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ARBEITERSTIMME/224: Sind "Alternative Listen" Totgeburten?


Arbeiterstimme, Herbst 2010, Nr. 169
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Sind "Alternative Listen" Totgeburten?
Auf der Suche nach gangbaren Wegen klassenkämpferischer Gewerkschaftspolitik

Von Jochen Gester / Willi Hajek


In der letzten Ausgabe der Arbeiterstimme erschien ein nicht namentlich gezeichneter Beitrag, der sich mit der Frage befasste, ob Alternative BR-Listen die richtige Taktik in der Gewerkschaftspolitik sind. Ergebnis des Beitrags: Das Aufstellen solcher Listen ist sinnlos und schädlich für eine klassenkämpferisch orientierte Interessensvertretung der abhängig Beschäftigten.

Diese Schlussfolgerung können wir so nicht teilen, weil sich uns die konkrete Situation im Werk Berlin-Marienfelde der Daimler AG anders darstellt als es der Artikel nahelegt und zum zweiten, weil wir Zweifel an der klassischen Orientierung haben, die uns unter "Schlag nach bei Lenin" angeboten wird.

Der Artikel beginnt mit einer Einschätzung der aktuellen Gewerkschaftspolitik, die wir in zentralen Punkten durchaus teilen. Die Vorstandsmehrheit unter Bertold Huber steht auch nach unserer Ansicht für eine Praxis der Intensivierung der Sozialpartnerschaft, die keinesfalls auf massiven Widerstand in den Belegschaften stößt, sondern auch die Überlebenshoffnungen von der Krise bedrohter Belegschaften ausdrückt. Das Ergebnis der Betriebsratswahlen mit einer hohen und noch zunehmenden Zahl von Mandaten für die IG Metall steht nicht in erster Linie für das Bewusstsein der eigenen Stärke sondern für die Hoffnung, dass die gewerkschaftliche Organisation Schutz bietet wie es auch eine Versicherung verspricht, eine Hoffnung, die auch schnell enttäuscht und Einfalltor für rechte Einflüsse werden kann. Dies insbesondere deshalb, weil die Gewerkschaftsvorstände in der Krise vor allem darauf hoffen, sich als Ordnungsmacht zu profilieren, um dafür die Zugeständnisse zu erhalten, die sie durch eigene Mobilisierungen nicht mehr riskieren wollen. Das wird gerade beim Thema "Tarifeinheit" mehr als deutlich. Zur Absicherung des eigenen Zugriffs auf zahlungsfähige Mitglieder und zur Abwehr von konkurrierenden Verbänden fordert der DGB die Amputation des Koalitionsrechts.

Die Situation im Marienfelder Werk der Daimler AG ist keinesfalls so, dass sich die Opposition aus reiner Profilierungssucht und "mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten" zu einer eigenständigen Kandidatur entschieden hat, wo es doch "jederzeit möglich ist, sich vor der Belegschaft zu profilieren". Die gewählten Betriebsräte der Gruppe wurden in ihrer Arbeit über lange Zeit stark behindert. Zu bestimmten Sitzungen wurden sie nicht eingeladen, wichtige Unterlagen wurden ihnen vorenthalten, so dass sie in Abstimmungen votieren sollten, bei denen sie die Unterlagen gar nicht bekommen hatten. Initiativen, die BR der "Alternative" im Auftrag ihrer Kollegen in den Betriebsrat eingebracht haben, wurden abgeblockt. Obwohl der Listenführer Mustaf Efe auf einer gewerkschaftlichen Mitgliederversammlung im Betrieb die meisten Stimmen bei der Wahl zur örtlichen Delegiertenversammlung erhielt, stießen die "Alternativen" bei ihren Forderungen nach Neuverhandlung bestimmter Punkte des ERA-Abkommens und anderer Anliegen auf taube Ohren. Auch eine Unterschriftensammlung für eine außerordentliche Betriebsversammlung, in der sich 850 Beschäftigte Werk eingetragen hatten, und zu deren Umsetzung eigentlich der Betriebsrat verpflichtet gewesen wäre, wurde missachtet. Erst vor diesem Hintergrund - der Weigerung der Betriebsratsmehrheit die Anliegen der Opposition ernsthaft zu erörtern - kam es zu der Entscheidung mit einer eigenen Liste zu kandidieren, da die Kollegen und Kolleginnen hofften auf diesem Wege eine bessere Vertretung im Betriebsrat zu erreichen.

