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ARBEITERSTIMME/229: Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile - Teil 4


Arbeiterstimme, Winter 2010/2011, Nr. 170
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile

Teil 4[*]: Die Epoche der Regierungen der Concertación


In den bisherigen Folgen wurde dargelegt wie die Bourgeoisie, ausgehend vom blutigen Militärputsch vom 11. September 1973, das Land grundlegend veränderte. Der abschließende Teil beschäftigt sich mit der 20-jährigen Ära die von Präsidenten der Concertación bestimmt war. Erst da wurde offensichtlich wie effektiv die neu geschaffene Ordnung zugunsten der Besitzenden wirkt. Im Spannungsverhältnis dieser Ordnung mit der Politik der Concertación liegen die Gründe für den Wahlsieg von Sebastián Piñera. Die Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise waren da nur noch der letzte Tropfen der das Fass zum Überlaufen brachte. Mit dem Regierungsantritt von Sebastián Piñera, dem ersten rechten Präsidenten Chiles seit 1958, besteht die Gefahr, dass damit eine lang anhaltende konservative Dominanz über das einst als links geltende Land begonnen hat. Das würde jedem, im weitesten Sinne linken, Projekt den Boden entziehen.

Als am 11. März 1990 Patricio Aylwin die Regierung Chiles übernahm, endete nach fast 17 Jahren eine der längsten Militärdiktaturen Lateinamerikas. Bei den ersten freien Wahlen konnte er als einziger oppositioneller Kandidat 55,2% der Stimmen auf sich vereinen. Bedeutete das die lang erhoffte Rückkehr zur Demokratie?

Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst der Begriff der Demokratie geklärt werden. Der Schlüsselsatz in der Definition im Historischen Lexikon der Schweiz lautet: "Staatsform, in welcher das 'Volk', d.h. die Gesamtheit der vollberechtigten Bürger, nicht ein Einzelner oder eine kleine Gruppe Mächtiger, die Staatsgewalt innehat." Macht man sich diese Definition zu eigen, herrscht in Chile keine Demokratie.

Diese Aussage wird Widerspruch hervorrufen. Schließlich finden seit 1989 regelmäßig Wahlen statt. Doch der entscheidende Punkt ist folgender: In Chile geben die geltenden Gesetze "eine(r) kleine(n) Gruppe Mächtiger" eine wichtige "Staatsgewalt" in die Hand. Privilegiert ist die Bourgeoisie. Nur mit ihrer Zustimmung, vermittelt über die politische Rechte, kann die Verfassung geändert werden. Das steht im Widerspruch zu allen demokratischen Grundsätzen.

Am Beispiel des Ineinandergreifens des Wahlrechts mit den Regeln, die für seine Änderung gelten, soll das erläutert werden. Doch zuerst muss auf etwas anderes hingewiesen werden. Auch wenn Chile nach obiger Definition keine Demokratie ist, müssen Linke diese Ordnung schweren Herzens respektieren. Sie wird von einer großen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert und ist damit, im Sinne einer Rosa Luxemburg zugeschriebenen Aussage, der gültige Waffenstillstandsvertrag im Krieg der Klassen.

Dies haben auch die bewaffnet gegen das Regime kämpfenden Gruppen anerkannt. In der ersten Hälfte der 90er Jahre stellten sie ihre Aktivitäten von militärischer auf politische Arbeit um. Das konnten allerdings nur diejenigen ihrer Mitglieder tun, gegen die die Justiz nicht ermittelte oder deren Gefängnisstrafen schon verbüßt waren. Das Ende der Diktatur brachte für ihre Kämpfer keine Amnestie. So leben noch heute ehemalige Guerilleros im Exil, da ihnen bei einer Rückkehr langjährige Haftstrafen drohen.


Das binominale Wahlrecht

Seine Funktion lassen wir uns von Dr. Ingrid Wehr, Lehrbeauftragte am Seminar für Wissenschaftliche Politik in Freiburg, erklären:

"Das so genannte 'sistema binominal' ist wohl weltweit einmalig und wurde von den Militärs explizit zur Sicherung der Vetomacht der Rechten entworfen. Für die Abgeordnetenwahlen ist das Land in 60 Zwei-Personen-Wahlkreise eingeteilt. Parteienkoalitionen dürfen Listen von höchstens zwei Kandidaten aufstellen. Da die Stimmen nach D'Hondt auf die Listen verteilt werden, führt dies zur absurden Situation, dass schon 33,4% der Stimmen theoretisch ausreichen können, um die gleiche Anzahl von Mandaten zu erhalten wie die Liste, die 66,6% der Stimmen erhielt."

Was folgt daraus? Die Parteien, es gibt in Chile gegenwärtig fünf große und zahllose kleine, sind zu Wahlbündnissen gezwungen, da sie einzeln keine Aussicht auf Erfolg haben. Das Gesetzt legt nahe, dass nur zwei Formationen antreten. Doch wie soll das in einem Land mit traditionell drei politischen Richtungen funktionieren?

Seit der Protestbewegung gegen die Diktatur ist die politische Landschaft in Pro und Kontra Pinochet geteilt. Aber die Gegner des Militärregimes sind sich nicht einig, ganz im Gegensatz zu den Freunden der Junta. Sie bilden seitdem, unter wechselnden Namen, den rechten Wahlvorschlag.

