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ANALYSE & KRITIK/273: Gaza - Kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung


ak - analyse & kritik - Ausgabe 535, 16.01.2009

Kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung

Tsafrir Cohen über die Situation in Gaza vor und nach Kriegsbeginn


Tsafrir Cohen, geboren 1966, aufgewachsen in Israel und Kanada, lebt seit 1986 in Berlin. Er ist dort publizistisch und im Kulturbereich tätig, u.a. als Gründer des Jewish Film Festival. Seit 2007 arbeitet er als Repräsentant von medico international für Palästina und Israel in Jerusalem. Zur Situation in Gaza vor und nach Kriegsbeginn, zu den Problemen humanitärer Arbeit vor Ort und den Perspektiven der Konfliktlösung befragte ihn Js.


ak: Schon vor den israelischen Angriffen auf Gaza war eine Eskalation absehbar. Welche Anzeichen gab es dafür?

Tsafrir Cohen: Letztes Jahr bei der Annapolis-Konferenz sollte der israelisch-palästinensische Friedensprozess wieder in Gang gebracht werden, und die folgende Pariser Geberkonferenz hat viel Geld zur Unterstützung dieses Prozesses generiert. Die sich schon damals verschärfende Krise in Gaza wurde nur am Rande erwähnt, und die Isolierung Gazas bei gleichzeitiger Aufpeppung gewisser Teile des Westjordanlands wurde zum unangefochtenen - und verheerenden - Ansatz der internationalen Gemeinschaft. Israel zog sich vor eineinhalb Jahren scheinbar aus dem Gazastreifen zurück, es kontrolliert aber nach wie vor alle Grenzen - zu Land, zu Wasser und in der Luft. Durch die anderthalbjährige Komplettabriegelung wurde bewusst eine humanitäre Krise heraufbeschworen.

Der geläufige Narrativ besagt, dass Gaza einen Sonderfall darstelle, da die Hamas dort herrsche. Schaut man sich die Geschichte des Gazastreifens genauer an, so kann man leicht feststellen, dass die Probleme hier lange vor der Machtübernahme der Hamas entstanden sind. Schon in den 1990er Jahren begann die Isolierung des Gazastreifens, einer verarmten und dicht besiedelten Enklave.

Die Lage in Gaza mag verfahren sein, und mit der dort herrschenden Hamas möchte keiner reden. Doch Gaza ist kein Sonderfall, sondern Modell und Versuchsfeld für ein Enklavensystem, das auch im Westjordanland und damit für ganz Palästina gelten soll. Die Idee eines Enklavensystems entstand, weil es israelischen Politikern dämmerte, dass die Besatzung angesichts internationalen Drucks und einer absehbaren palästinensischen Mehrheit - was im israelischen Diskurs die "demographische Bombe" genannt wird - nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Das Enklavensystem soll Israel aus diesem Dilemma befreien: Israel entzieht sich der im internationalen Recht verankerten Verantwortung für die unter Besatzung stehende Bevölkerung, behält jedoch die völlige Kontrolle über sie und verhindert jedwede geografische, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Kohäsion des palästinensischen Volkes.

In diesem Zusammenhang verfolgt Israel einen Gaza-zuerst-Ansatz. Hier konnte es experimentieren und feststellen, wie weit es gehen kann. Und tatsächlich, Israel verfügt Kollektivstrafen über eine Zivilbevölkerung mit tödlichen Folgen, bricht offen internationales Recht, und die internationale Gemeinschaft protestiert kaum. Die Weiterdrehung der Gewaltspirale musste also kommen - mit oder ohne Hamas.

ak: Medico international hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Situation für die Menschen in Gaza, gerade auch was die medizinische Versorgung angeht, schon vor dem Krieg dramatisch war. Welche Auswirkungen hatte die Blockade?

Tsafrir Cohen: Die Wirtschaft Gazas funktionierte in 40 Jahren Besatzung wie eine Kolonialwirtschaft: Sie lieferte billige Arbeitskräfte an die israelische Metropole, war komplett von ihr abhängig und erfuhr kaum Entwicklung. Diese völlig abhängige Wirtschaft musste plötzlich mit einer Blockade zurechtkommen, die um einiges strenger ist als die von Westberlin 1948/49: Auf einer etwa gleichgroßen Fläche werden fast so viele Menschen eingesperrt. Nur: Hier gibt es weder "Rosinenbomber" noch eine Transitstrecke, der Einschluss ist total, und statt mehreren Tausend Materialien durften nur noch zwölf eingeführt werden.

Die Folgen waren und sind dramatisch: Medizinische Operationsräume konnten nicht mehr steril gehalten und mussten nacheinander geschlossen werden, die Benzinknappheit verhinderte den Einsatz von Ambulanzen, Dialysemaschinen fielen aus. Auch weitere Voraussetzungen für ein gesundes, menschenwürdiges Leben - sauberes Wasser, Abwasser, ausgeglichene Nahrung und Hygiene - verschlechterten sich zunehmend. Eine Drosselung der Stromzufuhr führte dazu, dass die Generatoren für die Wasserpumpen immer häufiger ausfielen, das Abwasser wurde ungeklärt ins Meer geleitet. Der durchschnittliche Bewohner musste mit immer weniger Geld, zuletzt ca. 1 Euro pro Tag auskommen.

