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MODELLE/004: Yin & Yang - Teil1 (MA)



YIN & YANG - Teil 1













Der vollkommene Mensch oder der Weise, der so oft in taoistischen und konfuzianischen Schriften erwähnt wird, war in sich selbst in vollkommener YIN-YANG-Harmonie. "In der Ruhe teilt er die Passivität des YIN und in der Aktion die Energie des YANG" (Chuang-tzu XV.). Er verfügt über das Gleichgewicht von Kopf und Herz, Geist und Gefühl, Intelligenz und Instinkt. Er ist weder negativ noch positiv, sondern die glückselige Mitte, die zentrale Achse, der Pol.
(1)

Als die Quintessenz chinesischer Philosophie und Weisheit wird hier im Westen nicht selten das Gegensatzpaar von YIN und YANG in seiner unauflöslichen Einheit angesehen. Daß es sich dabei in allererster Linie ursprünglich um einen Ordnungsbegriff handelt, dessen tieferer Sinn zunächst einmal darin bestand, der Widrigkeiten und Probleme menschlicher Existenz im Raume des Bewußtseins, des Denkens und der Sprache habhaft zu werden, ist naheliegend. Wie es sich für einen Ordnungsbegriff geziemt, bietet er die Möglichkeit, den ansonsten undurchsichtig-bedrohlichen Schwierigkeiten, mit denen sich der menschliche Geist - als im Endeffekt oft unerklärlichen Natur- und gesellschaftlichen Kräften - auseinanderzusetzen hat, ein Ordnungsgefüge entgegenzustellen, das zumindest im menschlichen Denken einen Zugriff auf das vermeintliche Chaos verspricht. Der Logik des Gegensatzes oder der Polarität entsprechend ist selbstverständlich die Auflösung oder der Ausgleich derselben ihre höchste Funktion. Auch erhält das Gegensatzpaar YIN und YANG erst seinen eigentlichen Zweck durch die darin enthaltene Notwendigkeit des Ausgleichs bzw. der Angleichung.

YIN und YANG stimmen zusammen (tiao) und harmonisieren (ho).
(Chuang-tzu)
(2)

Der Weg schuf die Einheit.
Einheit schuf Zweiheit.
Zweiheit schuf Dreiheit.
Dreiheit schuf die zehntausend Wesen.
Die zehntausend Wesen tragen
das dunkle Yin auf dem Rücken,
das lichte Yang in den Armen.
Der Atem des Leeren macht ihren Einklang.
(3)

Ein heiliger Herrscher bewirkt, daß sich die Vier Jahreszeiten zur rechten Zeit (chieh) einstellen; er bewirkt den Zusammenklang (tiao) von Yin und Yang, von Regen und Tau.
(Mo-tzu) (4)


(Der Gegensatz von Regen und Tau wäre, daß die Feuchtigkeit im Regen vom bewölkten Himmel stammt, die Feuchtigkeit des Morgentaus bei klarem Himmel und Sonnenschein in Erscheinung tritt.)

Den Philosophen unseres Kulturkreises ist eine solche Herangehensweise nicht nur geläufig, sondern ein stetes Anliegen, welches von der Antike bis in die Jetztzeit hinein in der Auseinandersetzung mit Polarität, Dualität und ihren dialektischen Lösungsmöglichkeiten seinen Ausdruck findet. Dabei ist der Ordnungssinn immanenter Bestandteil und Grundvoraussetzung dieser Erkenntnismethode, das heißt auch hier zuallererst einmal der grundlegende Versuch, unbegreiflichen Kräften und Zusammenhängen eine Ordnung entgegenzustellen, um diese damit zu bewältigen. Auch hier, getreu der Logik, wird - wie im YIN- und YANG-Gefüge - die Überwindung bzw. der Ausgleich der Gegensätze angestrebt, etwa auf dem Wege der Synthese oder der Gleichung.

