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ARBEITERSTIMME/248: Die Reallohnverluste gehen weiter


Arbeiterstimme, Frühjahr 2012, Nr. 175
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Tarifrunde 2012

Die Reallohnverluste gehen weiter



In diesem Jahr werden für mehr als 9 Millionen Beschäftigte in der Industrie, im Dienstleistungsgewerbe und in den Verwaltungen die Tarifverträge neu verhandelt. Die Marken werden dabei sicherlich wieder im größten Tarifbereich, der Metall- und Elektroindustrie mit 3,6 Mio. Beschäftigten, gesetzt. Es soll deshalb im Folgenden dieses Industrie-Segment genauer betrachtet werden. Welche Rahmenbedingungen finden wir vor und wie ist es mit der Durchsetzungskraft der in diesem Bereich wirkenden Gewerkschaft bestellt.


Reallöhne sinken

Wird in den DGB-Gewerkschaften eine Lohn- und Gehaltsforderung für eine Tarifrunde aufgestellt, so soll sie sich nach dem eigenen gewerkschaftlichen Selbstverständnis aus drei Elementen zusammensetzen. Da ist zum einen der Ausgleich der Inflationsrate, der in die Forderung einfließt, dann wird die durchschnittliche volkswirtschaftliche Produktivitätssteigerung berücksichtigt und schließlich will man, dass eine Umverteilungskomponente in der Forderung ihren Niederschlag findet - soweit wenigstens der gewerkschaftlichen Theorie nach. Die beiden erst genannten Elemente stellen den so genannten kostenneutralen Verteilungsspielraum dar. Das heißt, würde nur der Teil der gewerkschaftlichen Forderung, der die Höhe der Inflationsrate und der Produktivitätssteigerung beinhaltet, durchgesetzt, würden die Unternehmer in ihren Kosten nicht belastet. Dieser kostenneutrale Verteilungsspielraum liegt in der BRD aktuell, je nach Rechnung, bei ungefähr fünf Prozent. Nur wenn schließlich das Tarifergebnis höher als der kostenneutrale Verteilungsspielraum wäre, also in den Bereich der Umverteilungskomponente reichte, könnte man von einer Korrektur, oder besser gesagt, von einem "Korrektürchen" der Verteilungsverhältnisse zwischen Profit und Arbeitseinkommen sprechen.

Betrachten wir die Entwicklung des Volksvermögens alleine in den vergangenen zehn Jahren, so stellen wir fest, dass es tatsächlich zu einer kräftigen Umverteilung innerhalb des Volksvermögens gekommen ist. Allerdings nicht so, wie man sich das bei den Gewerkschaften vorgestellt hatte. Der gesellschaftliche Reichtum ist in diesem Zeitraum gewaltig gewachsen. Alleine in den Jahren zwischen 2002 und 2007‍ ‍stieg das Volksvermögen von 6,5 Billionen Euro auf runde acht Billionen. Der erwirtschaftete Vermögenskuchen wurde also absolut gesehen um 1,5 Billionen Euro größer. Die Stücke, die dabei auf die abhängig Beschäftigten entfielen, wurden das allerdings nicht. Im Gegenteil: Sie wurden sogar real kleiner! Konkret heißt das, dass die Reallöhne und Gehälter nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), um 4,2 Prozent gesunken sind. Dabei hätten sie, wie Michael Schlecht, Ökonom der Linkspartei im Bundestag, berechnet hat, um mindestens 11 Prozent steigen müssen (ND 6. Feb.). Erst bei dieser Steigerungsrate wäre der verteilungsneutrale Spielraum ausgenutzt gewesen.

Vor diesem Hintergrund entbehrt die Forderung von Michael Sommer auf der Jahrespressekonferenz des DGB nicht einer gewissen Komik. Er meinte, es müssten "kräftige Lohnerhöhungen her". "Mindestens" aber müssten die kostenneutralen Verteilungsspielräume abgedeckt werden. Von einer Umverteilungskomponente war bei Sommer nicht die Rede.

