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MODELLE/002: Das CH'I-Konzept - Teil 2 (MA)



CH'I - Ein umstrittener Begriff (2)

von Helmut Barthel



Eine starke Reaktion rief der erste Teil dieser Serie bei einigen Lesern hervor. Die Mehrheit empfand den Inhalt als ketzerisch und sah darin auf mehr oder weniger unqualifizierte Weise die legendäre Ch'i-Kraft kritisiert. Eine Minderheit empfand den Artikel als wohltuende Stellungnahme gegen den vermeintlich mystischen Unsinn, der sich hinter dem Ch'i-Begriff verbirgt.

Beide Seiten mußte ich darauf aufmerksam machen, daß sie den Artikel offenbar nicht gründlich genug gelesen hatten. Am Ende der Einleitung zu diesem schwierigen Thema, meine ich, machte ich deutlich, daß ich in dieser Serie die Existenz eines ausgesprochen sinnvollen Denkkonzeptes aufzeigen möchte, welches sich mit dem hintergründigen Wort Ch'i verbindet. Dazu ist es erforderlich, auf den kultur- und geschichtsspezifischen Zusammenhang dieses Begriffes einzugehen. Unvermeidlich fallen dann jedoch alle wundersamen Effekte und metaphysischen Spekulationen fort, die sich im Laufe der Zeit in geradezu folkloristischem Sinne gebildet haben, wie bei anderen Begriffen (z. B. Tao) auch.

Ich werde deshalb in dieser Ausgabe noch einmal so gründlich, wie es der Raum eben zuläßt, die Bedeutung des Schriftzeichens selbst beleuchten:

Das Zeichen Ch'i= ch'i hat nach dem "Chinesisch-Deutschen Wörterbuch" von Werner Rüdenberg folgende Bedeutung: L u f t, Gas, Äther, Dunst, Dampf; Hauch, A t e m; Atmosphäre; E i n f l u ß, Ausfluß, Macht. L e b e n s k r a f t;  G e i s t, Gefühl; Zorn, Laune; W e s e n, Art, Benehmen, Zustand.

Ch'i oder Tchi
Ch'i oder Tchi

, Tchi oder Ch'i, Dampf oder Dunst (ursprünglich auch

geschrieben) und


ist ein Bild von Dunst, der von der Erde aufsteigt und in der Höhe Wolken bildet.

heißt Getreide, dargestellt durch vier Körner, und

zeigt die Trennung der Körner durch den Vorgang des Dreschens.

heißt dann: Dampf steigt aus dem heiß gekochten Getreide. Dieses Schriftzeichen ersetzt schon von längerer Zeit her das ältere Schriftzeichen

.

ist die noch ältere Form, wobei

die Flammen oder die aufsteigenden Flammen darstellt.
Nach dem 1716 herausgegebenen philosophischen Wörterbuch "K'ang Hsi Tzu Tien" bedeutet ch'i "Atmen". Andere Quellen definieren: "Ch'i ist der Ursprung des Lebens." Oder: "Yin und Yang heißen die beiden ch'i: sie erzeugen in gegenseitiger Bewegung alle Dinge." Oder: "Atmen, d. h. das Herauskommen und Hineingehen beim Aus- und Einatmen." Und im "Tz'u Yüan" heißt es: "Etwas, dessen Form und Stoff nicht zu sehen ist, das aber diese -  wechselseitig bewegend - beeinflußt."
In den modernen westlichen Büchern über Akupunktur hat sich für ch'i die Übersetzung "Energie" eingebürgert. Dies kann leicht zu Mißverständnissen führen, insofern der Europäer von heute unter Energie eine  p h y s i k a l i s c h e  Kraft versteht. Dagegen trifft der ebenfalls häufig gebrauchte Ausdruck "Lebenskraft" ("Odem") den Inhalt des ch'i-Begriffes schon besser. Der Begriff der "vis vitalis", die Begriffe "pneuma" oder "spiritus" haben auch im Werden der abendländischen Medizin eine große Rolle gespielt. Auch sie waren komplexe Begriffe, d. h. sie umfaßten sowohl seelische als auch physikalische Phänomene.
(1)