Es gibt keinen Grund die Politik der "Alternative" grundsätzlich vor Kritik in Schutz zu nehmen. Auch hier herrschen viele Illusionen über die Macht der Strukturen des BetrVerfG und in manchem ist die Praxis der Gruppe nur ein Spiegelbild der bekämpften Mehrheitsfraktion. Dies betrifft insbesondere die Behandlung von Widersprüchen innerhalb der Belegschaft mit "Freund-Feind"-Zuschreibungen. Die in agitatorische Rede gerne gepflegte Vorstellung, es gäbe im Betrieb nur 2 Linien, eine sozialpartnerschaftliche und eine klassenkämpferische, zwischen denen es gelte, sich zu entscheiden, ist eine aufgesetzte, wenig realitätsgerechte Vorstellung davon, wie die Widersprüche innerhalb der Belegschaft verlaufen.

Denn um nichts anderes geht es. Dies wird gerade im ERA-Konflikt deutlich. Etwa 30 Prozent der Belegschaft, die mehrheitlich aus Angestellten besteht, hat aus der neuen Eingruppierung profitiert, für den überwiegenden Rest hat sich wohl wenig verändert. Die Hauptlast der Vereinbarung hatten Kollegen in der Produktion zu schultern, die z.T. bis zu 600 EUR weniger Lohn erhalten haben. Dies betrifft auch nicht alle Werke des Konzerns gleichmäßig. Vergleichbare Belegschaftsteile im Stuttgarter Raum wurden durch entsprechende Zusatzvereinbarungen vor solchen Abgruppierungen geschützt. Über 7 Wochen haben 30-90 Kollegen aus den betroffenen Abteilungen im Marienfelde nach Schichtende dagegen mit Kundgebungen vor dem Werkstor protestiert und eine Nachverhandlung gefordert. Stattdessen erschienen auf einer der Aktionen Vertreter von Personalabteilung und Betriebsrat unter einem eigenen Gegentransparent.

Wie euch wohl bekannt ist, blieb diese Auseinandersetzung nicht beim Austausch von Unfreundlichkeiten stehen. Auf Antrag von BR-Mitgliedern der Mehrheitsfraktion wurde ein Untersuchungsverfahren wegen gewerkschaftsschädigenden Verhaltens eingeleitet, das vorerst damit endete, dass der eingesetzte Untersuchungsausschuss den Ausschluss von Mustafa Efe, Martin Franke und Fehmiye Utku und eine Rüge für die restlichen 15 KandidatInnen empfohlen hat. Diese KollegInnen - vorne dran Detlef Fendt als Beisitzer - exekutieren damit nichts anderes als die politische Entmündigung eines Teils ihrer Kollegen, eine Praxis, die auch - dies zeigt der offene Brief gewerkschaftsnaher SozialwissenschaftlerInnen - auf offene Kritik stößt. Auch im Betrieb gibt es keinerlei Mehrheiten für dieses Verfahren. Die große Mehrheit der Beschäftigten, die die Liste der gegenwärtigen Betriebsratsvorsitzenden gewählt hat, lehnt diese Form der Lösung von Widersprüchen innerhalb der Belegschaft ab. Eine sehr doppelbödige Rolle spielt in dem ganzen Verfahren der VKL-Vorsitzende Detlef Fendt, der sich in der "Jungen Welt" gerne als Marxist und lenintreuer Prolet inszeniert, dann aber für VKL-Infos die Mitverantwortung dafür trägt, dass der VK Infos an die Belegschaft verteilt, in denen vor der Wahl der Alternativen Liste gewarnt wird. Zu den beeindruckenden Gründen dafür zählt z.B. das hier gewählte Argument, Mitglieder SAV, die in der Gruppe mitarbeiten, gehörten "zum äußersten linken Spektrum" und wollten "das kapitalistische Wirtschaftssystem abschaffen". In einem weiteren VKL-Info wurde die völlig abwegige Position vertreten, der Vorstand der IGM sei verpflichtet nach Satzung eine nicht bewilligte Kandidatur mit Ausschluss der Kandidaten zu ahnen. Sogar ein legitimes politisches Anliegen wurde den "Alternativen" abgesprochen. Vorwurf: Sie führten "einen persönlichen Feldzug" gegen die Betriebsratsvorsitzende, ihren Vertreter und den Betriebsausschuss.

Grundsätzliche Bedenken haben wir auch gegen die in der Leninschen "Linksradikalismus"-Kritik begründete Strategie der Eroberung des Gewerkschaftsapparates. Zahlreiche leninistisch inspirierte Gruppen haben nach 1945 ihre Kader mit dem Ziel in die Apparate geschickt ihn durch Austausch des Führungspersonals zu einem Instrument des Klassenkampfes zu machen. Das Ergebnis lässt sich an prominenten Köpfen wie Helmut Lense, BRV bei Daimler in Stuttgart, (früher MLPD), Klaus Franz, BRV Opel (früher KPD/AO), Bertold Huber (KABD) beobachten. Wir zählen nicht die vielen zu Co-Managern mutierten Funktionäre der DKP. In allen Fällen haben die Jünger Lenins nicht den Apparat verändert, sondern der Apparat hat ihnen ihren Stempel aufgedrückt. Der "Marsch durch die Institutionen" hat die Marschierenden so grundlegend verändert, dass sie hinterher nicht mehr wieder zu erkennen waren. Diese Mutationen sind nicht nur bei bezahlten Angestellten der gewerkschaftlichen Organisation die Regel sondern auch dort, wo Linksradikale versuchen im Rahmen der Welt des Betriebsverfassungsgesetzes in höhere Ämter und Würden zu gelangen.