Dabei sieht die reale Lage innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen bei tieferer Betrachtung noch wesentlich übler aus. Bei den 4,2 Prozent, um die die Reallöhne gesunken sind, handelt es sich um einen statistischen Mittelwert, der noch relativ wenig über die wirkliche Situation aussagt. Aus dem Soziökonomischen Panel des DIW, das die inflationsbereinigten Bruttolöhne der einzelnen Jahre angibt, ist erkennbar, dass die Werktätigen, die bereits vor zehn Jahren wenig verdient haben, überdurchschnittlich von dem Reallohnverfall betroffen sind. In dem Segment der Geringverdienenden liegen die Reallohneinbußen durchschnittlich bei 9,5 Prozent. Auch der Facharbeiter- und Angestelltenbereich ist vom Reallohnverfall betroffen; allerdings begann das in den höheren Lohn- und Gehaltsgruppen erst seit dem Jahr 2005 zu wirken. Lediglich das oberste Zehntel der abhängig Beschäftigten erlitt real keine Lohnverluste, sondern konnte das reale Entgeltniveau bis jetzt (noch) halten. Es zeigt sich so, dass sich der Druck auf die Löhne von unten nach oben verallgemeinert hat und zwar unabhängig von der Konjunktur.


Eine gewollte Entwicklung

Geschuldet ist diese Entwicklung nicht zuletzt der Regierung Schröder, die 2003 die Agenda 2010 auf den Weg brachte. Mit ihr begann die wirkliche neoliberale Kapitaloffensive für Sozialabbau und Lohndumping. Neben der Verschlechterung und der teilweisen Vernichtung sozialstaatlicher Leistungen hat diese Politik nachhaltige Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen in den Betrieben gehabt. So sind heute Billigjobs und prekäre Arbeitsverhältnisse in den Betrieben allgegenwärtig. Und es scheint auch nicht so, als würde diese Entwicklung in absehbarer Zeit zu Ende sein. So arbeiten in der BRD aktuell sieben Millionen Menschen im Niedriglohnbereich. Das sind 20 Prozent der Vollzeitbeschäftigten. Besonders junge Leute sind von der Misere betroffen. Im vergangenen Jahr arbeiteten knapp 38 Prozent der 15- bis 25-Jährigen in atypischen Arbeitsverhältnissen, also als befristet Beschäftigte, Leiharbeiter und Beschäftigte mit Werkverträgen. Die meisten dieser Arbeitsverhältnisse gehören in den Niedriglohnbereich.

Viele Industriebetriebe arbeiten heute bereits mit Belegschaften, die bis zu 40 Prozent aus Leiharbeitern bestehen, wie bei BMW in Leipzig. Diese gespaltenen Belegschaften bestehen auf der einen Seite aus Festangestellten mit allen tariflichen Rechten und auf der anderen Seite aus Beschäftigten, die sich perspektivlos in prekären Arbeitsverhältnissen befinden. Das ist nicht nur ein moralisches Problem, sondern hat auch ganz praktische Konsequenzen im kollegialen Umgang miteinander. Es entsteht ein verstärktes Konkurrenzdenken unter den Beschäftigten, mit der Folge, dass solidarisches, gemeinsames Handeln gegen die Unternehmermacht schwieriger wird oder sogar nicht mehr möglich ist.

Dass das keine Phrase ist, zeigt sich in der Entwicklung der Tarifbindung der Betriebe. Immer weniger Menschen fallen heute unter den Geltungsbereich eines Tarif vertrages, weil die entsprechenden Unternehmer Tarifflucht begingen So arbeiteten nach Angaben des IAB in Nürnberg 1996 im Westen in privatwirtschaftlichen Betrieben 41 von 100 Personen (Ost: 29 Personen) zu tariflichen Arbeitsbedingungen. Im Jahr 2010‍ ‍waren es nur noch 31 Personen (Ost: 18 Personen). Nun ist die Flucht eines Unternehmers aus dem Tarifvertrag keine einseitige Angelegenheit. Das ist immer auch die Angelegenheit der betroffenen Belegschaft. Flieht der Unternehmer aus dem Tarif, stellt sich für eine Belegschaft konkret die Frage, ob sie sich das gefallen lässt. Immerhin geht es für sie um die Verschlechterung ihrer materiellen Arbeitsbedingungen. Überall dort, wo es einem Unternehmer gelungen ist, aus dem Tarifvertrag auszubrechen, war die Belegschaft offensichtlich nicht bereit, sich zu wehren und für die eigenen materiellen Interessen zu kämpfen, obwohl die Gewerkschaften bei Tarifflucht eines Unternehmers in der Regel versuchen, die Belegschaft zu mobilisieren. Ein nicht unmaßgeblicher Grund für diese Entwicklung liegt in der zunehmenden Spaltung und Entsolidarisierung der Belegschaften.