Man kann mit Hilfe dieser einfachen Deutung bereits ahnen, daß Ch'i in seinem metaphysischen und komplexen Eigenanspruch schon im Ansatz widersprüchlichste Denkmöglichkeiten provoziert, sofern es um eine präzisere Definition als die einer nicht genau faßbaren hintergründigen Kraft geht. Das wird auch klar, wenn man der allgemeineren Verwendung des Begriffes Ch'i im chinesischen Denken Rechnung trägt, indem man sich vor Augen führt, in wie vielen Zusammenhängen es als fundamentales Element auftaucht. Hierfür einige Beispiele:

"Der Himmel, ...,ist nichts weiter als eine Akkumulation von Luft (Ch'i), und es gibt keinen Ort, wo diese Luft nicht ist."
"Das menschliche Leben ist einer Anhäufung des Ch'i zu verdanken, und wenn es zerstreut ist, tritt der Tod ein ... deshalb sagt man, daß es im ganzen Universum ein Ch'i gibt, und deshalb priesen die Sagen diese Einheit."
"Diese Liturgien hießen 'Die wahre Art, die Ch'is anzugleichen' oder 'Die Verbindung der Ch'is von Mann und Frau'."
"Der Himmel wird zeigen, wenn die Zeit der Herrschaft für das Ch'i des Wassers kommt."
"Du mußt das Ch'i von Himmel und Erde wahrnehmen, ..."
"Leben entspringt einer Verdichtung des Ch'i von Yin und Yang. ... wie Wasser zu Eis wird, so kristallisiert das Ch'i, um den menschlichen Körper zu formen ..."
"Der Mensch wird geboren durch die beiden Ch'i des Yin und des Yang. Das Yin-Ch'i erzeugt seine Knochen und sein Fleisch; das Yang-Ch'i seinen Lebensgeist."
"Aber das feurige Yang-Ch'i der Sonne kann unabhängig auftreten, und das ist die Ursache von Geistern und Erscheinungen genauso wie die des Blitzes."
"Dieses Solar-Ch'i ist identisch mit dem Ch'i des Himmels."
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Um vieles problematischer ist es deshalb, wenn man sich auf das Feld der Ch'i-Bestimmung hinsichtlich menschlicher Energie-  und Kraftleistung einläßt.
Das umfaßt alle phänomenalen Wirkungen, die bei geringstem Energieaufwand in den Kampfkünsten und in Sicht auf die Gesundheit erzielt werden, wo dem Ch'i die Urheberschaft zugeordnet wird.
Es ist eine durchaus verbreitete Auffassung, daß die letzte Instanz bzw. Ursache, in unserem Falle das Ch'i, gesammelt werden kann und muß, um die endgültige Wirkung  T s c h i n g  zu vergrößern. Diesen Umstand hat sie offensichtlich mit der verursachenden Muskel- und Gewichtskraft gemeinsam, wo man sich auch durch verschiedene Techniken bemüht, ein Mehr an verursachender Kraft (Gewichts- und Muskelpotentiale) zu schaffen.

Gewichts- und Muskelkraft sind bekannt und deshalb verstehbar, wohingegen Ch'i, als nicht feststellbare und nur an der Wirkung zu erkennende Ursache, weder richtig zu verstehen noch zu fassen ist. Dennoch gibt es das Konzept, eben solch unfaßliches Ch'i etwa wie eine Flüssigkeit oder ein Gas mit ständig sich wandelnden Eigenschaften zu konzentrieren. Dieses verführt offensichtlich dazu, dem Ch'i Eigenschaften und Manifestationen zuzueignen, die der möglichen bohrenden Frage begegnen könnten, was denn nun genau wie und wo konzentriert bzw. gesammelt werden soll.

Ich zitiere an dieser Stelle eine dieser Richtung entsprechende Auffassung:

