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MODELLE/003: Das CH'I-Konzept - Teil 3 (MA)



CH'I - Ein umstrittener Begriff (3)

von Helmut Barthel



Ich beginne mit einem Zitat von Erich W. und Ilse Stiefvater aus "Chinesische Atemlehre und Gymnastik":
Sehr schön und anschaulich wird das Wesen von Ch'i durch die chinesische Malerei und die zu ihr gehörige Schriftkunst dargestellt. Auch hier wird die gesamte Natur als durchdrungen und beseelt angesehen von einer lebendigen, gemeinsamen Lebenskraft, eben von ch'i. Als Sammelpunkte für diese Kraft gelten die Gebirge, durch deren Ausläufer sie sich in die Adern der Täler ergießt, Quellen und Wasserläufe durchtränkt und so die ganze Natur belebt. Der Mensch fügt sich diesem großen Organismus als bescheidenes Glied ein und baut seine Häuser, Gräber und Tempel nur an Orten, welche ihm die geomantische Lehre (feng-shui) als günstig und geeignet erweist. Die Naturvorstellung der Geomantie durchdringt in weit größerem Maße, als man bisher zu wissen glaubte, die chinesische Landschaftsmalerei. So lautet denn auch das erste der berühmten "Sechs Prinzipien" des Malers Hsieh Ho, die dieser um 500 n.Chr. formulierte: "Der Widerhall der Lebenskraft (ch'i) soll in lebendiger Bewegung sein." Damit dürfte gemeint sein, daß meditative Konzentration Herz, Auge und malende Hand mit dem abzubildenden Gegenstand in Übereinstimmung bringen solle. Roger GOEPPER, der das schöne Buch: "Im Schatten des Wu-T'ung-Baumes" herausgab, drückt den Inhalt dieses ersten Prinzipes so aus: "Die alle Elemente und Bestandteile der belebten und unbelebten Natur - also auch den Maler selbst - durchdringende Lebenskraft (ch'i) muß vom Künstler in einer solchen Weise auf die Malfläche gebannt werden, daß sie dort weiterwirkt und vom Betrachter als Widerhall (yün) empfunden und aufgenommen wird."

Dieser Satz vermittelt uns wirklich sehr lebensvoll die Naturanschauung der Chinesen, die de GROOT, wie schon in der Einführung erwähnt, als Universismus bezeichnet hat. Sie wird gekennzeichnet als eine innige Verbindung aller Daseinsbereiche mittels einer den Makro- wie den Mikrokosmos durchziehenden gemeinsamen Kraft, die auch das Aufgehen des chinesischen Menschen in eine niemals "völlig desakralisierte Natur" (M. ELIADE) ermöglicht.

So verstehen wir nun auch die folgende Formulierung des Malers Ching HAO (Ende des 9. bis Anfang des 10. Jh.). Ching HAO sagt, Ausdruck oder Lebenskraft (ch'i) sei dann vorhanden, "wenn das Herz den Bewegungen des Pinsels folgt und die Wiedergabe der Gestalten nicht irreführend ist." Diese "Malerei des Herzens" kann nach den Worten des Malers Mi YU-JEN (1086-1165) nur der ausüben und verstehen, der in die inneren Prinzipien der Dinge eingedrungen ist. Hierzu sei aber nötig, daß der Maler seinen Geist läutere, ihn vom Alltag befreie, daß er seine Schöpferkraft heranbilde und sich lange Zeit hindurch beobachtend in das versenke, was er malen will. Su Tung-p'o schreibt über seinen Freund, den Bambusmaler Wen T'UNG: "Wenn Yü-K'O (Wen T'UNG) Bambus malte, empfand er nur den Bambus und war sich seiner selbst als Mensch nicht mehr bewußt. Nicht nur, daß er sich seiner eigenen Gestalt unbewußt gewesen wäre, sondern sein Geist fühlte sich elend, er verließ seinen Körper und verwandelte sich in einen Bambus von unerschöpflicher Frische und Reinheit."

