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ANALYSE & KRITIK/484: Wasserkraft als zentrale Säule einer "green economy"


ak - analyse & kritik - Nr. 567 - 16.12.2011
zeitung für linke Debatte und Praxis

Wasserkraft als zentrale Säule einer »green economy«
Der Riesenstaudamm Belo Monte offenbart die Widersprüche des brasilianischen Entwicklungswegs

Von Thomas Fatheuer


Seit dem Wahlsieg von Inacio Lula da Silva im Jahr 2002 hat sich in Brasilien Erstaunliches getan. In einer Koalition mit Teilen der traditionellen Eliten ist es Lula und der Arbeiterpartei (PT) gelungen, ein stetiges Wirtschaftswachstum mit sozialer Umverteilung zu verbinden. Die statistisch erfasste Armut verringerte sich in der Regierungszeit Lulas (2003-2010) um 50%, zehn Millionen neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Das staatliche Programm zur Unterstützung armer Familien (bolsa familia) gilt weltweit als eines der erfolgreichsten Sozialprogramme. Aufgrund dieser Bilanz gelang es der PT, 2010 mit der zuvor kaum populären Kandidatin Dilma Rousseff erneut die Wahlen für sich zu entscheiden.

Die eigentliche Überraschung der Wahlen im Jahre 2010 war das gute Abschneiden von Marina Silva, der ehemaligen Umweltministerin, die nach Streit um die Amazonaspolitik der Regierung ihr Amt aufgab und 2010 als Kandidatin der Grünen Partei Brasiliens antrat. Obwohl diese bisher eher unbedeutend war und politisch als diffus gilt, gelang es Marina Silva, fast 20% der Stimmen zu erlangen.

Es ist kein Zufall, dass der Widerspruch zur Regierung Lula am ehesten in der ökologischen Frage aufbricht. Das wachstumsorientierte Entwicklungsmodell Brasiliens sieht in »Umweltfragen« lediglich ein Hindernis, das es zu überwinden gilt. Des öfteren hat sich Lula aggressiv und abfällig über UmweltschützerInnen beschwert, denen Kröten und Fische wichtiger seien als der Fortschritt des Landes. Tatsächlich ist die Entwicklungsstrategie an einem Punkt angelangt, an dem ein einfaches Weitermachen zu schweren Umweltkonflikten führt.


Belo Monte - Großstaudamm im Herzen Amazoniens

Belo Monte, der geplante Riesenstaudamm im Amazonasgebiet, wird immer mehr zu einem Symbol für die Ambiguitäten des brasilianischen Entwicklungsweges. Am Fluss Xingu, mitten im Regenwald, soll der drittgrößte Staudamm der Welt gebaut werden. Die Zahlen sind enorm: Für den Bau der insgesamt drei Staudämme soll mehr Erde bewegt werden als beim Bau des Panamakanals; mindestens 20.000 Menschen sollen für den Bau beschäftigt werden. Nach Angaben der Regierung müssen 5.000 Familien umgesiedelt werden, also etwa 20.000 Personen.

Dies ist im Vergleich zu Staudammprojekten in China oder Indien eine geringe Zahl, für das dünn besiedelte Amazonasgebiet aber durchaus ein Indikator für die immensen Folgen des Projekts. Der Staudamm soll nach augenblicklichem Stand etwa 20 Milliarden Reais kosten (mehr als 8 Milliarden Euro) und wird maximal 11.000 Megawatt Strom liefern können. (1)

Die Planungen am Xingu blicken auf eine lange Geschichte zurück. Bereits in den 1980er Jahren war ein Staudamm geplant, damals hatte insbesondere die Finanzierung des Projekts durch die Weltbank zu großen internationalen Protesten geführt. Als die Weltbank ihren Sektorkredit für Brasilien zurückzog, war auch das damalige Projekt gestorben.

Dass etwa 20 Jahre später ausgerechnet die Regierung Lula das Projekt wieder aufnimmt und anscheinend auch umsetzen wird, ist symptomatisch für die Veränderungen in den letzten zwei Jahrzehnten. Zunächst wurde das ursprüngliche Projekt überarbeitet und die Überschwemmungsfläche deutlich reduziert: von 1.225 auf 516 km2. Damit wird die direkte Überschwemmung indigener Gebiete vermieden. (2)

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu den Planungen in den 1980er Jahren ist die Fähigkeit Brasiliens, Belo Monte heute selbst zu finanzieren. Der private Sektor spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Der staatliche Energiekonzern Eletrobras hält eine Beteiligung von 49% am Konsortium, das den Staudamm baut; auf die Pensionsfonds der drei größten Staatsunternehmen entfallen weitere 27,5%. Die Finanzierung wird zu 80% durch die staatliche Entwicklungsbank BNDES garantiert.