Die Theoretiker von Tai Chi Chuan sprechen von dem "Ch'i, das in den Tan T'ien sinkt, und dort sich sammelt, oder in dem Körper zirkuliert". Sie sprechen davon, daß das Bewußtsein "das Ch'i mobilisiert" oder daß das "Ch'i den Körper mobilisiert", oder daß das "Ch'i in den Knochen sich sammelt". Und, auf dem höchsten Stand der Entwicklung fragen sie eben, ob einem die Konzentration des Ch'i die Biegsamkeit eines Kindes gebracht hat. All diese Ausdrücke beziehen sich darauf, daß Energie aus dem Ch'i durch "Massierung" entsteht. Diese Energie ist wie die von "massiertem" Wind oder Wasser einfach unglaublich groß. Wie groß, ist abhängig von der Korrektheit der Unterweisung und vom Ausmaß des Übens (tägliche Übung über eine Anzahl von Jahren).
Mögen wir nie leichtfertig über die Bedeutung von korrektem oder unkorrektem Unterricht denken! ...
Wie sollte denn nun ein Anfänger zu üben beginnen? Die Antwort ist, daß er entspannen soll. Die Entspannung muß überall sein, im ganzen Körper. Und sie sollte durchgängig sein, d. h. ohne die geringste Anspannung irgendwo. Das Ziel ist, jeden Knochen und jeden Muskel des ganzen Körpers weit zu öffnen (als Durchlaß für das Ch'i), ohne Hindernis oder Sperrigkeit irgendwo. Wenn er so weit gekommen ist, dann wird er über Ch'i sprechen können. Am Anfang sollte er sein Ch'i direkt in den Tan T'ien sinken lassen. Um das zu tun, muß er erst seine Brust entspannen, denn das Ch'i kann nur frei sinken, wenn die Brust entspannt ist. Nach und nach wird er fühlen, wie sich das Ch'i ansammelt. ("Massierung"). Bald kann er fühlen, wie es durch den Körper zirkuliert. Danach wird der Übende so weit sein, die Bewegung des Ch'i willentlich durch sein Bewußtsein lenken zu können. Diese Bewegung heißt technisch "angetriebene Bewegung", denn es steckt Antriebskraft hinter der Bewegung, so wie bei einem Auto, oder Dampfer oder Flugzeug, die sich nicht selbst bewegen, sondern bewegt werden durch die Treibstoff-Energie im Motor. In diesem Sinn werden die Glieder oder andere Körperteile während der Übung nicht durch lokale Exertion oder den Einsatz lokaler Muskelkräfte bewegt, sondern durch die Kraft des Ch'i. Mit anderen Worten, wenn wir im Tai Chi Chuan von "angetriebenen Bewegungen" sprechen, denken wir nicht so sehr an die Stellungen oder Bewegungsformen des Körpers oder seiner Teile, sondern an etwas Unsichtbares, das wir wahrnehmen können als Bewegung des Ch'i.
Im nächsten fortgeschrittenen Stadium kann das Ch'i absorbiert, d. h. in den Knochen aufgenommen und gespeichert werden, wodurch diese dann "wesentlich hart und unzerstörbar" werden, wie die technische Beschreibung heißt. (Das Wesentliche an der Härte kann man am Stahl sehen. Stahl ist biegsam und elastisch, aber wesentlich hart und unzerstörbar.) Wie kann das Ch'i in einem Knochen absorbiert werden? Das ist nicht leicht zu erklären, aber ich will es versuchen. Jedes Knochenstück eines lebendigen Menschen ist ohne Naht, und wo Knochen zusammentreffen, sind sie durch weiche Sehnen oder Knorpel verbunden. (Deswegen tritt das Ch'i in den Knochen ein oder heraus in einem Vorgang, ähnlich wie Osmose, durch die Hülle und Substanz des Knochens ohne ihn durchlöchern zu müssen.)
Wenn das Chi ein gewisses Stadium von Dichte im Tan T'ien erreicht hat, beginnt es überzufließen. Dieses überfließende Ch'i ist physiologisch allgemein bekannt in China als Hsueh Chi, wörtlich "das Ch'i des Blutes". Indem dieses "Ch'i des Blutes" im Tan T'ien überfließt, unter dem gemeinsamen Einfluß von Bewußtsein und Ch'i selber, verdichtet es sich und produziert Hitze rund um den unteren Teil der Wirbelsäule. Die Folge ist, daß noch mehr Ch'i erzeugt wird. Wenn dieses Stadium erreicht ist, kann dieses "Ch'i des Blutes" dazu gelenkt werden, das "Tsing Ch'i" in Bewegung zu bringen (was die Essenz des Lebens bedeutet), indem es die weicheren Sehnen und Bänder etc. dazu bringt, die Hitze durch die Knochenwände in dle Knochen zu leiten. Auf diese Weise werden die unteren Wirbel "aufgeheizt", das Flüssige in ihnen fängt an zu "schwitzen", so wie die Wand eines Reagenzglases, das mit warmer Luft gefüllt ist, bei Abkühlung schwitzt. Beim Kühlen gerinnt der "Schweiß" zu Mark, das sich eng an die inneren Poren der Knochen anschmiegt. Mit der Zeit werden die Knochen mit dieser Art Mark gefüllt, die durch wiederholtes Aufheizen und Abkühlen hart werden: hart, zäh und unzerstörbar (wie elastischer Stahl). Wenn das Ch'i in die Knochen eingetreten ist und sie fest und unzerstörbar gemacht hat, hat der Übende den höchsten Stand erreicht, wo "Form" und "Funktion" von Tai Chi nicht länger getrennt werden können, sie haben Einheit erlangt. (Nämlich die Einheit des Tai Chi, d. h. des Höchsten Ungeteilten Absoluten, wovon der Name Tai Chi Chuan stammt.) Die Knochen sind nun unzerstörbar, zäh und elastisch, nicht brüchig oder schwach - aber seltsamerweise biegsam wie die eines Kindes. Das ist Verjüngung, oder wenigstens die Möglichkeit dazu. Wenn man diesen fortgeschrittenen Stand der Reife in seiner Übung erreicht hat, ist man über den Punkt hinaus gelangt, an dem man sein Leben ein wenig verlängert und Krankheiten abhält. Es ist kein reiner Unsinn, wenn wir von der extremen Langlebigkeit von Peng Chien (chines. Methusalem) oder Wu Hsien in chinesischen Legenden erzählen.
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Wie aus der anfänglichen Begriffsbestimmung deutlich wird, werden hier dem eigentlich umfassenden und nicht näher bestimmbaren Begriff Ch'i physiologische und substantielle Eigenschaften zugeeignet, für die es in diesem Zusammenhang keine überprüfbaren und verstehbaren Grundlagen gibt.
Ch'i wird willkürlich zu einer nicht näher erklärten Substanz, die im Körper zirkulieren kann und sich aus ebenfalls ungeklärten Gründen zu vermehren versteht, wenn man davon absieht, daß es als Anhaltspunkt eine Reihe bestimmter Bewegungsabläufe gibt, die viele Jahre geduldig wiederholt werden müssen, um diesen Prozeß in Gang zu setzen. Man könnte daraus entnehmen, daß Ch'i eine chemo-physiologische Reaktion auf diese Bewegungsübungen mit der Tendenz zur Vermehrung ist.