Ihr Widerpart ist das Bündnis "Concertación por la Democracía". Hier versammelten sich für die ersten freien Wahlen, neben anderen, die Christdemokraten und die Mehrheit der Sozialisten. Diese Liste ist aus dem Zusammenschluss "Concertación de Partidos por el No" hervorgegangen und vertritt Positionen der Mitte bis zur Sozialdemokratie. Die Kommunisten, als stärkste Kraft der Linken, hätten sich gerne beteiligt was aber die Christdemokraten verhinderten. So bildete sich für die Wahlen von 1989 die PAIS (Partido Amplio de Izquierda Socialista) aus Kommunisten, Teilen der Almeyda-Fraktion der Sozialisten, der MAPU und der Christlichen Linken.

Wie erging es diesen drei Listen bei der Wahl? Die Rechte konnte 48 Abgeordnetensitze gewinnen. Landesweit gesehen erzielte sie einen Stimmenanteil von 34,18% der ihr aber 40% der Parlamentssitze einbrachte. Auch die Concertación war mit ihren 69 Parlamentariern, das entsprach 57,5% der Mandate, stärker als es ihrem landesweiten Ergebnis von 51,49% entsprach. PAIS errang zwei Sitze was einem Anteil von 1,66% des Abgeordnetenhauses entsprach, hatte aber ein landesweites Ergebnis von 5,31% erreicht. Sogar ein Unabhängiger schaffte es ins Parlament. Auf ihn und die sonstigen Kandidaturen entfielen, landesweit gesehen, 9% der Stimmen.

Die Zahlen zeigen, dass die zwei stärksten Listen überdurchschnittlich im Parlament vertreten sind. Das ist eine logische Folge daraus, dass weitere Wahlvorschläge nur einen kleinen Teil ihrer Stimmen in Mandate umsetzen können oder überhaupt keine parlamentarische Vertretung erhalten. Warum aber sind die zwei größten Fraktionen nicht in einem paritätischen Verhältnis zueinander überrepräsentiert? Die parlamentarische Stärke der Concertación ist 11% größer als ihr Stimmenanteil, die der Rechten aber 17%.

Das ist auf eine weitere Regel des binominalen Wahlrechts zurückzuführen, die Wikipedia so erläutert: "Damit beide Sitze auf die siegreiche Liste entfallen, muss diese mehr als doppelt so viele Stimmen wie die zweitstärkste Liste auf sich vereinen." Davon profitiert automatisch die Rechte, da sie mit nur einem ernst zu nehmenden Wahlvorschlag antritt. Zur Veranschaulichung das Ergebnis des Wahlkreises 33:

Die Concertación erzielte hier 31,11%, die Rechte 31,17% und PAIS 31,65%. Mit diesem Ergebnis steht PAIS und der Rechten je ein Sitz zu. Addiert man die Ergebnisse von Concertación und PAIS kommt man auf 62,76%. Das ist mehr als doppelt so viel wie das der Rechten. Somit hätte, bei einem geeinten Antritt der Opposition, diese theoretisch beide Mandate gewinnen können. Bei einem reinen Mehrheitswahlrecht würde nur die Opposition den Wahlkreis im Parlament vertreten. So verhilft der Binominalismus einer mittleren politischen Kraft zu parlamentarischer Stärke die ihr nur bei einer Verhältniswahl zustehen würde. Da kommen dann aber auch kleinere Parteien zum Zuge.


Die Voraussetzungen für eine Reform des Wahlrechts

Das chilenische Wahlrecht verfälscht den Wählerwillen. Es sollte also geändert werden. Das scheitert aber an der von der Diktatur geschaffenen institutionellen Ordnung. Darin findet sich eine Klasse von Gesetzen die "Ley Orgánica Constitucional" heißen. Sie können nicht mit einfacher Mehrheit geändert werden. Für sie gelten ähnliche Regeln wie für Verfassungsänderungen. Es müssen jeweils 3/5 (60%) der Mandatsträger beider Kammern zustimmen.

Im Abgeordnetenhaus konnten bei den ersten Wahlen Concertación und PAIS diese Grenze fast überspringen. Bei späteren Wahlen wurde das zunehmend schwieriger. Die Erinnerung an die Diktatur ließ nach, was es der Rechten erleichtert sich als ganz normale Parteien darzustellen. Erschwerend kommt hinzu, dass unabhängige linke Kandidaturen keine Mandate mehr erringen konnten. Damit ist eine Änderung der Wahlgesetze in weite Ferne gerückt.

Die Funktionsweise des Binominalismus war bekannt. Warum also ist die Opposition nicht geschlossen in den Wahlkampf gezogen? Man darf nicht den Fehler machen davon auszugehen, dass eine gemeinsame Liste die gleiche Stimmenzahl erhalten hätte, wie sie die oppositionellen Listen getrennt erzielten. Diese Annahme wäre höchst spekulativ, weiß doch niemand, ob wirklich alle Linken zur Stimmabgabe für Kandidaten der Christdemokratie zu motivieren gewesen wären. Und hätte eine Einheitsliste genauso viele Wähler aus der Mitte für sich gewinnen können, wie es der Concertación alleine gelang?

Letzteres scheint unwahrscheinlich im Hinblick auf die Umstände der Ausgrenzung der KP. Sie lag nicht an der Christdemokratie allein, denn diese konnte ihre Position nur durchsetzen, da die Sozialisten ebenfalls kein Interesse an einer Zusammenarbeit hatten. Das war einerseits eine Folge der von der KP begangenen Fehler im Kampf gegen die Diktatur, andererseits spielte die politische Lage zum Zeitpunkt der Listenaufstellung eine Rolle. Die KP war damals noch keine legale Partei. Sie distanzierte sich auch nicht von den Aktionen der FPMR, die als ihr bewaffneter Arm betrachtet wurde. Für Teile der Öffentlichkeit waren zu dieser Zeit Kommunist und Terrorist Synonyme. Eine gemeinsame Liste der Opposition hätte es den regimenahen Medien, und das waren fast alle, ermöglicht, sie in die terroristische Ecke zu stellen. Dies lag natürlich nicht im Interesse der Parteien der Concertación.

