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ANALYSE & KRITIK/414: Der Rassismus geht von oben aus


ak - analyse & kritik - Ausgabe 555, 19.11.2010

Der Rassismus geht von oben aus
Jacques Rancière zu Staatsrassismus und Universalismus

Von Jacques Rancière
Übersetzung: Christian Winterhalter


Der französische Philosoph Jacques Rancière hat im September 2010 in Montreuil auf einer Konferenz zu den Abschiebungen von Roma aus Frankreich einen Vortrag zu Rassismus "von oben" gehalten. Frankreich führt derzeit einen "nationalen Krieg gegen die Kriminalität" und praktiziert einen aggressiven Diskurs gegen Roma - Abschiebung inklusive. (ak 553) Auch wenn Rancières Ausführungen in diesem spezifischen Kontext zu sehen sind, so liefern sie damit einen wichtigen Beitrag in der kritischen Auseinandersetzung um Rassismus, Islamfeindlichkeit und eurozentrischem Universalismus. (1)

Ich möchte einige Gedanken zum Begriff des "Staatsrassismus" vorbringen, der auf der Tagesordnung unserer heutigen Zusammenkunft steht. Diese Gedanken stehen im Widerspruch zu einer sehr verbreiteten Deutung jener Maßnahmen - vom Gesetz über die Verschleierung in der Öffentlichkeit bis hin zur Abschiebung der Roma -, die unlängst von unserer Regierung ergriffen wurden. Nach dieser Interpretation lassen diese Maßnahmen eine opportunistische Haltung erkennen, die auf eine Nutzbarmachung rassistischer und xenophober Themen zu Wahlzwecken abzielt.

Diese angebliche Kritik geht von der Prämisse aus, Rassismus sei eine Leidenschaft des Volkes, eine ängstliche und irrationale Reaktion rückständiger Schichten der Bevölkerung, die unfähig seien, sich der neuen, mobilen und kosmopolitischen Welt anzupassen. Dem Staat wird dabei eine Abkehr von seinen Prinzipien vorgehalten, insofern er sich diesen Bevölkerungsgruppen gegenüber nachsichtig zeige. Doch wird seine Position als Repräsentant der Rationalität gegenüber der Irrationalität des Volkes dadurch nur bekräftigt. Kühl kalkulierter Rassismus als intellektuelle Konstruktion

Nun ist diese von der "linken" Kritik aufgegriffene Spielanordnung jedoch exakt die gleiche, auf deren Grundlage die Rechte seit knapp zwanzig Jahren eine ganze Reihe von rassistischen Gesetzen und Verordnungen umgesetzt hat. All diese Maßnahmen wurden auf der Basis der gleichen Argumentation ergriffen: ZuwanderInnen und Illegale schüfen Probleme wie Straftaten und andere Bedrohungen unterschiedlichster Art, wodurch es - wenn die Ordnung nicht wiederhergestellt werde - zum Ausbruch von Rassismus kommen könne. Diese Straftaten und Bedrohungen müssten sich daher der Universalität des Gesetzes beugen, damit keine rassistischen Unruhen ausgelöst würden.

Dieses Spiel wird - links wie rechts - seit den 1993 erlassenen Pasqua-Méhaignerie-Gesetzen gespielt. (2) Dabei wird den Leidenschaften des Volkes die universalistische Logik des rationalen Staates entgegengesetzt, d.h., der rassistischen Politik des Staates das Zeugnis des Antirassismus ausgestellt. Es ist jedoch an der Zeit, das Argument umzukehren und die enge Verbundenheit zwischen der staatlichen "Rationalität", die diese Maßnahmen in Gang setzt, und diesem nützlichen "Anderen" - dem komplizenhaften Widersacher - zu verdeutlichen, das sie als ihren Kontrast setzt: die Leidenschaft des Volkes.