Die desolate Situation machte eine Ausreise für immer mehr medizinische Behandlungen notwendig, doch Israel verhinderte die Ausreise vieler PatientInnen, und als direkte Folge sind innerhalb kurzer Zeit Dutzende Herz- oder Krebskranke gestorben. Reisegenehmigungen wurden nämlich nur dann erteilt, wenn die Maßnahme als "lebensrettend" definiert wurde. Was "lebensrettend" bedeutet, veranschaulichen folgende Fälle: Mehreren jungen Männern, denen von der Hamas ins Bein geschossen wurden, und einem Patienten mit einer Augenkrankheit wurde die Ausreise verweigert, da nicht ihr Leben in Gefahr war, sondern nur ihre "Lebensqualität". Dies führte notwendig - und das nahmen Behörden wie Oberstes Gericht billigend in Kauf - zu Beinamputationen bzw. zur Erblindung.

Dieser von Menschenhand gemachte Tsunami stärkte nicht nur extremistische Kräfte, sondern führte auch zur Zersetzung der dortigen Zivilgesellschaft.

ak: Trotzdem wird in Gaza wichtige humanitäre Hilfe geleistet. Unter welchen Bedingungen arbeiten die Partnerorganisationen von medico international vor Ort?

Tsafrir Cohen: Nehmen wir etwa unsere palästinensische Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Ihre MitarbeiterInnen und zahlreiche Freiwillige arbeiten rund um die Uhr in drei Schichten. Sie versorgen Verwundete, bringen sie in die Krankenhäuser. SozialarbeiterInnen betreuen die Angehörigen der vielen Toten und Verletzten. Zwei Teams, die ansonsten eine besonders benachteiligte Bevölkerung mit Grundgesundheitsdiensten durch mobile Kliniken versorgen, wo es keinen Zugang zu medizinischer Versorgung gibt, bringen Verletzte in die Krankenhäuser. Da die regulären Krankenhäuser aufgrund der vielen Verwundeten derzeit chronisch Kranke, HerzpatientInnen oder Schwangere abweisen müssen, übernehmen die Tageskliniken der PMRS außerdem deren Versorgung provisorisch. Auch Verwundete, die nicht lebensgefährlich verletzt wurden, können nicht mehr in den Krankenhäusern aufgenommen werden. In den Tageskliniken der PMRS werden diese provisorisch versorgt, doch da diese Kliniken keine Betten haben, müssen die Verwundeten dann nach Hause gehen - ohne medizinische Aufsicht. MitarbeiterInnen der PMRS bilden außerdem derzeit 150 Freiwillige in Erster Hilfe aus und verteilen in den unterversorgten Gebieten medizinische Notfall-Päckchen mit Medikamenten und Verbandsmaterial. Das tun sie unter großem persönlichem Druck - es gibt auch für ihre Familien keinen sicheren Ort, sie selber können jederzeit von einer Bombe getroffen werden.

ak: Medico sammelt Spenden für die notleidenden Menschen in Gaza. Das ist sicherlich notwendig, andererseits aber auch nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Wie frustrierend ist die Arbeit einer humanitären Hilfsorganisation angesichts einer Situation, in der wenig bis gar nichts auf eine Lösung des Konflikts hindeutet?

Tsafrir Cohen: Die Arbeit ist frustrierend, weil wir Dienste leisten, die nach internationalem Recht von Israel als Besatzungsmacht geleistet werden sollten. Es ist frustrierend, weil immer mehr PalästinenserInnen nach 15 Jahren Verhandlungen bei gleichzeitigem Niedergang in all ihren Lebensbereichen nicht mehr an eine friedliche Lösung glauben. Die palästinensischen Politiker, die für eine friedliche Lösung eintreten, sind desavouiert, da sie keine Ergebnisse vorzeigen können - im Gegenteil. Es ist frustrierend, weil wir lediglich die Auswirkungen der verheerenden israelischen Besatzungspolitik abmildern können. Etwa im Dorf Jiftlik im Jordantal. Dort erlaubt es die israelische Administration seit Jahren grundsätzlich nicht, Infrastruktur aufzubauen. Das Dorf mit 4.200 EinwohnerInnen hat keinen Strom, kein Wassersystem, keine kommunalen Gebäude. Die Menschen leben dort in Lehmhütten. Deshalb suchen wir nach Wegen, die Bevölkerung dort zu stärken. Damit helfen wir ihnen, sich nicht durch die israelische Politik in die für sie vorgesehenen, dicht bevölkerten Enklaven um die Städte verdrängen zu lassen. Das ist auch befriedigend, da diese Menschen sehr zäh sind und unter ihnen ganz tolle Menschen - etwa Frauenkomitees - sehr solidarisch agieren. Es ist auch befriedigend, mit jungen, motivierten Menschen zu arbeiten - Israelis wie PalästinenserInnen. Im Flüchtlingslager Jenin etwa arbeiten im Freiheitstheater, das wir unterstützen, Juden und PalästinenserInnen zusammen. Dies in einem Ort, der als "Terrornest Nr. 1" beschrieben wird. Es geht also doch.