In aller Regel wird die Entwicklung des YIN und YANG als Denkkonzept auf die chinesischen Naturphilosophen zurückgeführt. Definitiv und schriftlich niedergelegt taucht es in den drei klassischen Schriften SHU-CHING, SHIH-CHING und I-CHING auf, welche später - zumindest im überlieferten I-Ching - durch eine Bearbeitung des Konfuzius die uns heute bekannte Fasson erhielten. Gebräuchlich aber war die allgemeine Verwendung dieses Begriffspaares schon sehr viel früher. Um der Quellenproblematik gerecht zu werden, soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß es keine Sicherheit darüber gibt, ob die schriftliche Niederlegung von YIN und YANG nicht sogar in der Zeit der Han-Dynastien (206 v. Chr. - 220 n. Chr.) - also nach Konfuzius - in die klassischen Schriften eingefügt worden ist. Die unmittelbare Worterklärung nach A. Forke (5) bezeichnet in der ursprünglichsten Form das YANG als Sonnenstrahlen oder Sonnenlicht und das YIN als sich fortwälzende Wolken, welche die Sonne bedecken. In einer anderen wesentlich bekannteren Worterklärung steht YANG für den Südhang des Berges (sonnenbeschienen) oder das Nordufer des Flusses, wohingegen YIN für die beschatteten Hänge der Nordseite des Berges oder das südliche Flußufer steht.




M. Granet beschreibt die Entwicklung der Begriffe und der Bedeutung von YIN und YANG so:

Nur wenn man sich die alten Formen des Gegensatzes der Geschlechter vergegenwärtigt, vermag man den Gehalt, die Rolle, die Entwicklung, ja selbst die Bezeichnungen der Begriffe Yin und Yang zu verstehen. Im alten China standen sich Männer und Frauen wie zwei miteinander wettstreitende Verbände gegenüber. Eine aus technischen und sexuellen Verboten gefügte Barriere trennte sie. Ackerbauer und Weberinnen stellten Gruppen dar, welche ihrer verschiedenen Lebensweise, verschiedener Interessen und Ziele und unterschiedlichen Besitzes wegen miteinander wetteiferten, gleichzeitig aber zusammengehörten. Diese komplementären Gruppen teilten sich in die Arbeit und in die verschiedenen Verrichtungen, wie auch in die Zeitabschnitte und Örtlichkeiten, an welchen diese zu verrichten waren. Jede Gruppe hatte ihre eigene Lebensform, wobei sich das Gesellschaftsleben aus dem Zusammenwirken dieser beiden Formen ergab.

Die Weberinnen, die ihr Dorf niemals verließen, benutzten den Winter dazu, die Hanfstoffe für die neue Jahreszeit herzustellen. Für die Männer war der Winter eine stille Jahreszeit. Sie ruhten sich aus, ehe sie von neuem auf den Feldern arbeiteten. In gleicher Weise lösten sich Yin und Yang am Werke ab. Das erste entfaltete seine Tätigkeit im Winter, das zweite während der heißen Jahreszeit. - Doch begegneten sich Männer und Frauen, die durch ihren Fleiß im Wechsel bereichert wurden, zu Beginn und am Ende der Winterruhe. Diese Treffen waren der Anlaß der Messen (hui) und Versammlungen (chi), bei welchen bald der eine, bald der andere Verband - im Frühjahr die Weberinnen, im Herbst die Ackerbauern - in den Vordergrund trat. Nach Meinung der Gelehrten gaben sich Yin und Yang auch an den Tagen der Tagundnachtgleiche ein Stelldichein (chi) und sie kamen zusammen (hui), bevor die Herrschaft des einen oder des anderen begann oder endete. - Bekanntlich besteht das Emblem des Yin und des Yang in der Tür; sie ist ebenfalls das Emblem der sexuellen Feste. Im Frühjahr öffnete man in den Weilern die Türen, und die Ackerbauer zogen aus, um den Sommer bei der Feldarbeit zu verbringen. Das Yang entspricht dem Bild einer sich öffnenden Tür, was wiederum zum Gedanken der Zeugung, der Erzeugung und der sich entfaltenden Kraft führt. Im Winter hielt man in den Dörfern die Türen geschlossen, ist doch der Winter die Jahreszeit des Yin, das durch eine geschlossene Tür symbolisiert wird. - Die Gelehrten behaupten, daß während der eisigen Jahreszeit das Yang allseits vom Yin umgeben in einem unterirdischen Gemach wohnen muß. Es bestehen Gründe für die Annahme, daß das Gemeinschaftshaus, in dem die Männer während der stillen Jahreszeit zusammenkamen, eine Art in der Mitte des Weilers angelegte, an allen Seiten von den Wohnstätten umschlossene Höhle oder ein Keller war. Die Wohnstätten, welche die Grundlage des dörflichen Lebens bildeten, gehörten den Frauen. - Nachdem die Männer ihre Kräfte erneuert hatten, wurden sie wieder zu Ackerbauern und gingen im Sonnenlicht im freien Land an die Arbeit. Im Gegensatz hierzu wirkten die Weberinnen nur an dunklen Orten; sobald sie damit begannen, die Festkleider zu weben, mußten sie das Sonnenlicht meiden. Beide Geschlechter waren einer antithetischen Disziplin unterworfen. Ihre entsprechenden Wirkungsbereiche waren das Innere (nei) und das Äußere (wai) - die zugleich die Wirkbereiche des Yin und des Yang, des Schattens und des Lichtes sind. Deshalb fand der Gegensatz der Geschlechter seinen mythischen Ausdruck im Gegensatz des Yin und des Yang.