Vielleicht, um klassischen Texten im heutigen Sinne gerecht zu werden, wird in diesem Zusammenhang auch die Osmose bemüht, um zu erklären, wie diese Substanz dann durch die Knochenwände in das Mark und von dort aus durch besondere Erhitzung an die Innenwände gelangen, durch Kondensierung abkühlen und in diese wiederum eindringen kann, was die Knochen im Endeffekt härtet und gleichzeitig biegsamer macht. Die Hitze läßt sich wiederum aufgrund der lange geübten spezifischen Bewegungsabläufe auf besondere Weise über die Sehnen und Bänder in die Knochen leiten und kann so den notwendigen Verdunstungs- und Umwandlungsprozeß im Knochen bewirken.

Diese Erklärungen sind ebenso einfach wie hergeholt und lassen sich durchaus am besten durch die Analogie mit dem Reagenzglas, das mit Luft gefüllt ist und bei Abkühlung schwitzt, auf den Begriff bringen.

Abgesehen einmal davon, daß es tatsächlich die physiologischen und anatomischen Zusammenhänge nicht berücksichtigt und ihnen schon deshalb ebensowenig gerecht wird wie dem abstrakteren Ch'i-Begriff, kann damit lediglich begründet werden, weshalb ein didaktisches Konzept, das so mit TAI CHI CHUAN in Verbindung gebracht wird, eine Unzahl an Jahren und Wiederholungen notwendig macht, um zu überprüfbaren Ergebnissen zu kommen.

Um zu verdeutlichen, was ich meine, benutze ich einmal ein einfaches Bild: Ein Handwerksmeister könnte seinen Lehrling durchaus damit hinhalten und in eine Abhängigkeit bringen, indem er ihm seine verschiedenen handwerklichen Fertigkeiten generell mit den Erfahrungen und Wiederholungen vieler Jahre erklärt. Er könnte jedoch auch darüber nachdenken, wie er dem Lehrling -  dessen Vorauswissen und -können angemessen - einen nachvollziehbaren Aufbau der Fertigkeiten vermittelt. Dabei geht es wirklich nur um die handwerklichen Fertigkeiten, die eben didaktisch vermittelbar sind, und nicht um eine Verquickung mit allgemeinen Lebensauffassungen und -umständen.