ak: Seit Kriegsbeginn wachsen auch die Widersprüche unter den jüdischen Israelis. Am 3. Januar wurden FriedensdemonstrantInnen in Tel Aviv von rechten Hardlinern attackiert. Werden KriegsgegnerInnen von der Mitte der Gesellschaft eher als "Verräter" oder als naive Spinner gesehen?

Tsafrir Cohen: Der Hurra-Patriotismus hat wie immer in Kriegszeiten auch die gemäßigte Linke erfasst. Zur Zeit erzählen unsere Partner, dass sie völlig isoliert sind. Sie werden - wie auch in vielen westlichen Webseiten und Zeitungen - mittlerweile als Antisemiten und jüdische Selbsthasser beschimpft. Es genügt schon, wenn sie auf die Genfer Konventionen verweisen. Dabei sind diese und das Internationale Menschenrecht die Antwort der Weltgemeinschaft auf die Schrecken der Nationalsozialisten gewesen. Unser Partner Zochrot, der sich zur Aufgabe gemacht hat, die Nakba - sprich Flucht und Vertreibung der PalästinenserInnen im Jahr 1948 - in den israelischen Diskurs einzuführen, hat binnen 36 Stunden zusammen mit anderen radikalen politischen Kunstzeitschriften eine Zeitschrift gegen den Krieg herausgebracht. Jüdische Israelis können immerhin frei protestieren. Von den ca. 1,4 Millionen arabischen Israelis dagegen wurden viele, die gegen den Krieg protestieren wollten, vorbeugend festgenommen: Hunderte wurden von der Polizei vernommen und bedroht. Hier sieht man die Rückwirkungen der Trennungspolitik, die den Anderen nur noch als Sicherheitsrisiko betrachtet. Der Andere ist der Nichtjude, für ihn gelten andere Gesetze, und er soll ausgesperrt und kontrolliert werden.

ak: Trotz aller Schrecken - gilt für dich das Prinzip "paradoxe Hoffnung" (1) auch weiterhin?

Tsafrir Cohen: Natürlich. In beiden Völker gibt es Kräfte, die für ein solidarisches Miteinander kämpfen. Diese gilt es zu stärken, auch angesichts der furchtbaren Nachrichten aus Gaza. Allerdings sind diese Kräfte vor allem in Israel isoliert und schwach. Eine Mehrheit in beiden Ländern möchte Frieden. Die israelische Polit-Elite hat jedoch kein Interesse daran und sieht keine Notwendigkeit, einen Konflikt mit der israelischen Rechten zu riskieren. Der politische Preis hierfür ist ihr zu hoch. Zumal der Druck aus dem Ausland äußerst gering ist. Die Bundesrepublik Deutschland - gegen die in der EU nichts laufen kann - und die USA üben aus unterschiedlichen Gründen keinen Druck aus und stellen den Israelis eine Blanko-Vollmacht aus. Den Israelis geht es derweil gut, die Beziehungen mit der EU sind doch gerade aufgewertet worden, die Wirtschaft leidet nicht unter der Trennungspolitik.

Die für ein solidarisches Miteinander eintretenden Kräfte, die wir unterstützen, sind nicht stark genug. Unsere Hoffnung wird nur dann nicht mehr paradox sein, wenn sich die Weltgemeinschaft dazu entschließt, auf Israel tatsächlichen Druck auszuüben, die Siedlungen in der Westbank komplett zurückzubauen und das Enklavensystem zugunsten eines Palästinenserstaats auf allen besetzten Gebieten aufzugeben. Ansonsten wird sich die jetzige Situation nicht ändern: Wir haben hier seit über 40 Jahren einen Staat, in dem - entlang ethnischer Herkunft - manche Menschen alle Rechte genießen, andere aber rechtlos in dicht besiedelten, wirtschaftlich von ausländischer Hilfe abhängigen Enklaven leben.

Und was speziell Gaza angeht: Dieser geschundene Fleck Erde hat nur dann eine Zukunft, wenn er Teil eines palästinensischen Staats ist, sprich zusammen mit der viel größeren und wohlhabenderen Westbank - inklusive Ostjerusalem, in der sich auch die palästinensischen Referenzkrankenhäuser befinden, als Hauptstadt - eine Einheit bildet. Dafür müsste Israel aber seine Siedlungen dort zurückbauen. Solange es dazu nicht bereit ist, wird sich die Spirale der Gewalt weiterdrehen - mit oder ohne Hamas.


Anmerkung:
1) siehe hierzu Tsafrir Cohens "Jerusalem-Blog" auf der Webseite von medico international:
www.medico.de


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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2009