Diese meditative autohypnotische Entselbstung weist sehr auf ähnliche Gedankengänge und Praktiken des Ch'an-Buddhismus (japanisch Zen) hin. Aber für jene, die wirklich die Mitte zu halten wußten, ging es nicht um die Entselbstung an sich, sondern um die harmonische Verbindung von geistiger und körperlicher Bewegung. Der Strich des Malers darf durch keine ichbezogenen Empfindungen gehemmt oder beschleunigt werden. Aus der Ruhe und Leere der Ich-Mitte entsteht die reine Aufnahmebereitschaft für das nachzubildende Ding. Das an sich reine Wesen eines Dinges (ch'i) kann nur mit dem gereinigten Wesen (ch'i) des Malers kommunizieren. Dies ist die Grundlage einer vollkommenen Handbewegung und damit die Voraussetzung für jenen vollkommenen Pinselstrich, der die Wahrheit wiedergibt.
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Unzweifelhaft gibt es in China wie auch in anderen Kulturen in der Sprach- und Denkentwicklung bedeutende Begriffe zum Verständnis der Welt und ihrer hintergründigen Zusammenhänge. So ist es mit Begriffen wie TAO, LI oder auch CH'I. Sie lassen unzählige Deutungsmöglichkeiten zu oder werden selber in ihrer jeweils unauslotbaren Komplexität zu Mitteln der Deutung und Erklärung. Ob man nun versucht, CH'I selbst kosmologisch oder wissenschaftlich zu erklären oder ob man mit Hilfe von CH'I Phänomene und Erscheinungen zu deuten sucht, in allen Fällen wird oder bleibt CH'I eine unbekannte Größe.

Neben den mit dem Gedanken der schöpferischen Kraft verbundenen Begriffen Ti und T'ien, gibt es noch die Vorstellung des Ch'i. Ch'i ist ein Wort, für das es viele verschiedene Übersetzungen gibt. Es bedeutet Äther, Atem, Dunst, Dampf oder "Masse-Energie". Die Schule des Ch'i verwarf den anthropomorphen Gottesbegriff und unternahm eine materialistische Erklärung des Universums mit den Kategorien einer ursprünglichen Eigenschaft des Seins. Es war das Ch'i, das kondensierte, sich zu den vielfältigen Erscheinungen des Universums verdichtete und so auch den Menschen bildete.
Diese pseudo-wissenschaftliche Linie des Denkens zieht sich mit einigen Weiterentwicklungen durch die gesamte Geschichte des chinesischen spekulativen Denkens. Im neunten und zehnten Jahrhundert erfuhr sie in jener intellektuellen Springflut, die wir Neo-Konfuzianismus nennen, eine kräftige Neubelebung. Chang Tsai (1020-1077), der Neo-Konfuzianer der Sung Zeit, spricht für diese fortdauernde Schule des Denkens, wenn er die Harmonie des Universums des Ch'i so formuliert: "Durch die Kondensation und Verteilung des Äthers drängt das Universum auf hundert verschiedenen Wegen vorwärts; das Prinzip, nach dem es fortschreitet, ist geordnet und wirklich."
"Die Große Leere muß zwangläufig aus Äther bestehen; dieser Äther muß zwangsläufig kondensieren, um alle Dinge zu bilden; und diese Dinge müssen zwangsläufig zerstreut werden, um wiederum die Große Leere herzustellen. Die Fortdauer dieser Bewegungen in einem Zyklus ist damit unvermeidlich.
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Noch eindeutiger aber können wir dieses Problem in der Verbindung zwischen CH'I und Kampfkunst feststellen. Mit großer Selbstverständlichkeit wird der Begriff CH'I im folgenden Beispiel mit physikalisch und physiologisch leicht erklärbaren Bewegungen verquickt:

Richtiges Boxen (chin. Ch'uan) hat seinen Ursprung in den Füßen, geht durch die Beine, wird von den Hüften gelenkt und wirkt über Rücken und Arme durch die Finger. Am ehesten läßt sich dies verstehen, wenn wir uns über die besondere Art der Kraft klar werden, die wir in T'ai Chi Ch'uan entwickeln: Es ist die sogenannte "zähe" Kraft (engl. tenacious energy), die eine innere Kraft ist und wie es heißt, von den Sehnen kommt. Der Körper soll in T'ai Chi Ch'uan zu einem Bogen werden. Das Energiesammeln, das jedem Angriff vorausgeht, wird mit dem Spannen des Bogens und das Energieaussenden mit dem Loslassen der Sehne verglichen. Die "zähe" Kraft hat ihren Ursprung an der Stelle der "sprudelnden Quelle" in der Mitte der Fußsohlen. Sie ist ein Ausdruck der Lebenskraft Ch'i, die das Fundament der Selbstverteidigung beim T'ai Chi Ch'uan ist. Ch'i ist reiner Muskelkraft überlegen. Alle Prinzipien und Grundregeln des T'ai Chi Ch'uan sind dahin ausgerichtet, uns diese Kraft zugänglich zu machen. Die Haltung muß korrigiert werden, der Körper soll in der Bewegung aufrecht sein. Damit das Ch'i sinken kann und die Energiezentren entwickelt werden, ist die tiefe Atmung notwendig. Da das Ch'i nicht auf rein physischen Prinzipien beruht, müssen alle T'ai Chi Ch'uan-Übungen mit voller Aufmerksamkeit von Körper und Geist ausgeführt werden.
Ch'i ist in vielen Techniken auf unterschiedliche Weise anwendbar.
Es gibt die einfache "hörende" und "haftende" Energie (engl. listening and adhering energy), die uns befähigt, allein durch die Berührung mit einem Gegner seine Absicht zu erkennen, bevor er sie ausführen kann. Es gibt die "verstehende" Energie (engl. comprehending energy), die es uns ermöglicht, dem Angriff eines Gegners ohne Überlegen auf die richtige Weise zu begegnen. Wir haben die "schließende", "öffnende", "leihende", "hebende", "zurückziehende", "drehende" Energie usw. Es gibt verschiedene Wege, die Energie auszusenden (engl. discharging energy). Die Kraft eines Gegners kann neutralisiert oder gegen ihn gewendet werden. Es gibt mindestens 24 Arten von Ch'i, deren Anwendung mit Techniken verbunden sind, die wir in der Einzelübung, im "Pushing Hands" und im "Ta Lu" üben.
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In diesem Beispiel taucht CH'I als Ausgangspunkt aller möglichen Energien auf, die für die Anwendung im Kampf ursächlich benutzt werden sollen. Ohne jede Erklärung werden die verschiedenen Energieeinsätze schicht als CH'I-Kräfte bezeichnet. Die Formel lautet einfach: Energie = CH'I.

Wenn sich der geneigte Leser einmal bemüht, nur die verschiedenen Energieeinsätze und ihre Bedingungen aus dem zitierten Text herauszulesen, dann wird er bemerken, daß das Fehlen des CH'I dem Verstehen der wesentlichen Aussagen keinen Abbruch tut.

Über das CH'I selbst erfahren wir bestenfalls, daß es "sinken" kann und daß es "nicht auf rein physischen Prinzipien" basiert. Letztendlich kann man das CH'I nur dann verstehen und entwickeln, wenn man in diesem Falle die entsprechenden Tai Chi Chuan-Übungen "mit voller Aufmerksamkeit von Körper und Geist" ausführt.

Ich gehe davon aus, daß jeder Kampfkunstaktive bemüht ist, seine Übungen mit voller körperlicher und geistiger Aufmerksamkeit auszuführen. Dazu ist aber eine ungeklärte CH'I-Entwicklung weder als Ziel noch als Voraussetzung notwendig. In der Kampfkunst geht es in der Regel in erster Linie um das Erlangen für den Kampf nützlicher Fertigkeiten. Diese sind mit dem Maß der Körperkontrolle und des Bewegungsverständnisses qualitativ steigerbar. Über die didaktischen Wege und die effektivsten Anwendungen mag man verschiedener Auffassung sein. Auf ihren wirklichen Wert überprüfbar ist eine Kampfkunst ohnehin nur im Kampf. Sollte eine Kampfkunst mehr und andere Aspekte als die Kampfeffizienz verfolgen, so mag sie als Kunst oder als Körper- und Geistesdisziplin bedeutende Antworten auf verschiedenste Fragen geben, sie ist dann jedoch schwerlich als Kampfkunst zu bezeichnen. Nicht nur in der Kampfkunst allerdings - so meine ich - sind bei überprüfbaren Leistungen und Resultaten auch überprüfbare Bedingungen bzw. Techniken aufzufinden.

Der Wert von CH'I ist in seiner kulturhistorischen Komplexität gleich dem des TAO oder anderer chinesischer Denkachsen letztendlich immer nur im Zusammenhang mit anderen chinesischen Denkkonzepten interpretierbar. (siehe Diagramm)

Yin-Yang

In den Kampfkünsten zielt man auf ganz bestimmte Effekte und Fertigkeiten ab. Es liegt nahe, daß hier der Begriff des CH'I besonders betont wird. Im Zusammenhang mit TAO, WU-CHI, TAI-CHI, YIN und YANG entspricht er am meisten der beliebigen Wirkungen unmittelbar zugrunde liegenden Substanz oder Energie. Jedoch wird in den chinesischen Kampfkünsten bei der technischen Verwendung von CH'I nicht auf die Verbindung zumindest zu YIN und YANG, häufig auch zu TAO verzichtet. Diese Verbindung ordnet die "eigentliche Energie" grundlegend und macht sie für menschliche Zwecke faßbar und modifizierbar.