Um noch einmal auf das zirkulierende Ch'i zurückzukommen, können wir hier feststellen, daß es immer dort, wo es in komplizierte Funktionen oder unüberschaubare Zusammenhänge gebracht wird, eine ausschließliche metaphysische Lückenbüßerrolle erfüllt. Es scheint mir daher wichtig, solange man von spürbaren und begreifbaren Energie- und Kraftwirkungen spricht oder diese praktiziert, auch in den Erklärungsmodellen bei diesen zu bleiben und einen grundsätzlichen philosophisch-spekulativen Begriff wie das Ch'i nicht auf so unangemessene Weise zu verbrauchen.

Diesen Teil der Serie möchten wir damit abschließen, in Wort und Bild auf ein Beispiel einzugehen, dem häufig Ch'i-Kraft als letzte Erklärung zugeordnet wird. Ich meine den PUSH, d. h. die Wirkung, in der ein Kontrahent unter bestimmten Umständen von kaum oder nicht wahrnehmbarer Kraft plötzlich etliche Meter zurückgeschleudert bzw. -geprellt wird. Wichtig ist dabei aufzuzeigen, daß dieser Vorgang auch völlig anders erklärt, verstanden und gelernt werden kann als unter Zuhilfenahme einer geheimnisvollen Ch'i-Kraft.



Der Autor demonstriert Push-Bewegungen mit geringfügigem Einsatz




Durch Anspannung und Entspannung des aktiven Bewegungsapparates wird der Körper bzw. der passive Bewegungsapparat in Bewegung gebracht und gehalten. Diese Bewegung resultiert aus der sich wiederholenden Stabilisierung eines ständig im Fall befindlichen Körpers durch Muskelkontraktion. Kräfte, die durch Muskelspannung und -entspannung entstehen und nach außen wirken, sind durch koordinierte Stütz- und Stabilisierungskontraktionen und durch lokale Entspannung in eine Richtung geschwungene Gewichte, die wiederum durch nachfolgende Kontraktion bzw. Stabilisierung des Gesamtkörpers als statischer Druck an einem gedachten Außenpunkt wirken. Dieser gedachte Druckpunkt bzw. Aufschlagpunkt entspricht dem über die räumliche Wahrnehmung ( = visueller, akustischer sowie Tastsinn) anvisierten Brennpunkt. Auf diesen Punkt stellt sich der Kontraktions-/Relaxationsrhythmus als Bewegungsphase ein, um sich dann in der Funktion des Drucks und des Schlages neben der Druck- bzw. Schlagwirkung wieder selbst zu stabilisieren. Der räumlichen Orientierung durch Wahrnehmung und ihrer Reflexumsetzung im Muskelbereich wird mit einer für das Bewußtsein nicht wahrnehmbaren Geschwindigkeit den Verhältnissen und Veränderungen mit körperlichen Reaktionen ständig Rechnung getragen. Jede Stütz- und Stabilisierungsfunktion wirkt der Fallbewegung entgegen und destabilisiert gleichzeitig kurzfristig in die entgegengesetzte Richtung.



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Diesem Umstand verdankt nun der mit geringfügigem Aufwand ausgeführte PUSH seine Wirkung. Wenn ein anvisierter Brennpunkt, der dem endlichen Druckpunkt entsprechen sollte, in einem Bewegungsablauf bzw. -rhythmus schneller oder kürzer als dieser Rhythmus selber aus der Wahrnehmungsorientierung verschwindet oder weiter als ursprünglich anvisiert nach hinten in den Raum verlegt wird, dann wird der auf diesen Brennpunkt gestützte Bewegungsablauf unterbrochen und realisiert eine Umorientierung durch eine kurzfristige Stabilisierung gegen den nach vorn gerichteten Schwung- und Fallablauf. Diese Gegenkontraktion löst eine Schwung- bzw. Fallbewegung in die entgegengesetzte Richtung aus.
Bevor der Reflexbogen eine Verschiebung des anvisierten Druck-  bzw. Brennpunktes in der besagten Weise durch eine Gegenreaktion im Gesamtbewegungsablauf realisiert hat, hat der PUSH-Ausübende bereits den Druckpunkt wieder nach vorn verlagert und bewegt ihn unmerklich in die entgegengesetzte Richtung. Diese unmerkliche Gegenbewegung tritt wegen ihrer Kürze mit dem in der Restabilisierungsphase befindlichen Fall- und Kontraktionsablauf des Kontrahenten in Verbindung und verstärkt - dem Fall und der Kontraktionskraft des Gegners entsprechend - die Rückwärtsbewegung des Angreifers als instabile Fallwirkung. Nur durch eine schnellere Kontraktion in die gleiche Richtung könnte der Gegner dieser Destabilisierung entgegenwirken. Der Kontrahent fängt so jedoch seinen Fall durch einen bewußten Sprung nach hinten auf und muß dies, je nach Geschwindigkeit und Stärke der Fallwirkung, häufiger wiederholen.