Auf eben diese Spaltung hatten die Strategen der Diktatur gesetzt. Trotzdem sahen sie weitere Sicherungen gegen eine Änderung ihrer Ordnung vor. Eine davon waren die ernannten Senatoren. Diese konnten, im Zusammenwirken mit wenigen gewählten Vertretern der Rechten, jede Änderung der Verfassung oder der Gesetzesdekrete zurückweisen. Die Resultate der ersten Wahlen hatten allerdings gezeigt, dass das Wahlrecht allein zur Verteidigung der herrschenden Ordnung ausreicht. Daher gab die Rechte ihre Zustimmung zu einer Verfassungsänderung mit der die ernannten Senatoren abgeschafft wurden.

Es wird letztlich von den Interessen der Person abhängen, ob sie dieses System als Demokratie bezeichnen wird. Mit der Definition der Demokratie im Historischen Lexikon der Schweiz ist es aber auf keinen Fall in Übereinstimmung zu bringen.


Die ökonomische Basis des Landes

Dieser Teil der Serie hat sich bisher fast ausschließlich mit dem Wahlrecht beschäftigt. Man darf aber die Probleme, die damit zusammenhängen nicht isoliert betrachten. Schließlich ist denkbar, dass, wenn es in anderen Bereichen der Gesellschaft zu gravierenden Veränderungen kommt, das Wahlgesetz die Rechte ebenso benachteiligen könnte wie es heute für die Linke der Fall ist.

Wenden wir uns daher der ökonomischen Basis des Landes zu und betrachten wir die wichtigsten ökonomischen Kennziffern aus dem Merkblatt "Wirtschaftsdaten kompakt: Chile" der "Germany Trade & Invest", einer Gesellschaft der Deutschen Regierung für Außenwirtschaft und Standortmarketing. Es ist keine Überraschung, dass der Bergbau 2009 zu 17,9%, davon allein der Kupferbergbau mit 14,8%, zur Entstehung des chilenischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) beigetragen hat. Doch an zweiter Stelle finden sich Finanzdienstleistungen mit 16,4%. Dieser Wert ist ziemlich hoch. Besonders wenn man ihn mit den 5,7% vergleicht, die dieser Sektor in Argentinien erreicht. In Peru und Bolivien wird dieser Sektor nicht einmal separat ausgewiesen. Dieser im Vergleich zu den Nachbarländern sehr hohe Anteil hat verschiedene Ursachen die aber letztlich eine Folge der neoliberalen Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialstruktur sind.

Die privatisierten Einrichtungen zur Daseinsvorsorge wie Kranken- und Rentenversicherung gehören heute zum Bereich Finanzdienstleistungen. In Ländern mit einem staatlich organisiertem Sozialsystem findet sich dieser Sektor in der so genannten Staatsquote. Dazu kommt, dass die aktuelle Ausgestaltung der kapitalistischen Ökonomie auf kreditfinanziertem Konsum basiert. Nach verschiedenen Untersuchungen ist die Verschuldung der chilenischen Familien, in Bezug zu ihrem Einkommen, von 40% im Jahr 2003 auf 69% im Jahre 2008 gestiegen. Das hat dazu geführt, dass im untersten Fünftel der Einkommensbezieher über 60% der finanziellen Mittel zur Bedienung der Schulden aufgewendet werden.

Als letzter Posten mit einer zweistelligen Ziffer ist noch die verarbeitende Industrie mit 13,1% zu nennen. Argentinien, das auch einem Prozess der Deindustrialisierung ausgesetzt war, kommt hier auf 18,2%.

Die drei genannten Sektoren sind alleine für fast 50% des chilenischen BIP verantwortlich. Auffällig ist, dass der Beitrag der Land- und Forstwirtschaft auf magere 2,6% kommt. Hält man doch in Chile gerade den Export von Wein, Früchten und Zellulose für ein Zeichen des Erfolges des aktuellen Wirtschaftsmodells. Betrachtet man die Exportstruktur sieht es für diese Güter etwas besser aus. Zusammengenommen liegt ihr Anteil 2008 bei 11%. Doch das ist nichts im Vergleich zum Kupfer. Seine unterschiedlichen Derivate (Erz, Konzentrat oder Kupfer in unterschiedlicher Reinheit) kommen auf 53,6%, der Bergbau insgesamt auf 57,3%.

Um Entwicklungen sichtbar zu machen müssen diese Werte mit denen aus der Vergangenheit verglichen werden. Leider finden sich in der Literatur keine historischen Zahlen über die Zusammensetzung des BIP. Doch scheint die Bedeutung des Kupfers zugenommen zu haben. In einem Beitrag der Onlinezeitschrift Pensamiento Critico vom November 2004 findet sich eine Tabelle über den Anteil des Bergbaus am BIP. Er stieg demnach von 7,2% (1980) über 8,9% (1990) auf 10,1% (2000). Während sein Wachstum in den 80er Jahren mit den, durch die Öffnung der Märkte ausgelösten, Deindustrialisierungsprozessen zu tun hat, lassen sich die heutigen 17,9% mit gestiegenen Rohstoffpreisen erklären.

"Leichter finden sich Zahlen über die Exportstrukturen in der Vergangenheit. Nimmt man die Aufschlüsselung für das Jahr 1960 von Dieter Nohlen findet man folgende Tendenz. Vor einem halben Jahrhundert gingen 86,6% aller Exporte auf den Bergbau zurück. Allein Kupfer machte damals 68,8% der Ausfuhren aus. Demnach ist der Exportanteil dieses Metalls um ca. 15 Punkte, auf heute 53,6%, gefallen.