Aus dieser Quelle wird auch der zunehmende Arbeitsstress gespeist. Wenn der Kollege mehr und mehr zum Konkurrenten wird, sieht man sich gezwungen, ihn mit der eigenen Arbeitsleistung zu übertrumpfen. Auch das hat Folgen. Die in jüngster Zeit in den Medien sich häufende Berichterstattung über das "Burn-out-Syndrom" bei vielen abhängig Beschäftigten scheint zu bestätigen, dass die Menschen in den Betrieben mehr und mehr unter Druck stehen.

Für die Kapitalisten ist diese Entwicklung einfach fantastisch. So hat sich beispielsweise, wie das Statistische Bundesamt festgestellt hat, die Bruttowertschöpfung pro Arbeitsstunde (inflationsbereinigt) in der Exportindustrie von 36,60 Euro im Jahr 2000 auf 45,80 Euro im Jahr 2008‍ ‍erhöht. Das ist eine Steigerung um fast 25 Prozent! Die Erfolge des deutschen Exportweltmeisters haben also ihre Ursache im erfolgreichen Lohndumping, der Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Umverteilungspolitik von Unten nach Oben. Geht es nach den Herrschenden in diesem Lande, soll dieser "erfolgreiche" Kurs fortgesetzt und ausgebaut werden. Von der Politik ist gegen solche Pläne wenig Widerstand zu erwarten. Schließlich gebührt der SPD und den Grünen das Verdienst, das alles initiiert zu haben. Das wird auch von Merkel anerkannt. In ihrer Regierungserklärung vom November 2005 erklärte sie: "Ich möchte Kanzler Schröder ganz persönlich danken, dass er mit der Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, unsere Sozialsysteme an die neue Zeit anzupassen."


Mehr Lohn und Übernahme der Jungen nach der Ausbildung

Die IG Metall hat bereits im November letzten Jahres in der Stahlindustrie den Auftakt zur jetzt anstehenden Tarifrunde gemacht. Von der Entgeltforderung in Höhe von 6,5 Prozent setzte sie nach mehreren Warnstreikwellen 3,8 Prozent höhere Entgelte und Ausbildungsvergütungen durch. Die Laufzeit des Tarifvertrags beträgt 15‍ ‍Monate. Zusätzlich zur Entgelterhöhung wurde vereinbart, dass die Jugendlichen nach der Ausbildung unbefristet in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen werden. Das ist natürlich eine deutliche qualitative Verbesserung. Die aktuelle Praxis in den Betrieben, in allen Branchen, ist, dass nach der erfolgreichen Ausbildung nicht mehr eine Festeinstellung erfolgt, sondern eine Befristung die nächste jagt. Gegen diese Praxis hat die IG Metall bereits im vergangenen Jahr mobilisiert und bei einem Aktionstag im Oktober letzten Jahres in Köln hat die Übernahmeforderung bei der Gewerkschaftsjugend sichtbar Unterstützung gefunden.

Am 7. Februar schließlich knüpfte der IG Metall-Vorstand mit seiner Forderungsempfehlung an die Stahltarifrunde an. Den regionalen Tarifkommissionen der Metall- und Elektroindustrie empfiehlt er, die Forderung zu stellen, dass die Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen um bis zu 6,5 Prozent erhöht werden. Die Laufzeit des Vertrages soll zwölf Monate betragen. Darüber hinaus soll die unbefristete Übernahme nach der Ausbildung, wie in der Stahlindustrie, auch in der Metall- und Elektroindustrie zur Regel werden.

In einem weiteren Forderungspaket geht es um "faire" Bedingungen in der Leiharbeit. Die IG Metall will mit den Unternehmern der Metall- und Elektroindustrie vereinbaren, dass Betriebsräte, also die Interessenvertreter der Beschäftigten in den Firmen, mehr Mitbestimmungsrechte zum Einsatz von Leiharbeitern erhalten.

Soweit die anstehende Tarifforderung für die 3,4 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie. Die derzeitigen Entgelttarifverträge laufen Ende März aus. Die Friedenspflicht endet am 28. April.