Dasselbe gilt auch für den PUSH, dessen Ausführung das gleichzeitige Öffnen und Schließen des Körpers voraussetzt. Dabei wird der Eindruck erweckt, als würde sich der Praktizierende in der PUSH-Phase nicht oder kaum bewegen und der Kontrahent wie von einer unsichtbaren Kraft abgeprellt werden.

Tatsächlich ereignet sich dieser Vorgang nicht in demselben Augenblick, sondern ist eine noch mehr auf die unmittelbarste (senkrechte) Fallrichtung bezogene Wechselbewegung von stetiger Spannung und Entspannung.

Dasselbe geschieht, wenn der Angreifer von oben nach unten drückt und dabei seinen Ober- mehr als den Unterkörper anspannt. Durch eine kaum merkliche Verschiebung des Angriffspunktes nach unten wird der Druck des Oberkörpers für den Kontrahenten selbst nach unten wirksam. Seine Reflexe steuern dem durch Kontraktion im unteren und durch Entspannung im oberen Körperbereich entgegen, während der Druckpunkt des PUSH-Ausführenden sich bereits wieder nach oben bewegt.

Um dieser größeren Geschwindigkeit bzw. Kürze ständiger unvermittelter Stabilitätsverschiebung zu entsprechen, muß der Gegner durch einen unfreiwilligen Sprung einen Sturz nach hinten verhindern. Für den Betroffenen fühlt es sich häufig so an, als wenn er für diesen Augenblick ungewöhnlich leicht wird. Dieses stimmt damit überein, daß die Wahrnehmung die Wirkungen und Gegenwirkungen der Gewichtsverhältnisse in einer derart kurzen PUSH-Phase nicht registriert und sich auch die Reflexe dieser bewußt angewendeten PUSH-Technik nachordnen.

Bild 1
2 Bild 2

Bild 3

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Fortgeschrittenere Anwendung dieser Bewegungstechnik
(Die Bewegung ist von außen kaum mehr sichtbar).



Durch Gewichtsverschiebung verlagert sich der gedachte (potentielle) Druckpunkt tiefer, so daß der ausgeführte PUSH bei scheinbar äußerer Bewegungslosigkeit ebenfalls nach vorn, jedoch leicht von unten nach oben wirkt.
Damit will ich sagen, daß es sich bei dem sogenannten PUSH des gleichzeitigen Öffnens und Schließens (Gleichzeitigkeit von YIN und YANG) um denselben Ablauf handelt wie zuvor beschrieben. Der Unterschied besteht nur in dem direkteren (bezogen auf die Fallrichtung senkrechten) Weg mit nach oben leicht modifizierter Wirkung. Eine Gleichzeitigkeit des Öffnens und Schließens ist dabei jedoch ebenso eine äußere Täuschung wie die auftretende Prellwirkung bestenfalls durch die Kontraktion gegen den Boden verursacht wird und nicht durch irgendeine andersgeartete Kraft (Ch'i).




In komprimierter und sicher nicht leicht verstehbarer Form habe ich damit einen - auf großem Raum leichter beschreibbaren - physikalischen Zusammenhang angedeutet, der voll und ganz die phänomenale Wirkung eines über viele Meter reichenden PUSH-Effektes mit kaum sichtbarer auslösender Bewegung erklärt.
Wenn es einem Menschen gelingt, einen anderen von sich abprallen zu lassen, ohne daß dieser eine Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung spürt, so ist dies das Ergebnis einer körperbewußten Verwendung der zuvor beschriebenen Bedingungen, in ungleich kürzerer Zeit und auf ungleich kürzerem Weg, als die Reflexe des Kontrahenten gegenzusteuern vermögen, den Druck- oder Brennpunkt mehrmals zu verlagern und damit umgekehrt wirksam werden zu lassen.