Tatsächlich handelt die Regierung nicht unter dem Druck des von der Bevölkerung ausgehenden Rassismus und in Reaktion auf die sogenannten populistischen Leidenschaften der Rechtsextremen. Vielmehr ist es die Staatsräson, die jenes Andere fördert, welchem der Staat gleichsam das imaginäre Verwalten seiner realen Gesetzgebung überantwortet.

Vor ungefähr fünfzehn Jahren hatte ich zur Bezeichnung dieses Prozesses den Ausdruck "kalter Rassismus" vorgeschlagen. Der Rassismus, mit dem wir es heute zu tun haben, ist ein kühl kalkulierter Rassismus, eine intellektuelle Konstruktion. Er ist in erster Linie ein Erzeugnis des Staates.

Wir haben an dieser Stelle über das Verhältnis von Rechtsstaat und Polizeistaat diskutiert. Es liegt in der Natur des Staates, ein Polizeistaat zu sein, eine Institution, die Identitäten, Orte und Bewegungen fixiert und kontrolliert; eine Institution, die sich in einem fortwährenden Kampf gegen jegliches Ausufern nicht von ihm selbst erzeugter Identitäten befindet, d.h., auch gegen das Ausufern der Identitätslogiken, das durch das Handeln der politischen Subjekte erzeugt wird.

Die Weltwirtschaftsordnung hat diese Arbeit des Staates noch dringlicher werden lassen. Unsere Staatsgebilde sind immer weniger in der Lage, den destruktiven Auswirkungen des freien Kapitalverkehrs auf die Gemeinwesen, für die sie Sorge tragen, etwas entgegenzusetzen. So wenig sie dazu fähig sind, so wenig haben sie auch das Bedürfnis danach.

Sie begnügen sich mit dem, worüber sie gebieten können: dem Personenverkehr. Sie machen die Kontrolle dieses anderen Verkehrs zu ihrem ureigensten Gegenstand und die Sicherheit der von den MigrantInnen bedrohten Staatsangehörigen zu ihrem Ziel, genauer gesagt, die Erzeugung und die Verwaltung des Gefühls der Unsicherheit. Diese Arbeit wird mehr und mehr zu ihrer Existenzberechtigung und zum Mittel ihrer Legitimierung.

Daher kommt es zu einem Gebrauch der Gesetze, der zwei grundlegende Funktionen erfüllt: eine ideologische Funktion, darin bestehend, dem sicherheitsbedrohenden Subjekt Gestalt zu verleihen; und eine praktische Funktion, die darin besteht, kontinuierlich die Grenze zwischen Innen und Außen anzupassen, fortwährend fließende Identitäten zu schaffen, mittels deren jene, die drinnen waren, nach draußen verschoben werden können.

Der Erlass von Zuwanderungsgesetzen bedeutete zunächst, eine Kategorie von Sub-Franzosen und -Französinnen zu schaffen und Menschen, die auf französischem Boden von ihren als Franzosen/Französin geborenen Eltern zur Welt gebracht wurden, in die fließende Kategorie der ZuwanderInnen einzuordnen.

Der Erlass von Gesetzen zur illegalen Zuwanderung bedeutete, die legalen "ZuwanderInnen" in die Kategorie der Illegalen einzuordnen. Es ist dies die gleiche Logik, welche den seit kurzem zu beobachtenden Gebrauch des Begriffs "FranzösInnen ausländischer Herkunft" hervorgebracht hat.


EuropäerInnen, die keine "echten" EuropäerInnen sind

Diese Logik zielt heute auf die Roma, indem sie - entgegen dem Prinzip des freien Personenverkehrs im europäischen Raum - eine Kategorie von EuropäerInnen erzeugt, die keine echten EuropäerInnen sind, so wie es FranzösInnen gibt, die keine echten FranzösInnen sind.

Zur Erzeugung dieser in der Schwebe befindlichen Identitäten ist der Staat auch nicht um Widersprüche verlegen, wie an den Maßnahmen zu beobachten war, die die "ZuwanderInnen" betrafen. So schafft er einerseits diskriminierende Gesetze und Formen der Stigmatisierung, die auf der Idee der staatsbürgerlichen Universalität und der Gleichheit vor dem Gesetz gründen. Jene, deren Praktiken sich der Gleichheit und der staatsbürgerlichen Universalität widersetzen, werden mit Sanktionen belegt und/oder stigmatisiert.