Der Staat übernimmt eine zentrale Rolle in Projekten, die für die nationale Entwicklungsperspektive strategisch sind. Belo Monte zeigt wie in einem Brennglas wichtige Strukturelemente der Entwicklung Brasiliens in den letzten Jahren: Begünstigt durch eine lange Phase eines - wenn auch moderaten - Wirtschaftswachstums hat die Regierung den Schritt von einer Mischung aus Stabiltäts- und Deregulierungspolitik hin zu einer aktiven Entwicklungspolitik gemacht. Sie verfügt dabei über machtvolle Finanzierungsinstrumente und den erklärten politischen Willen, als aktiver Promotor von Wachstum zu fungieren. Dabei ist eine Präferenz für Großprojekte unübersehbar. Aber Belo Monte verweist noch auf eine andere Pointe des brasilianischen Entwicklungsweges. Seit Brasilien in den siebziger Jahren den Bau des (damals) größten Staudamms der Welt (Itaupu) beschloss und umsetzte, hat das Land den Ausbau der Wasserkraft als wichtigste Energiequelle konsequent vorangetrieben.

Etwa 75% der elektrischen Energie stammen aus Wasserkraft, weitere 5% aus Biomasse. Mit einem Anteil von 80% von erneuerbarer Energie an der Stromerzeugung unterscheidet sich Brasilien deutlich von allen größeren Industriestaaten und den »emerging economies«. Angesichts der international anerkannten Notwendigkeit, CO2-Emissionen zu reduzieren, befindet sich Brasilien in einer privilegierten Position. Es ist eine Großmacht, deren Entwicklung auf erneuerbaren Energien beruht.

Die weitere Entwicklung der Wasserkraft in Brasilien steht aber vor einem Problem: Das größte Potenzial für neue Staudämme findet sich im Amazonasgebiet. Am Rio Tapajos soll ein Komplex von zunächst (bis 2015) vier Wasserkraftwerken entstehen mit einer Kapazität von zusammen 6.000 MW. Aber die Planungen gehen noch viel weiter. Nach Angaben der Regierung sollen 41% des Wasserkraftpotenzials im Amazonasgebiet konzentriert sein, wovon bisher nur 1% genutzt wird. Auch wenn die Nutzung dieses »Potenzials« von vielen Faktoren abhängt, ist deutlich, dass Amazonien zur Schlüsselregion für die Wachstumsperspektiven Brasiliens wird. Amazonien ist nun das »hydroelektrische Eldorado« (Raul do Vale) des Landes. (3)


Soziale Bewegungen: zwischen Einbindung und Widerstand

In den Augen des intellektuellen Vordenkers des brasilianischen Energiesektors, Mauricio Tolmasquin, liegt hier der Schlüssel für Brasiliens Zukunft: »Brasilien ist die Energiegroßmacht des 21. Jahrhunderts. Erstens, weil es das Land mit dem größten Anteil erneuerbarer Energien unter entwickelten oder sich entwickelnden Ländern ist. Zweitens, weil wir ein großer Exporteur von Erdöl sein werden, ein wichtiges Element für die globale Energiesicherheit, ohne dass wir unsere Energiebilanz verschmutzen - wir werden weiter Ethanol verbrauchen.«

Die Aussage ist in ihrer Offenheit frappierend. Der Ausbau nachhaltiger Energie steht nicht in einem ökologischen Kontext, sondern ist eine Garant für die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes.

Damit ist aber auch das Paradoxon des brasilianischen Entwicklungsmodells benannt: Die Regierung rühmt sich schon da zu sein, wo andere hin wollen: in einer »green economy«, deren Basis erneuerbare Energien sind. Aber die Zukunft dieser angeblichen »green economy« auf brasilianisch beruht auf zwei Säulen, die ökologisch hoch problematisch sind: dem Ausbau der Wasserkraft in Amazonien und der Ausweitung des Anbaus von Zuckerrohr, das fast ausschließlich in großflächigen Monokulturen angebaut wird. Anders gesagt: die brasilianische Version der »green economy« mit ihrem exorbitanten Anteil an erneuerbaren Energien beruht auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die öko-soziale Konflikte provoziert.

