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ANALYSE & KRITIK/307: Konflikte und Organisierung in der häuslichen Assistenz- und Pflegearbeit


ak - analyse & kritik - Ausgabe 540, 19.06.2009

Scheiß-Streik gegen unhaltbare Zustände
Konflikte und Organisierung in der häuslichen Assistenz- und Pflegearbeit

Von Iris Nowak


Tippt man das Wort Scheiße, so denkt man, man hat sich (zumindest für das Verfassen eines Zeitungsartikels) im Ton vergriffen. Obwohl die Materie, die mit dem Begriff umschrieben wird, jedem von uns aus dem Alltag bekannt ist, umgibt sie zugleich ein gesellschaftliches Tabu. Da es Menschen gibt, die - aufgrund von körperlichen und anderen Einschränkungen - mit ihrer Scheiße nicht alleine klarkommen, gibt es andere Menschen, die sie unterstützen. Meist sind es weibliche Angehörige. Aber es gibt auch eine wachsende Zahl von bezahlten Arbeitenden in diesem Bereich. Im Rahmen eines bundesweiten Scheiß-Streiks benutzen Letztere jetzt die tabuisierte Materie Scheiße, um auf ihre miserablen Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen.

Den Umgang mit Scheiße als individuelle Tätigkeit zu betrachten, funktioniert nur, solange man gesund ist und geistig fit. Wo dies nicht gegeben ist, muss man für sich oder nahestehende Personen die Entscheidung treffen, wie ein würdiges Leben dennoch zu organisieren ist. Den meisten Menschen begegnet diese Frage mit zunehmendem Alter, wenn sie selbst oder Eltern, Tanten, Freunde oder GenossInnen zum Pflegefall werden. Für eine große Zahl von sogenannten Behinderten stellt sie sich ein Leben lang.

Es gab in den sozialen Bewegungen ab den 1970er Jahren einige Antworten darauf, wie dieses würdige Leben möglich sein könnte. Die Wurzeln der Tätigkeiten von persönlichen AssistentInnen für Behinderte liegen in der Krüppelbewegung und dem dort formulierten Anspruch, körperbehinderten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Durch persönliche Assistenz sollte ein Leben fern von Heimregeln, institutionellen Zeitrhythmen und pädagogisierenden Zugriffen möglich werden. Dazu gehörte auch das Prinzip, dass möglichst Ungelernte die persönliche Assistenz zur Verfügung stellen.


Persönliche Assistenz als Dienstleistung

Mittlerweile durchlief diese Ansprüche und die dazu entwickelten Praxen eine Vielzahl von Institutionalisierungen und staatlichen Regulierungen. Es gibt Träger, die die Vermittlung und organisatorische Abwicklung von persönlicher Assistenz als Dienstleistung anbieten. Gesetzliche Regelungen schreiben den Anspruch von Behinderten fest. Staatlicherseits wird die Forderung nach Autonomie mittlerweile aufgegriffen, z.B. indem Behinderten ein persönliches Budget direkt ausgezahlt wird. (vgl. ak 523) Doch wie bei allen Formen der neoliberalen Umsetzung von Autonomie-Forderungen geht diese auch in diesem Falle mit ausgeprägter Mittelknappheit einher. Leidtragende sind die, die in der persönlichen Assistenz arbeiten.

Ausgangspunkt ihrer Organisierung, die aktuell im Scheiß-Streik am sichtbarsten geworden ist, sind Auseinandersetzungen innerhalb eines Projekts, das seine Wurzeln in den eben beschriebenen Krüppelbewegungen hat. Der Berliner Verein Ambulante Dienste e.V. wollte den Lohn für NeuanfängerInnen heruntersetzen. Die Begründung: Während in den letzten Jahrzehnten vor allem Studierende im Verein tätig waren (womit Sozialversicherung eingespart werden konnten), stehen diese heute immer weniger zur Verfügung, weil sich Zeit- und Leistungsdruck während des Studiums erhöht haben. Dass diese - privilegierten - Prekären verschwinden, während gleichzeitig weder der Berliner Senat noch der Bund mehr Geld für Assistenzarbeit zur Verfügung stellt, sollte in dem Verein ausgeglichen werden, indem zukünftig Beschäftigte weniger Geld bekommen müssen. Andere Formen der Einsparung (z.B. eine gleiche Lohnkürzung für alle) waren zuvor von den Beschäftigten zurückgewiesen worden.