Man kann also festhalten, dass Chiles Exportabhängigkeit von diesem Rohstoff zwar nachgelassen hat, aber bei einem Anteil von etwas über 50% immer noch besteht. Dabei ist aber zu bezweifeln, dass dieser Rückgang ein Erfolg des Neoliberalismus ist. Für den Export empfindlicher Früchte in die Länder des Nordens ist moderne Kühl- und Transporttechnologie viel wichtiger als die Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung. Im Widerspruch zur Selbsteinschätzung stehen die von Claudio Maggi und Dirk Messner genannten Zahlen, denen zufolge Chiles Anteil am Weltexport während der Diktatur von 0,44% (1970) auf 0,22% (1987) gefallen ist."

Im Gegensatz dazu steht die Bedeutungszunahme des Bergbaus im Lande selbst. Dabei ist seine Dominanz viel größer als es die Zahlen ausdrücken, denn ein guter Teil dessen, was das Kreditwesen zum BIP beiträgt, hängt letzten Endes vom Kupfer ab. Sollte es bei diesem Metall zu Nachfrageeinbrüchen kommen, würde auch der Beitrag der Finanzdienstleistungen einbrechen.

Durch den Anstieg der Rohstoffpreise hat Chile in den letzten 20 Jahren, ökonomisch gesehen, eine sehr angenehme Zeit erlebt. So weist das Land für den Zeitraum von 1990 bis 2002 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 5,8% auf. Das ist der höchste Wert eines Jahrzehnts in der chilenischen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Auch in den folgenden 5 Jahren (2003-2008) liegt das Wachstum bei einem jährlichen Durchschnitt von 4,7%. Trotzdem wird für 2008 eine offizielle Arbeitslosenrate von 7,8% angegeben.

Diese positive Wirtschaftsentwicklung wird auch bei der Einkommensentwicklung sichtbar. Nach der Untersuchung CASEN 2006 des chilenischen Ministeriums für Planung sind die Einkommen der abhängig Beschäftigten von 1990 bis 2006 um 59,4% gestiegen. Beim untersten Zehntel der Lohnabhängigen lag dieser Wert zwar nur bei 51,5% aber sie erhalten vom Staat weitere Unterstützungen. Neben Ausbildungs- und Gesundheitsbeihilfen besteht ihr Haushaltseinkommen zu 13,2% aus finanziellen Zuwendungen.

Das schlägt sich auch in der Entwicklung der Armut nieder. Nach Zahlen der CEPAL lebten 1970, dem Jahr des Wahlerfolges von Salvador Allende, 20% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Die Politik Pinochets ließ diesen Wert auf 45% (1987) steigen. In der ersten Dekade der Concertación fiel er auf 23,3% (1996) und 10 Jahre später lag er bei 13,7%. Diese Zahlen bedeuten allerdings nicht, dass die Bevölkerung keine materiellen Probleme hätte. Selbst die Konrad Adenauer Stiftung räumt in ihrer Wahlanalyse ein, dass Chile "mit einer hohen sozialen Ungleichheit und einer nach wie vor bestehenden Armut" zu kämpfen hat. "In der Region hat nur noch Brasilien eine ungleichere Einkommens- und Vermögensverteilung."


Die neoliberale Ideologie als nationaler Konsens

Trotz der weiterhin bestehenden Probleme ist diese ökonomische Entwicklung die materielle Basis für die Herausbildung eines grundlegenden nationalen Konsenses in Chile (zu den weiteren Gründen zählen die Niederlage der Unidad Popular, die Niederlage im Kampf gegen die Diktatur und der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers), der, so Maggi/Messner, "im Kern die folgenden Aspekte enthält:

-> Die Orientierung in Richtung eines minimalen Staatsmodells, das von der Grundlage ausgeht, das sämtliche nicht privaten Institutionen zwangsläufig schwach sind;

-> die vorgefasste Meinung, dass das Privatunternehmen die unangefochtene und alleinige Hauptrolle bezüglich des wirtschaftlichen und sozialen Wachstums spielt;

-> die Auffassung, dass der Markt nicht nur die Funktion der Zuteilung wirtschaftlicher Faktoren erfüllt, sondern weit darüber hinausgehend dazu in der Lage ist, soziale Probleme (Armut, Jugendarbeitslosigkeit, Umwelt) oder die Förderung anderer sozialer Bereiche (Kultur, Sport) eher zu lösen als jedes politische Programm;

-> Assimilation des normativen Paradigmas des "homo oeconomicus", mit der Konsequenz, dass Kooperation, Methoden zur gemeinschaftlichen Problemlösung, gesellschaftliche Solidarität und die Organisation gemeinsamer Interessen (z. B. in Form der Gewerkschaften) als Ausdruck einer anachronistischen Mentalität angesehen werden."

In diesem gesellschaftlichen Klima existierte so gut wie keine öffentliche Kritik an der neoliberalen Ausrichtung der Concertación. Der Linken kam schon zu Beginn der neuen Zeitrechnung ihre parlamentarische Vertretung abhanden. Die Mehrheit von PAIS schloss sich der Sozialistischen Partei (PS) an, so auch ihre Abgeordneten. Die Linke war damit zum Schweigen verdammt. Auch in Chile nehmen die Medien nur die politischen Kräfte wahr, die im Parlament vertreten sind. Zu dieser Zeit warteten die politischen Beobachter auf das endgültige Verschwinden der Kommunistischen Partei. Viele Faktoren sprachen dafür. So die massive Schwächung der KP nach ihrer Spaltung 1990. Die Entpolitisierung der Gesellschaft und die allgemeine Aufsplitterung linker Strukturen als Folge des Binominalismus. Da Wahlerfolge für linke Kandidaturen ziemlich aussichtslos sind, entfällt der Zwang zur Zusammenarbeit. Heute gibt es, nach einer unvollständigen Zählung der linken Zeitschrift Punto Final, 18 Gruppen und Organisationen mit mehr oder weniger Einfluss.