Komplizierte Ausgangslage

Der Sachverständigenrat hat Ende des vergangenen Jahres für 2012 ein moderates Wirtschaftswachstum von 0,9 Prozent prognostiziert. In ihrem gemeinschaftlichen Herbstgutachten gehen die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute ebenfalls noch von einem geringen Wachstum aus, nämlich von 0,8 Prozent. Nun lagen in den vergangenen Jahren diese Herrschaften mit ihren Prognosen immer völlig daneben, doch gibt es zweifellos Indikatoren, wie den Abwärtstrend des Wirtschaftswachstums, die in Richtung Rezession weisen. Dabei ist das Risiko der momentanen Finanz- und Euro-Schuldenkrise mit dem möglichen Staatsbankrott Griechenlands noch gar nicht berücksichtigt.

Dem steht entgegen, und darauf beruft sich insbesondere die IG Metall zurecht, dass im vergangenen Jahr die Kapitalisten massive Profite eingefahren haben. Und das darf nicht verwundern, denn wie das Statistische Bundesamt Anfang Februar mitteilte, beliefen sich die deutschen Ausfuhren auf 1.060 Milliarden Euro. Dies entspricht einem Plus von mehr als elf Prozent gegenüber dem Vorjahr und einem Wachstum von 76 Milliarden Euro gegenüber dem bisherigen Rekordjahr 2008. So wird es auch, zumindest im ersten Halbjahr, trotz der Abwärtstendenzen beim Wachstum weitergehen. "Faire Löhne" fordert deshalb die IG Metall für ihre Mitgliedschaft.

"Die Beschäftigten sind in Vorleistung getreten", meinte Berthold Huber, der IG Metall-Vorsitzende, als er die Forderungsempfehlung der Öffentlichkeit präsentierte, "und haben damit den wirtschaftlichen Erfolg erst möglich gemacht. Sie haben es verdient, dass das jetzt honoriert wird".

Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegießer reagierte prompt auf Hubers Forderungsempfehlung an die Tarifkommissionen. Man müsse "die Kirche im Dorf lassen", meinte er dazu. "Drei Prozent höhere Löhne" seien möglich, "mehr auf keinen Fall". Verwundert reibt man sich da die Augen. Dass Unternehmer auf Gewerkschaftsforderungen erst einmal ablehnend reagieren, liegt in der Natur der Sache. Dass aber bereits nach der Bekanntgabe der Forderungsempfehlung des Gewerkschaftsvorstands ein Lohnangebot folgt, ist neu. Denn um nichts anderes handelt es sich, wenn Kannegießer sagt, dass drei Prozent möglich seien. Ein taktischer Schachzug der Unternehmer, der die IG Metall in keine günstige Lage bringt.

Bevor die eigentlichen Verhandlungen in den Bezirken begonnen haben, liegt zwischen der Forderung und dem Angebot eine Differenz von 3,5 Prozent. Während der Verhandlungen werden sich die Unternehmer sicher, begleitet von Warnstreiks, bewegen, allerdings nicht wesentlich. Im Stahlbereich schloss die IG Metall mit 3,8 Prozent ab. Wenn in der Metall- und Elektroindustrie, was anzunehmen ist, die Unternehmer ihr Angebot ebenfalls um rund ein Prozent erhöhen, bliebe noch eine Differenz von 2,5 Prozent. Um diese Differenz ginge es, wenn die Gewerkschaft mit einem Streik mehr durchsetzen wollte. In der Praxis wird es aber nicht gelingen und ist es bislang auch noch nie gelungen, eine Forderung zu 100 Prozent durchzusetzen. Mit einem Streik könnte man den Unternehmern vielleicht ein zusätzliches Prozent zu dem letzten Angebot abtrotzen, also nicht gerade viel. Aber Streik ist ein großes Wort. Und ein Streik verlangt von den Streikenden nicht unerhebliche Opfer. Das wissen auch die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben. Ein Streik um solch kleine Forderungsdifferenzen ist kaum noch machbar. Es ist deshalb bei der aktuellen Gemengelage wahrscheinlich, dass sich der Abschluss im Bereich der Entgelte in der Höhe des Stahlabschlusses bewegt.