Wirkungen dieser "eigentlichen Energie" oder des CH'I sind aber von dem "eigentlichen" Sinn der jeweiligen Kampfkunst nicht zu trennen. Ein effektiver Wurf, Push, Schlag oder Stoß, dessen Aufwand sich - entgegengesetzt aller Voraussetzungen - auf einen kaum merklichen Verbrauch von Energie beschränkt, wäre als CH'I-Kraft zu werten. Die beteiligten Energien verbleiben in ihrem ursprünglichen bzw. eigentlichen Zustand und werden mit der Wirkung nicht verändert oder verbraucht.

Auch wenn man Effekte steigern und dabei den Aufwand womöglich noch verringern kann, so wäre dies nicht eine Vermehrung von CH'I. CH'I ist nach diesem Verständnis deshalb nicht vermehrbar, weil es sich grundsätzlich um das Optimum energetischer Prozesse handelt. CH'I bedeutet eine gezielte Wirkung ohne Veränderung (Verlust, Verbrauch) der beteiligten Energien.

Häufig wird Energie mit Wirkung verwechselt. Zunächst einmal ist Energie die Fähigkeit, Arbeit zu leisten. Wir kennen ihre Nutzung jedoch nur, indem wir sie verändern, bzw. ihren momentanen oder eigentlichen Zustand zerstören: Holz wird verbrannt, um Wärme zu erzeugen. Um Feuer und Wärme entfaltet sich aber dann ein Prozeß, der in der Durchführung darauf hinausläuft, dieser spezifischen Nutzung ständig zusätzliche Energie zuzuführen.

Mit einem solchen Konzept haben wir es zu tun, wenn wir von Energie und ihrer Nutzung sprechen.

Diesem Denken ist das CH'I sinngemäß entgegengesetzt. Viel zu leicht wird vergessen, daß das Verständnis der "eigentlichen Energie" nur ein Teil jenes Wissens ist, das ebenso von dem ordnenden YIN und YANG und dem alles durchziehenden Sinn des TAO bestimmt wird wie von den praktischen Anwendungen und Schlußfolgerungen für das tägliche Leben.

Gehen wir einmal von der direktesten Bedeutung des Zeichens CH'I aus, so haben wir ursprünglich "dampfendes Getreide" (

dampfendes Getreide) oder in einer noch älteren Form "Feuer und Rauch" (

Feuer und Rauch).
Für sich genommen ist es selbstverständlich möglich, dieses auch als eine Art Energiebegriff oder sogar als ein Symbol von ursächlicher Energie bzw. Substanz auszulegen. Das ist dann besonders einfach, wenn dieses Zeichen losgelöst von allen anderen das Leben, die Realität oder das menschliche Dasein beschreibenden Definitionen, die sich in der Zeichen-, Sprach- und Denkentwicklung zusammenhängend herausgebildet haben, betrachtet wird.
Hier korrespondiert eine zu metaphysischer Spekulation, Totalisierung und vereinfachender Interpretation neigende Auffassung im chinesischen Kulturkreis durchaus mit entsprechendem abendländischen Denken. Wenn aber, in ein derartiges Verständnis gebracht, CH'I gleichbedeutend wird mit "pneuma", "prajna", "Äther", "Aura", "Odem" etc., dann stellt sich nur die einfache Frage, warum wir diesen chinesischen Begriff überhaupt bemühen. Der Grund kann nur in der Selbstbestätigung metaphysischer und unzusammenhängender Denkweisen bestehen.


In dieser Serie geht es nicht darum zu behaupten, daß es nicht auch in China eine große Zahl dergestaltiger Weltanschauungen und Vorstellungen gibt. Vielmehr geht es darum, den terminus technicus CH'I in den ursprünglichen taoistischen Schulen zu entdecken, die fast alle chinesischen Philosophien mehr oder weniger stark beeinflußt haben.

Kann nicht auch mit jenem CH'I, das in den klassischen Texten "in den TAN TIEN sinkt", "sich in den Knochen sammelt" oder "in den Füßen ruht" die natürliche potentielle Energie dieser Körperteile bzw. Organe gemeint sein, deren richtige Verwendung und größtmögliche Wirkung darin besteht, daß sie dauerhaft, also in einem ungebrochenen Fluß, in Erscheinung treten?! Dauerhaft würde bedeuten, diejenige Position in Bewegungsabläufen zu benutzen, die an dem Bestand der potentiellen Energie nichts oder kaum etwas verändert.