Diese symmetrischen Gegensatzpaare traten sämtlich bei dem Schauspiel in Erscheinung, welches im Frühjahr und im Herbst die sexuellen Feste boten. Diese Feste wurden in kleinen Tälern begangen, wo ein Flußlauf eine heilige Grenze schuf. Die Vertreter der beiden konkurrierenden Verbände durchschritten den Fluß, kamen so allmählich in Berührung und leiteten die gemeinsame Hierogamie ein, die den Beschluß des Freudenfestes bildete. Zuvor formierten sie sich jedoch zu einander gegenübertretenden Chören, die sich zu beiden Seiten einer rituellen Achse aufstellten und sich gegenseitig mit Gedichten herausforderten. Wenn man dann im weiblichen Lager dadurch gerührt wurde, daß einem der Gegner wahrhaft männlich dünkte (yang-yang), dann bedeutete dies doch, daß das Yang (besonnter Hang) der Gruppe vorbehalten war, welche im vollen Sonnenlicht Feldarbeiten verrichtete. Zu den Männern gehörte die Yang-Seite und zu den Frauen die Yin-Seite. Der Festplatz zeigte einen beschatteten Hang, der an einen besonnten Hang grenzte und auf welchem nach ihrem Geschlecht unterschiedene Gruppen sich gegenübertraten, um sich zu vereinen - somit das gesamte Yin und das gesamte Yang.

"Das Yang ruft, das Yin antwortet"; "Die Jünglinge rufen, die Mädchen antworten." In diesen antithetischen Formeln offenbart sich die gegensätzliche Disziplin, welche die Beziehungen der beiden gegenläufigen Symbole regelt, wie dies auch beim Zusammenwirken der beiden konkurrierenden Verbände der Fall ist. Die verwendeten Ausdrücke sind bedeutsam, lassen sie sich doch nur als Anspielungen auf die Riten und Spiele der sexuellen Feste verstehen. Vom Yang wird ausgesagt, daß es "ruft und den Gesang eröffnet" (ch'ang), was tatsächlich während des mit Gesängen begangenen Festes für die Jünglinge zutrifft. Vom Yin heißt es, daß es mit einer harmonischen (ho) Entgegnung antwortet; und tatsächlich entsprach dies der Rolle der Mädchen. Mädchen und Jünglinge leiteten ihre Vereinigung (ho) mit einem Turnier (ching) ein. Auch das Yin und das Yang vollführen einen Wettkampf (ching), ehe sie sich vereinen (ho), und sie führen ihn jedes Frühjahr und jeden Herbst als Vertreter zweier wettstreitender Verbände aus. Das Wort ho, das diese symmetrischen Verbindungen bezeichnet, ist auch für die gesungenen Entgegnungen gebräuchlich, in welchen sich die vollkommene Übereinstimmung der Wettkämpfer offenbart. Es ist überdies ein Ausdruck für die Harmonie (ho), die sich infolge der zusammenstimmenden Wirkung (tiao oder tiao-ho) von Yin und Yang einstellt. Nun wird deutlich, weshalb man das rhythmische Zusammenspiel der Symbole Yin und Yang gern durch musikalische Metaphern andeutet. Ursprung wie Namen dieser Embleme gehen auf das Schauspiel zurück, das die Zusammenkünfte boten, während der zwei einander gegenüber aufgereihte singende Chöre, entweder zum besonnten oder zum beschatteten Hang gewendet, Wechselgesänge austauschten. Mit ihren traditionellen Improvisationen wetteiferten die Chöre an Erfindungsgabe und an sprichwörtlichem Wissen. So entstand die Mehrzahl der poetischen Sprüche des Kalenders. Diese überlieferten sprichwörtlichen Redensarten beschwören jene Bilder, die am Übergang der Jahreszeiten die rituelle Landschaft zeigte, in der die Festlichkeiten vonstatten gingen. Daher rührt auch ihr Emblem- und Zeichenwert. Durch solchen Ursprung hat auch die Beziehung, die von allem Anfang an zwischen ihnen und den Symbolen Yin und Yang bestand, eine Erklärung. Auf Grund dieser ursprünglichen Verbindung konnte dieses Symbolpaar dann auch für die von den Gelehrten ausgearbeitete Kalenderordnung maßgebend werden. Eine theoretische Vorstellung der Zeit war entstanden, sobald die Masse der überlieferten Sprüche, die jeweils wie zahlreiche Gegensatzpaare paarweise zusammengehörten, auf die unter der einen oder der anderen dieser Rubriken eingeordneten Jahreszeiten verteilt waren. In diesem Bestand gegensätzlicher Embleme, die sich abwechselnd vor dem Hintergrund der Herbst- und der Frühlingstreffen darboten, zeigte sich der wesentliche, augenfälligste, ergreifendste, der einzige Gegensatz, der schlagartig den Sinn der ganzen dramatischen Handlung bewußtwerden ließ, im Gegensatz von gegnerischen Chören, die sich wie Licht und Schatten gegenüberstanden. Deshalb waren Yin und Yang geeignet, als die Embleme zu gelten, in welchen alle übrigen enthalten waren, durch die auf alle übrigen hingewiesen, ja durch die alle übrigen hervorgerufen wurden. Mithin stellten sie ein Paar wirkkräftiger Rubriken dar, das zur Einstufung aller sich im Wechsel ablösenden Aspekte genügte und - sie waren auch ein Paar wirksamer Symbole, die für den kosmischen Wechsel verantwortlich waren.