Reale Verbesserungen der Situation der abhängig Beschäftigen gibt es nur soweit, als die Betroffenen sich selber in Bewegung setzen und auch die entmündigende Stellvertreterlogik gewerkschaftlichen Handelns in Frage stellen. Dieses selbstständige Handeln zu entwickeln, muss das A und O einer linken Gewerkschaftspolitik sein. Die Frage der Kandidatur bei Betriebsratswahlen sollte danach beurteilt werden, ob sie diesen Prozess befördert oder nicht.

Die Bilanz der oppositionellen Listen im Organisationsbereich der IG Metall ist auch keineswegs so eindeutig, wie im Artikel nahegelegt. Die PLAKAT-Gruppe ist keineswegs die Ausnahme einer Kette von Misserfolgen. Die Parallelen mit Marienfelde beim Zustandekommen einer eigenen Kandidatur sind geradezu augenfällig. Auch heute liegen wichtige Bastionen der wirklich mobilisierungsfähigen Basisopposition in Werken, in denen diese Opposition sich das Recht erkämpf hat, mit einer eigenen Liste um Unterstützung in der Belegschaft zu werben. Die GoG im Bochumer Opelwerk hat vor allem so lange (über 30 Jahre) existieren können, weil sie sich dieses Recht nie hat nehmen lassen. Heute existieren im Werk mehr als ein halbes Dutzend Listen von IGM-Mitgliedern und es gibt einen echten belegschaftsöffentlichen Meinungsstreit um die gewerkschaftliche Orientierung. Auf diesem Wege gelang zwar kein dauerhafter Bruch mit der Politik des Co-Managements, doch entwickelte sich das Selbstbewusstsein vieler Vertrauensleute auch Arbeitskämpfe gegen die Betriebsratsmehrheit und die Geschäftsführung der örtlichen IGM-Verwaltungsstelle zu wagen. Und darüber hinaus veränderte sich das Verhältnis von Belegschaft und Interessenvertretung nachhaltig. In Bochum ist es nicht mehr möglich wichtige Standortvereinbarungen ohne Abstimmung der Belegschaft durchzuziehen.

Auch die Arbeit der Gruppe "Alternative" in Stuttgart Untertürkheim steht als Beispiel dafür, dass die Entscheidung zu einer eigenständigen Kandidatur nicht eine Art Harakiri ist, bei dem die Opposition sich selbst ins Abseits stellt. Die "Alternative" hat solange auf einer eigenen Liste kandidiert, als es unmöglich war, ihre Positionen auf der offiziellen Liste zu vertreten. Sie hat auf diesem Wege im Werksteil Mettingen die Mehrheit der Stimmen bekommen. Zur erneuten gemeinsamen Kandidatur auf der offiziellen Liste war sie erst bereit, nachdem die gewerkschaftliche Mehrheitsfraktion nicht mehr auf der Forderung beharrte, die Alternativen sollten ihre eigenen Publikationen einstellen.

Als drittes Beispiel kann die BR-Wahl-Praxis im Berliner Motorenwerk von BMW gelten, in dem die damalige Opposition in jahrelangen Auseinandersetzungen durchsetzte, dass Mitglieder der IGM das Recht haben auf konkurrierenden Listen um Zustimmung werden können. Diese Praxis hat es sehr erleichtert, dass innerhalb der Belegschaft eine Auseinandersetzung um politische Alternativen geführt werden kann.

Im Kern des hier thematisierten Konflikts geht es um die Beendigung einer Praxis, in der die jeweilige Mehrheit nach dem Prinzip "The winner takes it all" das, was sie für ihre Interessen hält, durch Missachtung der Minderheit durchsetzt und ihr jeglichen Einfluss raubt. Vorwärts geht es nur, wenn die unterschiedlich bis gegensätzlich orientierten Teile der Belegschaft ihre gegenseitige Legitimität anerkennen und Formen der Konfliktlösung suchen, die eine Einheit der Belegschaft gegenüber dem Unternehmen ermöglicht. Diese Einheit ist nicht vorab gegeben, sondern kann nur auf diesem Wege entstehen.


/ 25.8.2010
Jochen Gester ist Mitglied des Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall Berlin
http://www.labournet.de/igm-akint.berlin/index.htm
Willi Hajek ist seit über 30 Jahren in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit aktiv und Mitarbeiter bei TIE
http://www.tie-germany.org/


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 169, Herbst 2010, S. 10-11
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2010