1. CH'I "in den TAN TIEN sinken lassen" hieße dann z.B.: Der BewegungsabIauf beginnt in der gedachten Körpermitte, (wo beide Körperhälften etwa gleichgewichtig aufeinander stoßen; das ist der Punkt unter dem Nabel, der sogenannte TAN TIEN-Punkt) und setzt sich über alle anderen Körperteile bzw. Gliedmaßen fort, ohne daß das Verhältnis der Mitte sich in ihrer ursprünglichen Position zu diesen verändert.

2. "Die ('eigentliche, innere') Energie ruht in den Füßen, entwickelt sich in den Beinen, wird von der Hüfte gelenkt und wirkt durch die Finger. In allen Bewegungen müssen Füße, Beine und Hüfte als Einheit wirken." In diesem Fall geht die Bewegung von den Füßen aus und bleibt als verursachende Energie (Fuß in Bewegung) in den Füßen.

3. "Lenke das CH'I mit dem Willen, damit es sinkt und sich in den Knochen sammelt." Dieses wäre der ununterbrochene Einsatz bzw. die Verwendung des passiven Knochengewichtes.

Begriffe wie "Sammeln", "Entwickeln" bzw. "Lenken" oder "Fließen' verführen leicht zu der Auffassung, hier wäre die ursächliche oder "eigentliche" Energie gemeint. Tatsächlich beziehen sich diese Begriffe jedoch nur auf die Wirkung.

Es handelt sich beim CH'I also nicht um ein metaphysisches oder physikalisches Substrat, sondern um Techniken, die sich mit dem ungebrochenen Einsatz vorhandener Energie beschäftigen, die dann allerdings - je nach Schule - mit jeder beliebigen Energie bzw. in jedem Körperteil ihren Anfang nehmen kann. Entscheidend ist die technische Bewerkstelligung bzw. das Studium von Körperpositionen, die das Potential der Energie ("eigentliche", ursächliche Energie), in deren Folge alle anderen körperlichen Abläufe stattfinden, ungebrochen und deshalb wirksam erhalten.

Könnte man der Logik dieses Umgangs mit Energie bzw. körperlichen Zuständen oder Kräften einmal folgen, so würde man entdecken, daß es sich dabei um ein altes taoistisches Denken handelt: "Das TAO tut nichts, und doch bleibt nichts ungetan." In dieser einfachen Aussage spiegelt sich die bekannte Idee vom WU-WEI, was bedeutet: Tun durch Nicht-Tun oder durch Nicht-Handeln.

In der philosophischen Spekulation ist das TAO die Ursache von WU-CHI, WU-CHI die Ursache von TAI-CHI, TAI-CHI die Ursache von YIN und YANG und YIN und YANG die Ursache der 1000 Dinge. Daraus kann man schon ersehen, daß mit dem Begriff TAO sowohl der Anfangs- wie auch der Endpunkt von vielerlei Wirkungen verbunden wird. TAO wären - aus der Spekulation herausgenommen und auf ein menschliches Beispiel gebracht - die Füße, mit denen ich beginne und auf die alles wieder zurückkehrt, und die, bei richtiger Verwendung, ununterbrochen wirken und sich nicht in einer Kette von Ursache und Wirkung verschleißen.

WU-WEI wäre dann nicht etwa Passivität, sondern das aufmerksame und dauerhafte Verfolgen und Anwenden der bereits verursachten Kräfte bzw. Bewegungen. Damit nicht das Mißverständnis entsteht, es handele sich bei dem WU-WEI oder den taoistischen Philosophiekonzepten um bloße Anpassung, sei noch einmal betont: Es wird sehr wohl ein Tun (ein bestimmter Zweck, ein Ziel) angestrebt, ohne jedoch durch Unterbrechung der situativen Energieverhältnisse dem Verfolgen eines Zieles durch Veränderung bzw. Zerstörung neue Relativierungen und Unsicherheiten hinzuzufügen. Einen direkteren Weg, nämlich unter Vermeidung von Veränderung, möglicherweise Vergessen oder sogar Zerstörung zur Erreichung eines bestimmten Zieles zu kommen (im Kampf ist das der Sieg) gibt es nach taoistischem Denken nicht.