Nun arbeiten konkret in diesem Träger viele Linke bzw. politisch Bewegte. Sie brachten eine größere persönliche Erfahrung mit politischen Diskussionen und Aktionen mit, als dies bei Pflegekräften für gewöhnlich der Fall ist. Neben dem Betriebsrat, den es - für diese Branche eher ungewöhnlich - bereits seit 2005 gibt, gründete sich auch eine Aktionsgruppe. Die Beschäftigten verweigerten sich, die neuen Billigarbeitskräfte einzuarbeiten. Sie versuchten, mit ihrem Arbeitgeber zu verhandeln. Als dies scheiterte, besetzten sie das Büro, z.T. auch mit Unterstützung der Behinderten, für die sie arbeiten.

In den seither in Gang gekommenen Aktivitäten kommt zum Ausdruck, dass das Problem nicht allein bei diesem konkreten Arbeitgeber zu suchen ist bzw. darin liegt, dass dieser Arbeitgeber sich (wie die meisten anderen auch) nicht in die politische Auseinandersetzung um seine finanzielle Basis einmischt. Nicht zuletzt der Scheiß-Streik artikuliert die desolaten Zustände im Bereich von ambulanten Betreuungsverhältnissen als eine Frage nach gesamtgesellschaftlicher Pflegepolitik.

Desolat sind diese Zustände in zweierlei Hinsicht: zum einen im Hinblick auf die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitenden. Die Stundenlöhne sind niedrig; viele haben daher mehrere Jobs. Auch die Schichtdienste stellen ein Problem dar, wenngleich für Menschen, die im Pflegebereich tätig sein wollen oder müssen, die ambulanten Dienste gegenüber den Tätigkeiten in Pflegeheimen oft die bessere Alternative darstellen. Desolat sind die Zustände in häuslicher Sorgearbeit auch im Hinblick darauf, wie die dort Arbeitenden ihre Interessen äußern und in Konflikten vertreten.

Der Scheiß-Streik versucht, hierauf eine Antwort zu finden. Der Aktionsraum dieses Streiks lief von Ende April bis Ende Mai. Aufgefordert, sich am "ersten Online- und Versende-Streik" zu beteiligen, waren alle, die in irgendeiner Weise in der häuslichen Pflege oder in der persönlichen Assistenz für Behinderte tätig sind. Mitmachen hieß, ein Kotröhrchen zu kaufen, es zu befüllen und es an konkrete Mitglieder jenes "einzigartigen Interessenskartells" (1) zu verschicken, das für Lohndumping und Zeitdruck in diesem Bereich verantwortlich ist.

Wer zu diesem Kartell gehört und eine Sendung erhalten sollte, konnte jedeR Streikende selbst entscheiden. Alternativ dazu konnte man sich von einer Liste möglicher Adressaten auf der Website der Aktion inspirieren lassen, die von Pflegediensten über politische EntscheidungsträgerInnen bis hin zu Zeitarbeitsfirmen und Pflegeagenturen reichte. Wer etwas verschickte, sollte online - bei Wahrung der eigenen Anonymität - dokumentieren, wohin die Sendung ging und aus welchen Gründen der Adressat ausgewählt worden war.

Durch die Aktion wollten Beschäftigte aus diesem Bereich sich und ihren KollegInnen die Möglichkeit geben, den "Scheiß, den wir täglich wegmachen", an die Personen oder Institutionen zurückzugeben, die "für die immer beschisseneren Arbeitsbedingungen verantwortlich sind" und für die Arbeitenden die "Tage zu Scheißtagen" machen.


Erster Online- und Versende-Streik

Die vielen Wortspiele mit dem Begriff Scheiße an dieser Stelle sollen nicht täuschen. Mit der Aktion geht es um mehr als darum, Aufsehen zu erregen, indem man öffentlich mit diesem stinkenden Abfallprodukt menschlicher Existenz hantiert. Dessen Tabuisierung steht in Wechselwirkung mit der Produktion eines Bereiches von Privatheit und Intimität, in den diese Gesellschaft all jene Aktivitäten rund um den menschlichen Körper verbannt, die sich nicht als Sensation darstellen oder vermarkten lassen. Es mag sein, dass sich für Außenstehende die Rede über Scheiße als Provokation liest - der Kontext des Streiks macht deutlich, dass die Auseinandersetzung mit ihr für die vielen Beschäftigten im Bereich von Pflege/Assistenz täglicher Arbeitsgegenstand ist. Der Scheiß-Streik bringt menschliche Tätigkeiten ans Licht der Öffentlichkeit, die für gewöhnlich hinter den Grenzen dieses Privaten verschwinden.