Doch die KP ist nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Auch wenn zwischenzeitlich die Ergebnisse der von ihr unterstützten Präsidentschaftskandidaten bis auf magere 3,2% gefallen sind. Heute gehen politische Analysten davon aus, dass die Kommunisten auf eine gesellschaftliche Verankerung von 4% bis 8% der Bevölkerung blicken können. In ihren Hochburgen konnten sie immer, alleine oder in Bündnissen, kommunale Mandate erringen, darunter sogar das eine oder andere Bürgermeisteramt.

Trotz dieser erfreulichen regionalen Entwicklung bläst der Linken der Wind ins Gesicht. Das liegt daran, dass es infolge des Binominalismus auf nationaler Ebene keine wirkliche Alternative gibt. Folge ist eine immer weitergehende Entpolitisierung die sich laut chile21.cl folgendermaßen ausdrückt:

"In Las Condes gibt es ungefähr 8.000 Jugendliche zwischen 18 und 19 Jahren. Von ihnen registrierten sich mehr als 4.000 um bei den letzten Wahlen abzustimmen. In La Pintana leben auch 8.000 Jugendliche im gleichen Alter, aber weniger als 300 registrierten sich um zu wählen. Ein gleiches Muster, nicht so ausgeprägt aber systematisch, wiederholte sich in ganz Chile: die Rate der jugendlichen Registrierung war bedeutender in den Stadtteilen mit den höchsten Einkommen."

Das bedeutet, dass der Linken, aber auch der Mitte, bei Wahlen ihre natürliche Basis abhanden kommt. Wie will man Menschen, die nicht mehr erwarten, dass die Politiker etwas für sie tun können, dazu bewegen sich in die Wahlregister einzutragen?

Worauf führen die Politikwissenschaftler der Concertación die Niederlage zurück? Dazu hat das Büro Santiago der Friedrich Ebert Stiftung (FES) einiges publiziert. So die Aufsatzsammlung "CHILE en la concertación 1990-2010", in der namhafte Vertreter des sozialistischen Lagers zu Wort kommen. (Übrigens erwecken die Aktivitäten der FES in Chile den Eindruck, dass sie das Gehirn der Sozialistischen Partei ist.) In diesen Texten werden die unterschiedlichsten Gründe für die Niederlage genannt. Doch die meisten bestanden schon zur Zeit des Wahlerfolges von Michele Bachelet. Daher sind nur zwei einer eingehenderen Erörterung wert. Dabei handelt es sich um die Disziplinlosigkeit unter den Parlamentariern der Concertación und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage infolge der Weltwirtschaftskrise.


Das Chaos innerhalb der Concertación

Es mag überraschen, dass an dieser Stelle auf die von Eugenio Rivera angeführte mangelnde Disziplin der Abgeordneten eingegangen wird, aber ihr Verhalten ist zum Teil für die Enttäuschung der Wähler über die von der Concertación betriebene Politik verantwortlich. Rivera führt das Dissidententum darauf zurück, dass die Regierung Bachelet "Übereinkünfte mit der Rechten" bevorzugte. Dabei stellte sie die eigenen Abgeordneten vor vollendete Tatsachen. Das wollten sich einige von ihnen nicht gefallen lassen und rebellierten. Die Parteiführungen antworteten mit disziplinarischen Maßnahmen. So wurden aus der Christdemokratischen Partei fünf Abgeordnete und ein Senator ausgeschlossen, aus der PPD ein Senator, ein Abgeordneter und ein historischer Führer und bei der Sozialistischen Partei zwei Senatoren, ein Abgeordneter und der historische Führer Jorge Arrate. In der PS traf die Ausschlusswelle auch zahlreiche mittlere Funktionäre. Im Widerspruch dazu steht, dass ein Teil der Ausgeschlossenen, besonders aus der Christdemokratie und der PPD, wegen rechter Abweichungen gehen musste.

Was von Rivera nur als Führungsproblem diskutiert wird, ist tatsächlich ein Ausdruck von Veränderungen an der Basis des Regierungslagers. Die Enttäuschung über die ungenügenden Resultate bei der Demokratisierung des Landes und das Fortdauern der sozialen Ungerechtigkeit hat inzwischen einen Teil der Wähler der Concertación erreicht. Früher waren sie schon zufrieden wenn ihre Politiker das Land regierten. Sie akzeptierten Zugeständnisse an die Rechte damit das Militär nicht wieder aus den Kasernen kommt. Diese Zeit liegt aber fast 20 Jahre zurück. Die heutigen Erstwähler sind nach dem Rückzug des Diktators geboren. Ihnen fehlt die sinnliche Erfahrung welche Gewalt die Rechte in den Händen hält. Die Erwartungen sind gestiegen, können jedoch nicht erfüllt werden. Die Handlungsmöglichkeiten der Concertación sind bei wichtigen Fragen, z. B. der Modifizierung des ebenfalls aus der Zeit Pinochets stammenden Arbeitsgesetzbuches, ähnlich begrenzt wie bei der Wahlordnung.