Andererseits schafft er innerhalb dieser von der Gleichheit aller ausgehenden Staatsbürgerschaft diskriminierende Kategorien wie jene der FranzösInnen "ausländischer Herkunft". Somit sind einerseits alle FranzösInnen gleich - und wehe denen, die es nicht sind -, andererseits sind sie nicht alle gleich - und wehe denen, die das vergessen!

Der Rassismus von heute ist somit vor allem eine staatliche Logik und keine Leidenschaft des Volkes. Diese Staatslogik wird in erster Linie nicht von irgendwelchen rückständigen sozialen Gruppen getragen, sondern zu einem Großteil von der intellektuellen Elite. Die jüngsten rassistischen Kampagnen gehen keineswegs auf die sogenannte populistische extreme Rechte zurück. Sie wurden durch eine Intelligenz geführt, die sich als linke, republikanische und laizistische Intelligenz versteht.

Die Diskriminierung gründet nicht länger auf Argumenten über überlegene und unterlegene Rassen. Sie wird mit dem Kampf gegen die "Parallelgesellschaften" (3), der Universalität des Gesetzes und der Gleichheit aller BürgerInnen vor dem Gesetz wie auch der Gleichberechtigung der Geschlechter begründet. Auch dabei ist man um Widersprüche nicht verlegen; diese Argumente werden von Leuten vorgebracht, die sich ansonsten wenig um Gleichheit und Feminismus scheren. Letztlich hat diese Argumentation vor allem den Zweck, die notwendige Vermengung zu schaffen, die eine Identifizierung des Unerwünschten zulässt: so etwa die Vermengung von MigrantInnen, ZuwanderInnen, Rückständigen, IslamistInnen, Machos und TerroristInnen.

Der Rückgriff auf die Universalität produziert letztlich deren Gegenteil - die Errichtung einer staatlichen Verfügungsgewalt, die darüber entscheidet, wer der Klasse derjenigen angehört oder nicht angehört, die das Recht haben, hier zu sein, kurz gesagt: das Recht, Identitäten zu verleihen oder zu entziehen. Jene Gewalt hat in der Gewalt ihre Entsprechung, die Individuen dazu zu zwingen, stets identifizierbar zu sein, sich in einem Raum vollständiger Sichtbarkeit gegenüber dem Blick des Staates aufzuhalten. Wir müssen das Denken und den Kampf neu ausrichten

Es ist wert - geht man von dieser Perspektive aus -, sich die Lösung vor Augen zu führen, welche die Regierung angesichts des im Zusammenhang mit dem Burka-Verbot auftretenden rechtlichen Problems gefunden hat. So war es - wie deutlich wurde - schwierig, ein Gesetz zu erlassen, das auf einige hundert Personen einer bestimmten Religion gemünzt ist. Die Regierung fand als Lösung ein Gesetz, das ein generelles Verbot vorsieht, sein Gesicht im öffentlichen Raum zu verhüllen, ein Gesetz, das zugleich auf die Trägerin eines Vollschleiers wie auch auf den Demonstranten abzielt, der eine Maske oder einen Schal trägt.

Der Schal wird zum gemeinsamen Emblem der rückständigen Muslima und des terroristischen Agitators. Es war der "republikanische" Gedanke, der die Formel für diese Lösung geliefert hat, die - wie nicht wenige Maßnahmen zur Zuwanderung - mit der wohlwollenden Enthaltung der "Linken" angenommen wurde.

Man denke an die wüsten Schmähungen gegen die maskierten und kapuzentragenden Jugendlichen zurück, die im November 2005 nachts auf der Straße waren. (4) Oder an den Ausgangspunkt der Affäre um Robert Redeker, den mit einer islamischen "Fatwa" belegten Philosophielehrer.