Die Form der Online-Aktion versucht zugleich eine Antwort auf die spezifischen Arbeitsbedingungen zu finden, die aus dem Arbeitsort Privathaushalt erwachsen: Die Beschäftigten sind bei dieser Tätigkeit stets auf sich gestellt, ihren Alltag verbringen sie ohne Austausch oder gemeinsame Erfahrungen mit KollegInnen, die in derselben Situation sind wie sie. Stattdessen stehen sie in großer Nähe zu jenen, für die sie diese Tätigkeit verrichten. Selbst wenn es sehr viele Angestellte gibt, die für denselben Arbeitgeber arbeiten (und die somit einen gemeinsamen Adressaten für ihre konkreten Forderungen hätten), begegnen sich diese nur selten.

Insofern werfen die Arbeits- und Organisierungsbedingungen in der häuslichen Pflege/Assistenz zukunftsweisende Fragestellungen für kollektive Organisierung von Lohnarbeitenden auf, die auch in vielen anderen Bereichen relevant sind. Traditionelle Konzepte zur Interessenvertretung setzen meist den einen großen Ort voraus, an dem die Arbeitenden massenhaft zusammenkommen, um ihr Tagewerk zu leisten. Dass politische Strategien der Arbeiterbewegung bzw. Gewerkschaften lange von diesen Vorstellungen über männliche Industriearbeit ausgingen und sich - implizit - auch heute noch gern auf sie konzentrieren, macht einen Teil der Krise von Gewerkschaften, aber auch von linker Organisierung allgemein aus.

Natürlich ist eine Online- und Versende-Aktion, bei der sich Menschen zwar auf einer gemeinsamen Plattform öffentlich äußern, aber letztlich ihren Alltag weiterhin vereinzelt durchleben, keine ausreichende Antwort auf diese Bedingungen. Der Scheiß-Streik ist eingelassen in etliche Versuche, eine längerfristige bundesweite Zusammenarbeit zwischen Beschäftigten in der persönlichen Assistenz und in der ambulanten Pflege aufzubauen. Im Dezember des letzten Jahres gab es ein erstes Treffen von Betriebsräten und Beschäftigten aus diesem Bereich. Gegründet wurde dort der Arbeitskreis Unabhängige Arbeitnehmervertretungen in der persönlichen Assistenz (UAPA), der sich als "berufspolitische Initiative" versteht.

In einigen Orten geht seither die Zusammenarbeit weiter, was sich beispielsweise durch die Beteiligungen an Euromayday-Paraden ausdrückte. Gewerkschaftliche Beteiligung an diesen Organisierungsansätzen begann erst einmal zaghaft, nimmt aber langsam zu. Nicht zuletzt über informelle Kontakte fließen Organizing- und andere Diskussionen in den Kontext der UAPA ein.


Zukunftsweisender Organisierungsansatz

Der "Scheiß-Streik" dient gegenwärtig als eine weitere Plattform zur Zusammenarbeit, die mit Abschluss der Aktionsphase nicht etwa in der Versenkung verschwindet. Ab Juli 2009 sollen dessen Ergebnisse in einer Multi-Media-Installation als Reiseausstellung in Galerien, Gewerkschaftsräumen und anderen passenden Orten gezeigt werden.

Für den Berliner Kontext sehen die Beteiligten die Aktion als einen Auftakt für die Neuverhandlungen der Vergütungssätze im Bereich persönliche Assistenz, die zwischen öffentlichen Kostenträgern und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband als Interessenvertretung der Arbeitgeber im nächsten Jahr laufen werden. Bleibt zu hoffen, dass diese Aktivitäten und Vernetzungen nicht nur in die Aushandlung von Bedingungen in der persönlichen Assistenz in andere Bundesländer ausstrahlen.

Auch im Bereich der Altenpflege werden Verhandlungen über Pflegesätze bisher lediglich von den Trägern geführt, ohne explizite Interessenvertretung der Beschäftigten, obschon die Pflegesätze die Grundlage für deren Löhne sind. Unter dem Slogan "Altenpflege in Bewegung" versucht ver.di dieses Jahr, an diesen Zuständen zu rütteln und die traditionell als eher schwer organisierbar geltenden Altenpflegekräfte in Austausch und Bewegung zu bringen. Vielleicht können die im Kontext des Scheiß-Streiks entwickelten Inhalte und Formen hier inspirierend wirken.


Anmerkung:
1) Diese und die folgenden Zitate sind dem Flyer zur Aktion entnommen. Dies, die Dokumentation der Versendeaktion und auch viele Hintergrundinformationen zum Thema häusliche Pflege/Assistenz und auch zur UAPA finden sich unter www.jenseits-des-helfersyndroms.de


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 540, 19.06.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2009