Dies führt dazu, dass die Abgeordneten, um wiedergewählt zu werden, versuchen sich von der Regierung abzusetzen. Dagegen müssen die Parteiführungen einschreiten. Als Ergebnis dieser Konflikte sah sich der Kandidat der Concertación, Eduardo Frei Ruiz-Tagle (er war schon von 1994 bis 2000 Präsident), zeitweilig drei ehemals sozialistischen Mitbewerbern gegenüber. Rivera sieht den Hauptgrund für die Niederlage darin, dass es innerhalb der Concertación keine offenen Vorwahlen zwischen diesen Bewerbern gab.

Hätte eine andere Prozedur der Kandidatenfindung dem Regierungslager mehr Erfolg gebracht? Das ist zu bezweifeln. Die Unzufriedenheit mit seiner Politik hält ja schon etwas länger an. Man hätte so diese Unzufriedenheit dämpfen aber nicht aus der Welt schaffen können. Im Rückblick stellt sich die Frage warum die Concertación nie versucht hat die Grenzen der institutionellen Ordnung mittels Mobilisierung ihrer Basis zu überwinden. Wie das geht sollte sie eigentlich noch aus der Zeit der Protestbewegung gegen die Diktatur wissen. Wurde das unterlassen weil soziale Bewegungen in der Regel zu einer Stärkung der Linken führen? Oder hat die Bourgeoisie den Führungskadern der Concertación klar gemacht, dass sie in diesem Fall wieder ihre Kettenhunde von der Leine lässt?

Die politischen Probleme bei den Sozialisten führten dazu, dass von den vier Bewerbern um die Präsidentschaft drei noch vor kurzem der Concertación angehörten. Neben Frei trat Jorge Arrate für Juntos Podemos Mas (Gemeinsam Können Wir Mehr - das von den Kommunisten geführte Wahlbündnis) an. Als Unabhängiger ging Marco Enríquez-Ominami, allgemein MEO genannt, ins Rennen. MEO ist leiblicher Sohn von Miguel Enríquez, dem im Kampf gegen die Diktatur gefallenen Generalsekretär des MIR und Adoptivsohn von Carlos Ominami, einem Politiker des PS. Er wurde von Nueva Mayoría para Chile (Neue Mehrheit für Chile), einer neuen Wahlallianz, unterstützt. Aber trotz dieses familiären Hintergrundes ist Enríquez-Ominami ein klassischer Populist, von dem man nicht wirklich weiß, für was er steht.


Ein unerwartetes Bündnis

Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen gab es eine Sensation. Juntos Podemos Mas konnte eine Wahlallianz mit der Concertación eingehen. Damit befanden sich auch einige Kommunisten auf aussichtsreichen Plätzen. Anscheinend wurde davon in Chile keine große Notiz genommen, obwohl es das erste Mal gewesen sein dürfte, dass bei nationalen Wahlen Christdemokraten und Kommunisten gemeinsam kandidieren. Politische Beobachter hielten das für ein Zeichen der Schwäche auf Seiten des Regierungslagers. Es wolle sich so jede Stimme für den zweiten Wahlgang sichern. Diese Einschätzung ist sicher nicht falsch. Trotzdem fragt man sich wer oder was den traditionellen Antikommunismus der Christdemokraten überwunden hat? Schließlich ist diese Zusammenarbeit so ungewöhnlich wie wenn in Deutschland die härtesten Neoliberalen der SPD mit Sahra Wagenknecht auf einer gemeinsamen Liste stünden.

Eine mögliche Antwort führt auf die internationale Ebene. Piñera ist ein Chicago Boy. Es war zu erwarten, dass er Chile in die Gruppe der südamerikanischen Staaten einreihen wird, die der Politik der USA folgen. Das wirkt sich auch auf das Stimmverhalten in internationalen Organisationen aus. Hier werden die gegensätzlichen Interessen zwischen den USA und Europa ausgetragen. Europa, und da vor allem Deutschland als stärkste Kraft, musste also an einer weiteren Regierung der Concertación interessiert sein. Da vier Parteien der Concertación über ihre internationalen Zusammenschlüsse, Christdemokratische und Sozialistische Internationale, mit deutschen Parteien verbunden sind, kann man sich gut vorstellen, dass der entscheidende Anstoß zu diesem Sinneswandel aus Deutschland gekommen ist.

Trotzdem hat diese Wahlvereinbarung die Concertación nicht vor einer scheinbar linken Konkurrenz bewahrt. Kräfte die nach den letzten Wahlen den kommunistischen Wahlaufruf für Bachelet verurteilten formten die Nueva Mayoría para Chile. Laut Wikipedia handelt es sich dabei um die Humanistische und die Ökologische Partei, unterstützt von ein paar Gruppen die einer unabhängigen, alternativen Linken zugeordnet werden können. Ihre politische Linie wird mit Humanismus, Ökologie und Sozialliberalismus beschrieben. Trotzdem geben sie sich ziemlich links. Während das Erkennungszeichen von Juntos Podemos Mas eine Windmühle ist, geht die Nueva Mayoría para Chile mit einem Roten Stern auf Stimmenfang.

Doch das war nicht die einzige Liste mit geringen Erfolgsaussichten. Ein hauptsächlich von Regionalparteien getragener Zusammenschluss, unter der Führung des bekannten ehemaligen christdemokratischen Politikers Adolfo Zaldívar, bewarb sich mit dem Namen Chile Limpio Vote Feliz (Sauberes Chile Wähle Glücklich). Glaubt man Wikipedia ähnelt die Programmatik der von Nueva Mayoría para Chile, nur dass hier der Regionalismus den Humanismus ersetzt.