Die Vorstellung von Yin und Yang hat sich anläßlich dramatischer Schauspiele entfaltet, bei denen zwei zusammengehörige und rivalisierende Verbände, zwei komplementäre Gruppen miteinander stritten und kommunizierten. Bei diesem Fest war die gesamte Menschheit, wie auch alle benannten oder vorhandenen Dinge der Natur, vertreten. Der Schauplatz dieser Zusammenkünfte entsprach dem gesamten Raum, und die Zeit des Turniers, während der in traditionellen Spruchgedichten nacheinander dem Kosmos eine Anzahl Signale gegeben wurde, umfaßte die gesamte Zeit. Dieses totale Schauspiel war ein belebtes Schauspiel. Die beiden rivalisierenden Parteien mußten solange Lieder austauschen, als der tänzerische und dichterische Wettstreit andauerte. Während das mit sich gegeneinander bewegenden Chören besetzte Kampffeld aus gegensätzlich gearteten, einander gegenüberliegenden Räumen zu bestehen schien, bestand die mit Wechselgesängen und Gegentänzen erfüllte Zeit des Turniers offenbar im Zusammenwirken zweier konkurrierender, gegengeschlechtlicher Gruppen. Außer in der Verschiedenheit der Raum- und Zeitabschnitte liegt darin die Erklärung für die rhythmische Verbindung der Räume und Zeiten unter der Herrschaft der Sammelbegriffe Yin und Yang. Raum und Zeit - die jeweils aus gegensätzlichen und sich wechselweise ablösenden Raum- und Zeitabschnitten bestehen - bilden ebensowenig in sich eine Einheit, wie man sich einen der beiden von dem anderen unabhängig vorstellen kann - aber sie bilden zusammen ein unlösbares Ganzes. Und dieses Ganze umschließt sowohl die Welt der natürlichen Dinge als auch die Menschenwelt, denn es ist, genauer gesagt, mit der gesamten Gesellschaft identisch, in der sich alle vorstellbaren Gegebenheiten auf zwei gegensätzliche Lager verteilen. - Grundlage der Gesellschaftsordnung und Ausgangsbasis für eine jahreszeitliche Verteilung der menschlichen Arbeit war der Gegensatz der Geschlechter. Ebenso erschien der Gegensatz des Yin und des Yang als Grundlage der kosmischen Ordnung. Man verstand ihn als das Prinzip einer rhythmischen Verteilung der Werke der Natur. Niemals war die Einheit des Kosmos vollkommener, niemals völliger zu spüren als während jener heiligen Augenblicke, in denen man zugleich Örtlichkeiten, Anlässe, Arbeiten, Verwendungsmöglichkeiten und Embleme sinnvoll aufteilte und - in der Absicht, eine gemeinsame Hochzeit zu feiern, während Yin und Yang ihrerseits sich ebenfalls vereinigten und geschlechtlich verbanden - die allesumfassende Ordnung erneuerte. Wenn man also auf Grund der Unterscheidung der Geschlechter dem Raum, der Zeit, der Gesellschaft und dem Kosmos eine zweiteilige Struktur zuschrieb, so geschah dies keineswegs unter dem Einfluß einer spekulativen Tendenz zu einem substantialistischen Dualismus. Der Gedanke des Paars wird nie von der Vorstellung einer Verbindung gelöst, und maßgebend bei der Regel der Zweiteiligkeit bleibt die Auffassung, daß beide Teile ein Ganzes darstellen.
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Hier wird deutlich, daß aus der gesellschaftlichen Polarität der Geschlechter u.a. auch die Produktionsweisen und -funktionen zu geschlechtsspezifischen Gegensätzen stilisiert wurden, in dem z.B. die Frauen für die Weberei zuständig waren, die zumeist in der Zeit dunklen und trüben Wetters vonstatten ging, und die Männer für den Landbau, welcher selbstverständlich auf die Jahreszeiten sonnigen und warmen Wetters angewiesen war.