Wegen der abstrakten und kurzgeschlossenen, schwer zugänglichen Fassung, die ausschließlich auf den Umstand zurückgeht, daß für eine angemessene umfassende Erklärung der zugrundeliegenden komplexen Zusammenhänge der Raum fehlt, bin ich gerne bereit, wirklich Interessierten diese Theorie bei genauer Nachfrage näher zu erläutern und zu beweisen.

Das obige Beispiel und alle anderen aufgeführten Argumente können und sollen sich nicht gegen Ch'i als Denk- und Arbeitskonzept wenden, sondern nur Ansatzpunkte bieten, den mit Sicherheit wertvollen und brauchbaren Inhalten, die sich mit diesem Begriff verbinden, mit ungezwungener und befreiter Neugier näherzukommen. Es war schon immer die Folge von Dogmatisierung, den Weg zum Kern einer Sache schwieriger zu gestalten, als er eigentlich ist.

Im dritten und letzten Teil dieser Serie werde ich dann, wie bereits angekündigt, auf einer etwas entlasteteren Grundlage das Ch'i-Konzept auf seine philosophischen, geschichtlichen und praktischen Werte hin untersuchen.

Die Destabilisierungsphase (Rückwärtsbewegung des Kontrahenten) zeigt an, daß die Rück- und Vorverschiebung des Druckpunktes bereits stattgefunden hat.




Serie A
D 1: Druckpunkt
D 2: Druckpunkt räumlich nach hinten verlagert
(bei Fortgeschrittenen geschieht es innerhalb des Muskelgelenkbereiches und ist von außen nicht sichtbar).
D 3: Noch während der Reorientierung, bzw. Restabilisierungsphase wird der Druckpunkt ein größeres Stück weiter nach vorn verlagert.

Serie B
Die Rückwärtspfeile geben die Restabilisierungsrichtung durch Gewichtsverlagerung an.
Die Vorwärtspfeile geben die anvisierte Druckpunktrichtung an, in der sich der Körper am Ende unter Zuhilfenahme des Widerstandes stabilisiert.
D 1 : Anvisierte Druckpunktrichtung
S 1 : Pfeil zeigt die Richtung des Gewichtsausgleichs an
D 2: Weiter nach vorn verschobene Druckpunktrichtung
S 2: Stabilisierungsrichtung
Richtung des Gewichtsausgleichs im Verhältnis zur Veränderung der Druckpunktrichtung D 3: Nach hinten verschobene Druckpunktrichtung
S 3: Stabilisierungsrichtung
Die noch nicht abgeschlossene Ausgleichsphase S 1 muß durch die verstärkte Rückwärtsbewegung der Gewichtsverlagerung fortgesetzt werden.


Anmerkungen
(1) Erich W. und Ilse R. Stiefvater, Chinesische Atemlehre und Gymnastik,
    Haug Verlag, Ulm/Donau, 2. Aufl. 1980, S. 30 f.
(2) alle Zitate aus: Joseph Needham, F.R.S., Science and Civilisation in China,
    Volume 2, Cambridge University Press, London, New York, Melbourne, 6. Aufl. 1977.
(3) Texte zum Verständnis des Tai Chi Chuan, herausgegeben von Frieder Anders,
    Tai Chi Chuan - Schule für Schattenboxen und chinesische Gymnastik, Frankfurt/M., Alt-Nied 2


Redaktionelle Anmerkungen
Auf den Aufruf der Redaktion, sogenannte CH'I-Kraft vor einem Fachgremium unter Beweis zu stellen, hat sich erwartungsgemäß bisher niemand gemeldet.
Wir möchten dennoch Lehrer, Meister und Experten, die glauben, tatsächlich mit Ch'i-Kräften zu operieren, noch einmal in dieser Form dazu ermuntern.
Dazu gelten die Bedingungen, die im ersten Aufruf von MARTIAL ARTS Nr. 1 aufgestellt wurden.



Erstveröffentlicht in MARTIAL ARTS Nr. 2, März/April 1983
Magazin für Kampfkunst und Philosophie
Herausgeber: MA-Verlag
E-Mail:ma-verlag@gmx.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2007