Selbstverständlich gibt es auch in der chilenischen Linken die Position der Wahlenthaltung. Sie wird am lautesten von einer neu entstandenen Organisation namens MIR vertreten, die von sich behauptet die Weiterführung des historischen MIR zu sein. Doch dieser ist in den 80er Jahren in mehrere Teile zerbrochen. Die heutige Organisation gleichen Namens kann sich durchaus in seine politische Tradition stellen, sie mag auch Mitglieder aufweisen, die schon im alten MIR aktiv waren, aber es handelt sich um eine Neugründung. Das erkennt man schon am geringen intellektuellen Niveau ihrer Stellungnahmen. Während im Punto Final für den zweiten Wahlgang zu einer Stimmabgabe zugunsten Freis aufgerufen wurde, ging der MIR auf das stichhaltigste Argument gar nicht ein. Da offensichtlich war, dass ein Präsident Piñera zur Isolierung der fortschrittlichen Länder des Kontinents beitragen wird, begründete das allein schon die Wahl seines Gegenkandidaten. Doch dieser Gesichtspunkt war für den MIR kein Thema. Sein Blick auf die Welt reicht scheinbar nicht weit über die Grenzen des eigenen Stadtteils hinaus.


Die Resultate der Stimmabgabe

Das Ergebnis ist bekannt, jedenfalls soweit es die Präsidentschaftswahl betrifft. Doch damit die Kräfteverhältnisse deutlich werden, hier die Zahlen im einzelnen. Der Kandidat der Rechten erhielt beim ersten Durchgang 44,1% gefolgt von Frei mit 29,6%. Enríquez-Ominami, ihm wurde zeitweilig sogar zugetraut den Bewerber des Regierungslagers zu überflügeln, konnte 20,1% erreichen. Jorge Arrate erzielte, bei Berücksichtigung der großen Konkurrenz, beachtliche 6,2%.

Für die zweite Runde rief Arrate erwartungsgemäß zur Wahl Freis auf. Enríquez-Ominami enthielt sich einer Empfehlung. So konnte Piñera den entscheidenden Wahlgang mit 51,6% für sich entscheiden. Seine Stimmenzahl steigerte er um eine gute halbe Million. Sie werden aus der Anhängerschaft von Enríquez-Ominami gekommen sein, da die aktive Wahlbeteiligung um knapp 20.000 Stimmen sank.

Die Parlamentswahl ergab ein etwas anderes Bild. Hier erhielt die Liste der Concertación 44,4% und lag damit vor der Rechten die nur 43,5% erzielte. Doch infolge des Wahlrechts verfügt die Rechte über 58 Mandate während es nur 57 Bewerber der Concertación ins Parlament geschafft haben. Da auch drei Kommunisten ein Mandat erhielten, verfügt die Concertación selbst nur über 54 Abgeordnete. Die Liste Nueva Mayoría para Chile konnte 4,6% einsammeln, was unter dem Ergebnis von Chile Limpio Vote Feliz liegt. Deren 5,4% ergaben aufgrund regionaler Hochburgen drei Mandate. Daneben waren noch zwei unabhängige Bewerber erfolgreich.

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass sich unter den genannten Gründen für die Niederlage der Concertación auch die Ökonomie befindet. Zu den Rahmenbedingungen dieser Wahl gehörte, dass sie am Ende eines Jahres stattfand, in dem das BIP das erste Mal seit fast 30 Jahren gefallen ist. Als Folge der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise ist es im Jahr 2009 um 1,5% geschrumpft. Die Arbeitslosigkeit stieg um 1,9 Punkte auf 9,7%. Da braucht man sich über die Ergebnisse der Untersuchung CASEM 2009 nicht zu wundern. Sie ergab, dass der Anteil der in Armut lebenden Menschen zwischen 2006 und 2009 um 1,4 Punkte auf jetzt 15,1% gestiegen ist.

Auch langfristige ökonomische Trends spielten eine Rolle. So weist Augusto Varas in seinem Beitrag zur Textsammlung der FES auf einen interessanten Zusammenhang hin. Er ermittelte die prozentuale Verteilung der Summe der jährlichen Haushaltseinkommen auf die einzelnen Regionen. Bei einem Vergleich der Werte für das Jahr 2001 und 2008 kann man so feststellen, wo die Summe der Haushaltseinkommen, im Verhältnis zu denen des ganzen Landes, gestiegen oder gefallen sind. Bei einem Vergleich dieser Tendenzen mit den dazu gehörenden Wahlergebnissen stellt Varas fest, dass in Regionen die eine Steigerung aufweisen mehrheitlich für Frei votiert wurde. Im Gegensatz dazu steht das Wahlverhalten in Gegenden mit stagnierendem oder fallendem Anteil. Hier lag Piñera vorne. Dieses Muster findet sich, mit nur einer Abweichung pro Kandidat, in ganz Chile. Offensichtlich hat ein Teil der Wähler die Regierung für diese Entwicklung verantwortlich gemacht.


Was könnte die Zukunft bringen?

Vor der Wahl wurde der Concertación bei einer Niederlage Freis ihr Auseinanderbrechen prognostiziert. Dazu ist es bisher nicht gekommen, obwohl es innerhalb des Bündnisses viel Streit gibt. Aus seinen Reihen kann man sogar recht optimistische Stimmen hören. Sie gehen davon aus, dass die nächste Wahl mit der Kandidatin Michele Bachelet, die dann wieder antreten darf, gewonnen werden kann. Diese Meinung wird von ihren guten Umfrageergebnissen getragen. Danach wollen die Meinungsforscher am Ende ihrer Amtszeit eine Zustimmungsrate von bis zu 80% der Bevölkerung ermittelt haben, die Höchste die je für einen chilenischen Präsidenten ermittelt wurde. Man darf diese Zahlen aber nicht in Wählerstimmen umrechnen. Sie drücken nur die momentane Zufriedenheit der rechten Anhängerschaft mit ihrer Politik aus. Aber nie im Leben würden diese Menschen einer sozialistischen Kandidatin ihre Stimme geben.