Der Ausgangspunkt von Redekers wilden antimuslimischen Schmähungen war ... das Verbot des String-Tangas an der Paris-Plage. In diesem von der Stadtverwaltung von Paris erlassenen Verbot wähnte er eine dem Islamismus entgegenkommende Maßnahme - einer Religion, deren Hass- und Gewaltpotenzial sich schon im Verbot ausdrücke, sich nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die schönen Reden über den Laizismus und den republikanischen Universalismus reduzieren sich letztlich auf das Prinzip, das man im öffentlichen Raum vollständig sichtbar sein sollte, sei er gepflastert oder von Sand bedeckt.

Ich komme zum Schluss. Viel Energie wurde aufgewandt gegen eine bestimmte Ausprägung des Rassismus - jenen durch den Front National verkörperten - und eine Vorstellung des Rassismus als Ausdruck des "kleinen, weißen Mannes", der die rückständigen Schichten der Gesellschaft repräsentiert. Ein großer Teil dieser Energie wurde kanalisiert, um die Legitimation einer neuen Form des Rassismus zu konstruieren: Staatsrassismus und intellektueller "linker" Rassismus.

Es ist vielleicht an der Zeit, das Denken und den Kampf neu auszurichten, gegen eine Theorie und Praxis der Stigmatisierung, Prekarisierung und Exklusion, die heute einen Rassismus von oben erzeugen: eine staatliche Logik und eine Leidenschaft der Intelligenz.



Übersetzung: Christian Winterhalter

Anmerkungen:

1) Über Rassismus zu reden, bedeutet immer auch, von "Nation" und "Volk" zu sprechen. Wer zur Nation gehört und wer nicht, wird in Frankreich und Deutschland unterschiedlich konstruiert. "Französisch" ist man im Rahmen eines politischen Zusammenhangs, des republikanischen Projekts - einem imaginierten Gesellschaftsvertrag. Der Universalismus, dem sich alle verpflichten müssen, wird vom Staat garantiert und zugleich durchgesetzt. Das ist der Kontext, in welchem Rancière von "Volk" spricht, ein Begriff dem Linke in Deutschland seit Brecht eher kritisch gegenüberstehen und der nach 1990 nochmals für heftigste Diskussionen sorgte. Rancière geht es nicht darum, "das Volk" als das "eigentlich Gute" zu verteidigen. Vielmehr argumentiert er vor einem politischen Kontext, in dem selbst Linke die vermeintlich universellen Kräfte des französischen Staates unterstützen, "das Andere" verneinen und beginnen, mit rassistischen und reaktionären Kräften an einem gemeinsamen Diskurs zu stricken.

2) Eine der wesentlichen Änderungen dieser Gesetze betraf den Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit durch Kinder, die auf französischem Territorium geboren wurden und deren Eltern über eine Aufenthaltsbescheinigung verfügten. Die Staatsangehörigkeit sollte nicht mehr automatisch verliehen werden, sondern wurde an eine vorzunehmende Willensbekundung im Alter zwischen 16 bis 21 Jahren gebunden. 1998 wurde diese Erklärungspflicht wieder abgeschafft. Für eine Einbürgerung muss die Person dennoch u.a. einen Wohnsitz in Frankreich über einen Gesamtzeitraum von fünf Jahren ab dem elften Lebensjahr vorweisen.

3) Im Französischen "communautarisme". Dieser Terminus bezeichnet im französischen politischen Kontext das negativ bewertete Phänomen der Segmentierung der Gesellschaft durch die Herausbildung und Abgrenzung religiös, ethnisch etc. definierter Gemeinschaften, die deren Zusammenhalt bedrohten.

4) Gemeint sind die Jugendunruhen in den Banlieues im November 2005.

5) Paris-Plage ist die Initiative der Stadt Paris, während der Sommerferien einen künstlichen Strand an den Ufern der Seine einzurichten.


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 555, 19.11.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2010