unter dem nationalsozialistischen Regime in biographischen Wandtexten Aufschluß gegeben wird. Zudem kann man sowohl Fotografien des damals neu umgebauten und Aufsehen erregenden Eingangsbereiches betrachten, als auch zwei originalgetreu nachgebildete Vitrinen aus Sauerlands damaligen Ausstellungen.

Archäologe Prof. Dr. Matthias Wemhoff - vom Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte: - '... eine der spannendsten Fundsituationen' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Archäologe Prof. Dr. Matthias Wemhoff
vom Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte:
'... eine der spannendsten Fundsituationen'
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die geschichtliche Faszination dieser Ausstellung spiegelt Prof. Dr. Wemhoff wider, denn für einen Archäologen ist ein solcher Fund einer der persönlichen Höhepunkte der beruflichen Laufbahn. So kann man seine Begeisterung vermutlich erst vollends teilen, wenn man sich die Verknüpfung zwischen Altertum und Moderne klar macht, die dieser Fund herstellt, denn wie Wemhoff sagt:

"Die Archäologie des 20. Jahrhunderts wird für uns immer wichtiger, aber dies war etwas Besonderes, weil etwas geschehen ist, was man als Archäologe äußerst selten hat, nämlich das Hineingehen mitten in ein ganz konkretes Ereignis, verbunden mit ganz konkret zu bennenenden Werken, und das ist für mich eine der spannendsten Fundsituationen, die ich erlebt habe."

Dieses Ausmaß erkennt man erst, wenn man die einzelnen Stücke direkt betrachtet. Das Team um Prof. Dr. Wemhoff verzichtete bewußt auf eine komplette Aufarbeitung und beschränkte sich auf grobe Reinigungen, zum einen, weil es nahezu unmöglich war, die teils stark zerstörten Statuen überhaupt zu rekonstruieren, hauptsächlich aber, um die neu entstandene Wirkung zu erhalten, die ihnen durch Diffamierung, Flammen, Sturz und Vergessenheit gegeben wurde. Denn die Kunstwerke, die wir heute betrachten können, haben sich in ihrer Aussage verändert, sie zeigen nicht mehr das, was der Künstler einst beabsichtigte, sondern sie sind zu Zeugen ihrer eigenen Geschichte geworden. Durch all dies stellt sich eine teils "ägyptisierende" Wirkung ein. Stünden sie inmitten von Statuen des Altertums, so könnte man kaum einen Unterschied erkennen. Doch der Bezug zur Gegenwart, zu einem Krieg und zu Biografien, die für uns in Detail und Konkretheit gerade noch greifbar scheinen, erweitert unseren Blick und regt an, auch Funde aus dem Altertum so anzusehen. Man ahnt jetzt die Personen, Gefühle, Schicksale und Katastrophen nicht nur hinter einer Statue oder einem Bild, sondern hinter jedem Gegenstand und merkt, dass man von ihm bisher nur wenige Vorstellungen hatte.

Lässt man sich auf diese Ausstellung ein, die in ihrer Komplexität weit über das hinausgeht, was man auf den ersten Blick zu erkennen meint, so eröffnet sich dem Betrachter hier die Möglichkeit, das eigene Verständnis von Geschichte, Kunst und der mit ihr verbundenen, teils nebulös scheinenden Ereignisse zu weiten. Vielleicht ergibt sich sogar eine Gelegenheit zur Reflexion des eigenen Bildes von Menschen und Ästhetik und eine Vision dessen, was geschehen kann, wenn man die Auseinandersetzung mit den eigenen Idealen und der Frage nach deren Absolutheit nicht scheut. - Hofft man jedoch, dass einem diese Möglichkeiten einfach gestaltet werden, dann steht eine Enttäuschung bevor, denn obwohl alle, die an dieser Ausstellung mitgewirkt haben, große Begeisterung und Freude einbrachten, dürfte es den Besuchern schwer fallen, ihre Faszination nachzuvollziehen, ohne einen direkten Kontakt zu ihnen zu haben. Es werden wohl einige Museumsgäste den Show-Charakter anderer Ausstellungen vorziehen und sich beispielsweise lieber in die angrenzenden Udo Lindenberg-Räume absondern, die mit Musik und bunten Lichtern locken. Doch wer sich die Chance geben möchte, die stillen Zeitzeugen auf sich wirken zu lassen, dem sei angeraten, sich die Ausstellung "Verlorene Moderne" anzusehen.


Fußnote:

[1]‍ ‍Max Sauerlandt in einem Brief an Otto Freundlich, 1930. Pressematerial "Verlorene Moderne. Der Berliner Skulpturenfund", MKG 2012

2.‍ ‍Mai 2012