Es überrascht deshalb sicherlich auch nicht die Gleichsetzung von YANG mit der Gemütsverfassung von Menschen bei hellem und klarem Wetter und YIN mit der Gemütsverfassung bei trübem und dunklem Wetter. YANG als hell, klar, männlich, im Gegensatz zu YIN als dunkel, diffus und weiblich zu verstehen, sind dann nur noch vereinfachte und vereinfachende Ableitungen der vielschichtigen Entwicklungszusammenhänge des Gegensatzpaares YIN und YANG, dessen grundlegende Ordnungsfunktion in dem Ausgleich und der unlösbaren Verbindung sich ausschließender Kräfte gipfelt.



Es scheint mir an dieser Stelle sehr wichtig zu sein, daß das grundlegende Konzept, unvereinbare Widersprüche und Gegensätze bzw. Unabsehbarkeiten zu erkennen und zu bewältigen, derart grundsätzlicher Ordnungsbegriffe bedarf wie das YIN und YANG sie darstellen. Daß die Ordnung als oberstes Gebot menschlichen Denkens und menschlicher Erkenntnis sowohl in der chinesischen Philosophie wie auch in derjenigen unseres Kulturkreises jedem weiteren Schritt der Erkenntnis zugrunde liegt, mögen die beiden folgenden Zitate belegen :