Realistischer erscheint da der Hinweis von Manuel Cabieses Donoso, dem Chefredakteur von Punto Final: "Piñera ist Teil einer 'Neuen Rechten', die beansprucht sich von den jüngst vergangenen Militärdiktaturen getrennt zu haben, die in Lateinamerika die Menschenrechte missachteten. Diese Rechte (die es erreicht hat ihre putschistische DNA zu verstecken) ist nach Chile gekommen um zu bleiben, zumindest ist es das was sie will."

Dafür findet sie leider gute Voraussetzungen. Der Prozess der Entpolitisierung wird weitergehen was der Rechten in die Hände arbeitet. Möglicherweise kann sie in den nächsten Jahren sogar einen Teil der Concertación auf ihre Seite ziehen. Sollte das passieren, würde sich ihre Basis so verbreitern, dass sie mittels Wahlen nur schwer wieder aus dem Präsidentenpalast zu entfernen wäre.

Die Linke, sie ist die einzige Kraft, die ein alternatives Projekt entwickeln könnte, wird dazu nicht in der Lage sein. Voraussetzung dafür ist die Überwindung ihrer Zersplitterung. Dazu braucht es aber mehr als moralische Appelle. Inwieweit die neu gewählten kommunistischen Abgeordneten eine positive Wirkung entfalten können, muss die Zukunft zeigen. Auf jeden Fall werden es soziale Bewegungen, z.B. die der Mapuche, jetzt schwerer haben. Piñera wird da mit harter Hand durchgreifen wo die Concertación mit Rücksicht auf ihre Basis zögerte.

Es darf auch nicht übersehen werden, dass die faschistoide UDI seit bald 30 Jahren Basisarbeit in den Stadtvierteln macht. Die so erarbeitete Verankerung hat sie auf der Rechten zur stärksten Partei gemacht. Die Partei des Präsidenten, RN, ist im Gegensatz dazu eine Versammlung reicher Leute. Auf mittlere Sicht wird die UDI versuchen, selbst das Staatsoberhaupt zu stellen.

Ob sie das umsetzen können wird auch davon abhängen, wie die neue Regierung mit den Folgen des Erdbebens und der Weltwirtschaftskrise fertig wird. Die Medien tun zwar alles, um die Probleme herunter zu spielen. Das muss aber nicht gelingen. So gibt es inzwischen Berichte über Protestaktionen von Arbeitern wegen des Verlustes ihrer Arbeitsplätze. Das sind erfreuliche Signale. Es ist aber zu bezweifeln, dass sie die Stärke werden entfalten können, die notwendig sein wird um der gesellschaftlichen Entwicklung eine andere Richtung zu geben.

Vermutlich kann nur eine gravierende Veränderung der ökonomischen Basis des Landes die Voraussetzung dafür schaffen. Sie würde die Gewichte zwischen den Fraktionen des Kapitals neu verteilen und damit massive Interessenkonflikte innerhalb der Bourgeoisie auslösen. In diesen Auseinandersetzungen könnte ein Sektor dazu gezwungen sein, seine Interessen im Bündnis mit der Bevölkerung zu verfolgen. Das zwingt ihn zu Kompromissen die wieder Raum für linke Politik schaffen.

Etwas ähnliches hat Chile schon einmal erlebt. Die Entwicklung der großtechnischen Haber-Bosch-Synthese von Ammoniak während des 1. Weltkrieges beendete den Salpeterboom. Dieser Exporteinbruch zusammen mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise am Ende der 20er Jahre waren der ökonomische Grund für das Einschlagen einer Richtung, die Historiker als Politik der Importsubstitution bezeichnen. Das Programm der Unidad Popular war in diesem Kontext nur seine konsequenteste Formulierung.

Im Moment sieht es aber nicht nach der Wiederkehr dieses Zyklus aus. Bei den Prognosen über den zukünftigen Kupferbedarf Chinas und Indiens braucht sich die Bourgeoisie gegenwärtig keine Sorgen über die Stabilität ihres Wirtschaftssystems machen. Doch hält die Geschichte immer Überraschungen bereit. Daher ist zu hoffen, dass die chilenische Linke in der Lage ist sich auf dem aktuellen Niveau zu stabilisieren. Das ist notwendig damit im Falle eines Falles erfahrene Kader bereitstehen um die dann sich bietenden Möglichkeiten auch zu nutzen.

Der Blick zurück auf fast ein halbes Jahrhundert sozialer Kämpfe stimmt traurig. Wieviel Kraft und Elan wurde von so vielen Menschen aufgebracht in der Hoffnung auf ein besseres Morgen. Ungezählt das Leid das die Bourgeoisie daraufhin über das Land brachte um diese Bewegung aufzuhalten. Und wie gering sind die bleibenden Erfolge dieser Kämpfe. Diese Tragödie darf von der internationalen sozialistischen Bewegung nicht vergessen werden. Aus ihren Fehlern ist für die kommenden Kämpfe zu lernen.

ENDE


[*] Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Die Teile 1, 2 + 3 sind zu finden unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Medien -> Alternativ-Presse ->
ARBEITERSTIMME/212: Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile - Teil 1
ARBEITERSTIMME/222: Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile - Teil 2
ARBEITERSTIMME/225: Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile - Teil 3


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 170, Winter 2010/2, S. 31-38
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2011