Angesichts dieses Szenarios haben es die KritikerInnen von Belo Monte nicht leicht. Sie werden sofort als GegnerInnen einer nationalen Entwicklung hingestellt, die durch ihre Erfolge bei der Armutsbekämpfung legitimiert ist. Schlimmer noch: sie stehen als GegnerInnen einer sauberen und CO2-armen Energiequelle da.

Viele der sozialen Bewegungen sind der PT, der Partei der Regierung, verbunden. 2008 gelang es dennoch, in Altamira ein großes Treffen indigener und lokaler Gruppen zu organisieren. Es formierte sich die lokale Bewegung Xingu Vivo (4), unterstützt durch nationale und internationale NGOs und Teile der katholischen Kirche, insbesondere in Person des Bischofs von Altamira, Dom Erwin Kräutler, der 2010 den alternativen Nobelpreis erhielt.

International erzielte Belo Monte unter anderem dadurch Aufmerksamkeit, dass der Filmregisseur James Cameron (Titanic, Avatar) das Projekt kritisierte. Auf nationaler Ebene unterstützen WissenschaftlerInnen die lokalen Bewegungen. Es gelang, ein alternatives Gutachten vorzulegen, das auf viele Fehler und Lücken im Genehmigungsverfahren hinwies. Zuletzt haben prominente brasilianische SchauspielerInnen eine viel beachtete Medienkampgne gegen Belo Monte gestartet.

So ist es zwar gelungen, Belo Monte zum Gegenstand einer nationalen Debatte zu machen, aber eine Mobilisierung gegen den Staudamm hat nicht stattgefunden und ist auch nicht in Sicht. Sie könnte lediglich von zwei großen sozialen Bewegungen in Brasilien geleistet werden, der Bewegung der Staudammopfer (MAB) und der Landlosen (MST), beide Mitglied von Via Campesina.

Zwar haben sie in Erklärungen den Staudammbau kritisiert, aber MAB ist in der Xingu-Region kaum präsent, ebenso wenig die MST. Beide formulieren zwar scharfe Kritik an der Entwicklungspolitik der Regierung, kooperieren dann aber immer wieder mit selbiger und riefen 2010 auch wieder zur Wahl der PT und ihrer Kandidatin Dilma auf - gegen »die Rechten«.

Damit wird Belo Monte auch zu einem Beispiel, wie sich Widerstand in Brasilien neu formierte. Während die Gewerkschaftsbewegungen weitgehend in das Regierungssystem eingebunden sind und andere soziale Bewegungen zwischen Kritik und Kooperation schwanken, sind es eher diffuse, lokale Gruppen, indigene Gruppen und traditionelle Gemeinschaften, also die Opfer des Entwicklungsmodells, die heute die Basis für eine neue Protestbewegung bilden. Und der Beginn der Bauarbeiten hat dem lokalen Widerstand neuen Auftrieb gegeben: das soziale Chaos in der Region ist spürbar, und Ende November begannen sogar die BauarbeiterInnen mit einem Streik. Indigene Gruppen stellten den Betreibern eine neues Ultimatum und drohen mit der Besetzung des Bauplatzes. Das letzte Kapitel im Kampf um Belo Monte ist noch lange nicht geschrieben.


Thomas Fatheuer leitete von 2003 bis 2010 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro.



Anmerkungen:

1) Während der Trockenzeit wird die Kapazität des Staudamms allerdings nur 4.400 MW betragen!

2) Alle offiziellen Angaben und Zahlen zum Projekt sind auf Englisch und Portugiesisch zu finden unter www.epe.gov.br.

3) Alle hier zitierten Zahlen finden sich in einem Dossier der NGO ISA, das Quellen aus den offiziellen Dokumenten zusammenstellt:
uc.socioambiental.org/pressões/hidrelétricas.

4) Xingu Vivo verfügt über eine ausgezeichnete Homepage, auf der sich aktuelle Nachrichten und wichtige Dokumente und Analysen finden:
www.xinguvivo.org.br.
Eine gute Sammlung der englischsprachigen Dokumente bei:
www.survivalinternational.org/about/belo-monte-dam.


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 567, 16.12.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2012