Später gaben sich die Philosophen mit dieser Sicht der Schöpfung jedoch nicht zufrieden. Chen Yi und Chu Hsi aus dem elften und zwölften Jahrhundert glaubten, hinter dem Materialismus des Ch'i müsse es noch ein letztes Prinzip geben, welches seinen schöpferischen Charakter bestimmt. Dieses Prinzip bezeichneten sie als Li.
Chu Hsi sagt: "Die Schöpfung des Menschen hängt einfach ab von der Vereinigung des Prinzips mit dem Äther. Wahrlich, das Himmlische Prinzip (T'ien Li) ist endlos und unerschöpflich. Alles menschliche Vermögen der Sprache, Bewegung, des Denkens und Handelns stammt allein vom Äther her. Und doch ist diesem Äther das Prinzip inhärent." Li ist die formale Ursache, Ch'i die materielle Ursache. In der metaphysischen Welt, jenseits von Substanz, ist Li oder Prinzip. Alle Dinge, der Mensch eingeschlossen, müssen im Augenblick ihrer Schöpfung Li empfangen, um ihr einzigartiges Wesen zu begründen.
Die Welt des Prinzips ist endlos und rein, aber leer. Sie ist in sich selbst gestalt- und formlos, obwohl sie alle Form hervorbringt. Sie ist ohne Wille oder Macht. Nur in Verbindung mit der materiellen Welt des Ch'i manifestiert sie sich in der Welt der Sinne. Prinzip ist ewig und transzendiert Zeit und Raum. Baut man ein Haus, so wird es aus substantiellen Gegenständen zusammengesetzt, aus Ziegeln, Holz und Mörtel. Aber es muß einen Plan geben, der diese Substanzen zu einem sinnvollen Ganzen versammelt. Das Material ist Ch'i, der Plan ist Li. Wenn das Haus dem Plan entsprechend gebaut ist, dann manifestiert es Li in seiner konkreten Form.
Prinzip besteht vor seiner Objektivierung. Bevor der Wagen oder das Schiff existieren, besteht also schon das Prinzip ihres Seins. Erfindung ist damit nichts anderes als die Entdeckung eines bereits bestehenden Prinzips. Die geschaffene Aktualität muß dem Prinzip entsprechen. Sie wird damit zu der physischen Verkörperung der ewigen Idee. Für jede Möglichkeit, die tatsächlich besteht, muß es ein ewiges Konzept in der Welt des Prinzips geben. Die Welt des Prinzips selbst ist deshalb vollständig und vollkommen.
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Ordnung (...) benennt eine Konfiguration von Teilen, die jedem ihrer Bestandteile seine (Ordnungs-)Stelle anweist. [...]
Ordnung ist ein Fundamentalbegriff, dessen Klärung ordnungsgemäß sein, d.h. ihn selbst voraussetzen muß. Er bezeichnet nicht bloß eine Eigenschaft oder einen Zustand von Wirklichem unter anderen Eigenschaften oder Zuständen, wie wenn wir von einer geordneten Landschaft oder einem ordentlichen Stück Arbeit sprechen, sondern darüber hinaus eine Bedingung der Möglichkeit: ohne Ordnung gibt es weder Landschaft noch Arbeit. In Allgemeinheit ausgedrückt: eine ordnungslose Wirklichkeit ist undenkbar, es sei denn unter der Form von Grenzbegriffen wie Chaos oder Tohuwabohu. Gleichermaßen kann Erkenntnis nicht ohne Ordnung sein, und zwar in doppeltem Sinn: sie ist ordnungsbezogen einmal, weil sie ordnungsmäßig verfahren, d.h. sich einer Methode bedienen muß, und ferner, weil sie dazu bestimmt ist, die Ordnung der zu erkennenden Gegenstände ans Licht zu bringen.
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Dem harmoniebedürftigen Allgemeinverständnis entsprechend finden wir in der Literatur, die sich mit dem Thema YIN und YANG beschäftigt, auch immer wieder die unverkennbare Priorität des Ausgleichs bzw. Einklangs:

Wenn die beiden Kräfte in vollkommenem Gleichgewicht wirken, so wird eine Einheit erreicht, die in sich selbst eine Kraft ist und von einer kontrollierten Kraft gesteuert wird. Andererseits haben Unausgeglichenheit und Disharmonie keine Kraft, sondern fallen in sich zusammen. Alles, was außerhalb der Harmonie steht, was falsch oder unausgeglichen ist, sei es physisch, psychisch oder geistig, sei es im Individuum oder in der Welt im allgemeinen, muß als ein Versagen oder eine Störung des Gleichgewichts der YIN-YANG-Kräfte betrachtet werden. Dies gilt nicht nur für menschliche Wesen, sondern für jegliches Leben, was die Erhaltung der Gesundheit und des Wohlergehens betrifft. "Wenn das Gleichgewicht des Positiven und des Negativen gestört ist ... leidet der Mensch selbst körperlich darunter." Darum wurden im alten China die Ärzte dafür bezahlt, daß sie dieses Gleichgewicht aufrechterhielten, und zu einer Geldstrafe verurteilt, wenn ihre Patienten krank wurden, da man dies als ein Versagen des Arztes betrachtete.
Die zwei großen Kräfte können, wenn sie in der Welt wirken, sowohl wohltätig als auch feindselig sein, je nach dem Verhalten des Individuums oder des Staates, die das Gleichgewicht stören oder erhalten.
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Allein die Methode, Gegensätze zu einem unauflöslichen Ganzen zusammenzuschweißen, - und damit haben wir es bei dem YIN- und YANG-Konzept eigentlich zu tun -, deutet auf nichts anderes als auf eine Anpassung an die Wirkung sämtlicher dahinterstehender Kräfte hin.