Ein berühmtes Gespräch zweier Zen-Meister deutet uns nicht nur an, wie wichtig dieses Thema für alle Experten von Körper- und Geisteskontrolle im chinesischen Kulturkreis war, sondern gibt uns auch Auskunft darüber, welche didaktischen Wege teilweise beschritten worden sind, um das TAO besser zu verstehen und verständlich zu machen:

Chao-chou fragte: "Was ist das Tao?"
Der Meister (Nan- ch'üan) erwiderte: "Dein gewöhnliches Bewußtsein ist das Tao."
"Wie kann man sich in Einklang damit bringen?"
"Wenn du den Einklang beabsichtigst, weichst du schon davon ab."
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Sehr schön wird die Verbindung und die einfache Natur von TAO und CH'I in einer alten Geschichte des Chuang-Tse erkennbar:

Ein Holzschnitzer schnitzte einen Glockenständer. Als der Glockenständer fertig war, da bestaunten ihn alle Leute, die ihn sahen, als ein göttliches Werk. Der Fürst von Lu besah ihn ebenfalls und fragte den Meister: "Was habt Ihr für ein Geheimnis?"
Jener erwiderte: "Ich bin ein Handwerker und kenne keine Geheimnisse, und doch, auf Eines kommt es dabei an. Als ich im Begriffe war, den Glockenständer zu machen, da hütete ich mich, meine Lebenskraft (ch'i) zu verzehren. Ich fastete, um mein Herz zur Ruhe zu bringen. Als ich drei Tage gefastet, da wagte ich nicht mehr, an Lohn und Ehren zu denken; nach fünf Tagen wagte ich nicht mehr, an Lob und Tadel, Geschicklichkeit und Ungeschicklichkeit zu denken; nach sieben Tagen, da hatte ich meinen Leib und alle Glieder vergessen. Zu jener Zeit dachte ich auch nicht mehr an den Hof Eurer Hoheit. Dadurch ward ich gesammelt in meiner Kunst und alle Betörungen der Außenwelt waren verschwunden. Danach ging ich in den Wald und sah mir die Bäume auf ihren natürlichen Wuchs an. Als mir der rechte Baum vor Augen kam, da stand der Glockenständer fertig vor mir, so daß ich nur noch Hand anzulegen brauchte. Hätte ich den Baum nicht gefunden, so hätte ich's aufgegeben. Weil ich so meine Natur (ch'i) mit der Natur des Materials zusammenwirken ließ, deshalb halten die Leute es für ein göttliches Werk!"
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Unbestritten ist, daß metaphysisches und spekulatives Denken einen breiten Raum in der Entwicklung unserer und anderer Kulturen einnimmt. Unbestritten ist auch, daß das Suchen nach den "Ursachen der Ursachen" und das Spekulieren mit unbekannten Faktoren einen wesentlichen Teil des modernen Denkens und Forschens bestimmt. Wenn es jedoch darum geht, Annahmen über kosmologische Hintergründe verschiedenster spekulativer Schulen und Denkweisen konkret zu beweisen, dann bleiben diese den praktischen Nachweis irgendwelcher das Weltgeschehen oder die Energien allgemein bestimmender Ursachen schuldig. Sie berufen sich nicht zuletzt auf jene Komplexität der Dinge, die ihnen das undurchsichtige Muster spekulativer Totalisierungen vorzeichnet.

Ich neige in meiner Auffassung - im Einvernehmen mit ursprünglichem taoistischen Denken - dem Ausspruch des oben zitierten Holzschnitzers zu, der da sagt: "Ich bin ein Handwerker, ich kenne keine Geheimnisse." Der Nachweis einer handwerklichen Fertigkeit jedoch ist eine alltägliche Angelegenheit.


Anmerkungen:
(1) Erich W. und Ilse Stiefvater, Chinesische Atemlehre und Gymnastik,
     2. Auflage erschienen 1980 im Haug Verlag, Heidelberg, S. 33 f.
(2) Chuang Chung-Yuan, Tao, Zen und schöpferische Kraft,
     Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1975, S. 56 f.
(3) Toyo und Petra Kobayashi, T'ai Chi Ch'uan, Irisiana Verlag, Haldenwang 1979, S. 20 f.
(4) Alan Watts, Der Lauf des Wassers, O. W. Barth Verlag, S. 70
(5) Chuang-tse, Buch XIX, S. 10, zitiert nach Erich W. und Ilse Stiefvater, a. a. O., S. 33 f.



Erstveröffentlicht in MARTIAL ARTS Nr. 3, August/September 1983
Magazin für Kampfkunst und Philosophie
Herausgeber: MA-Verlag
E-Mail:ma-verlag@gmx.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2007