Der König Tsch'êng, 1115-1078 v. Chr., sprach: "Ich setze den Großmeister, den Großassistenten und den Großkurator ein. Dies sind die drei Staatssekretäre. Sie diskutieren die Prinzipien, sorgen für die Länder und bringen Yin und Yang in Einklang. Der Jungmeister, Jungassistent und Jungkurator heißen die drei Unterstaatssekretäre. Sie helfen den Staatssekretären in der Verbreitung der zivilisatorischen Einflüsse und unterstützen ehrfurchtsvoll Himmel und Erde." Der zu dieser Stelle von Legge zitierte Kommentar Wang Kêng-yen bemerkt hierzu: "Das In-Einklang-Bringen von Yin und Yang bedeutet nicht eine besondere Methode, sondern lediglich die Regelung der menschlichen Dinge so, daß jeder erhält, was ihm zukommt, denn dann entsprechen die Kräfte von Himmel und Erde dem von selbst."
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Gegensätze definieren ursprünglich Unvereinbarkeiten und stehen stellvertretend für Probleme und Schwierigkeiten, denen der Mensch sich ununterbrochen ausgesetzt sieht. Fügt der Mensch - verstanden als eine Position eines möglichen Gegensatzes - beides zu einem Ganzen zusammen, so kann dies nur heißen, daß er sich, zugunsten einer schnellen Antwort, die sich dem Gegensatz nicht stellt, an denselben anpaßt. Harmonisierung oder Gleichklang wäre eine positive Bezeichnung dafür - woher allerdings die darin enthaltene oder daraus resultierende Ordnung stammt, eine ernste und kritische Frage. Jede Ordnung, auch die der Vereinigung von YIN und YANG, muß sich an der Realisierbarkeit ihres Anspruchs messen lassen. Ist dieser Anspruch nur theoretisch existent, aber praktisch nicht erfüllbar, so degradiert sich diese Ordnung vornehmlich zu einer bloßen Anpassung an und Reaktion auf jene Kräfte, die es vorgab, zu bewältigen.

Geht man einmal davon aus, daß ein Ordnungsbegriff an seinem Versprechen zu messen sein muß, so bleiben die Erwartungen, die an einen esoterisch-exotischen Universalschlüssel mit dem Namen YIN und YANG gestellt werden, angesichts der Unmöglichkeit, sie seinem Eigenanspruch adäquat zu verwirklichen, unerfüllbar. YIN und YANG als Bestandteil menschlicher Denkkonzepte zu verwerfen oder als unbrauchbar zu erklären, wäre dabei weniger die Schlußfolgerung als von einer unnötigen Überlastung des YIN und YANG mit fortwährenden metaphysischen Zirkelschlüssen Abstand zu nehmen.

In der nächsten Ausgabe bemühen wir uns um eine Vertiefung dieses Themas hinsichtlich der Geschichte wie auch des aktuellen Verständnisses von YIN und YANG. Dabei sind jetzt schon Entdeckungen von Denkweisen vorauszusagen, die im chinesischen Kulturkreis ebenso wie in unserem - unter Verzicht auf Polaritätskonzepte und ihre harmonistischen Konsequenzen - den Problemen und Fragestellungen menschlicher Existenz entgegentreten.


Anmerkungen
  (1)  J.C. Cooper, Der Weg des Tao, O.W. Barth Verlag, 1977, S. 40
  (2)  zitiert nach Marcel Granet, Das chinesische Denken, dtv, 1963, S. 92
  (3)  Lao-tse, Tao-Tê-King, Reclam, 1961, Kapitel 42
  (4)  zitiert nach Marcel Granet, a. a. O., S. 93
  (5)  aus Alfred Forke, Geschichte der alten chinesischen Philosophie, Cram, de Gruyter & Co., 1964, S. 48
  (6)  Marcel Granet, a. a. O., S. 103-107
  (7)  Chang Chuang-Yuan, Tao, Zen und schöpferische Kraft, Eugen Diederichs Verlag, 1975, S. 58
  (8)  Helmut Kuhn, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Kösel-Verlag, 1973, S. 1037
  (9)  J.C. Cooper, a. a. O., S. 50 u. 51
(10)  aus Alfred Forke, a. a. O., S. 47



Erstveröffentlicht in MARTIAL ARTS Nr. 4, April/Mai 1984
Magazin für Kampfkunst und Philosophie
Herausgeber: MA-Verlag
E-Mail:ma-verlag@gmx.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2007