Wie hat Huber gesagt? Der Tarifabschluss soll den wirtschaftlichen Erfolg durch die Leistungen der Beschäftigten honorieren. Sicher wird man den wahrscheinlichen Abschluss nicht als angemessenes Honorar bezeichnen können. Bei einem Tarifergebnis von ungefähr vier Prozent ist nicht einmal der kostenneutrale Verteilungsspielraum voll ausgeschöpft, ganz zu schweigen davon, dass eine Umverteilungskomponente zum Wirken kommen wird. Die Konsequenz steht deshalb schon jetzt fest: Die Reallohnverluste werden fortgesetzt.


Qualitative Forderungen

Neben 6,5 Prozent mehr Geld fordert die IG Metall, wie gesagt, die unbefristete übernahme von Azubis nach der Ausbildung und bessere Chancen auf Ausbildung für leistungsschwächere Jugendliche. Darüber hinaus setzt sie sich für tarifvertragliche Regelungen ein, um den Missbrauch der Leiharbeit einzudämmen. Betriebsräte, die Interessenvertreter der Beschäftigten, sollen künftig das Recht haben, mitzubestimmen, ob, wie lange und in welchem Umfang Leihbeschäftigte im Betrieb eingesetzt werden. Parallel zu den Verhandlungen mit den Metall-Arbeitgebern verhandelt die IG Metall mit den Unternehmern der Verleihbranche über fairere Bezahlung der Leiharbeitnehmer, die in Metallbetrieben eingesetzt sind. Der Forderungsansatz ist grundsätzlich richtig Die Gewerkschaften müssen bei Strafe, bedeutungslos zu werden, etwas gegen die zunehmende Spaltung in den Belegschaften tun. Die Aufhebung der Konkurrenz unter den Arbeitern und Angestellten, um gemeinsame Interessen durchzusetzen, ist die Kernaufgabe einer Gewerkschaft.

An der aber haben die Unternehmer überhaupt kein Interesse. Im Gegenteil! Mit Niedriglohn, Werkverträgen, befristeter Arbeit und Leiharbeit leben sie sehr gut. Mit diesen Beschäftigungsformen ist es ihnen, wie die Entwicklung der Tarifbindung zeigt, in den zurückliegenden Jahren gelungen, den Einfluss der Gewerkschaften und Betriebsräte zurückzudrängen. Sie werden sich deshalb mit allen Mitteln gegen diese qualitativen Forderungen wehren. Gesamtmetall wies diese Forderungen deshalb auch prompt zurück. Kannegießer meinte in einer Presseerklärung dazu, dass die bestehende Flexibilität der Unternehmen nicht eingeschränkt werden dürfe, sondern eher noch ausgebaut werden müsse. "Mit einer Begrenzung der Zeitarbeit und einer unbefristeten Übernahmepflicht für alle Auszubildenden würden wir der Metall- und Elektroindustrie einen Bärendienst erweisen. Das ist das Gegenteil dessen, was wir brauchen". Und an der weiteren "Flexibilisierung" der Betriebe arbeiten die Kapitalisten bereits äußerst zielgerichtet. So schreibt die IG Metall in einer Presseinformation, dass von vielen Betriebsräten berichtet werde, dass zunehmend mehr Beschäftigte über Werkverträge angeheuert würden. So umgehen Unternehmer die wenigen bestehenden und eventuell kommenden gesetzlichen und tariflichen Mindeststandards für Leiharbeiter. Es wird also nichts dem Zufall überlassen.


Durchsetzung nur mit Streik

Für die anstehende Tarifrunde heißt das, dass die Forderungen und hier insbesondere der qualitative Forderungsblock auf dem Verhandlungswege kaum durchsetzbar sind. Es gehört zum Einmaleins der Tarifpolitik, zu wissen, dass qualitative Forderungen, die auf den ersten Blick nur einer Minderheit etwas nützen, alleine im Geleitzug weiterer Forderungen, die das Mehrheitsinteresse der Werktätigen abdecken, durchgesetzt werden können. In der diesjährigen Tarifrunde liegt das Hauptinteresse ganz eindeutig auf der Forderung nach mehr Entgelt. Die Problematik, mit einem Streik das Forderungspaket zu erzwingen, wurde im Text oben dargestellt. Berthold Huber hat bei der Präsentation der Vorstandsempfehlung an die Bezirke die Aussage gemacht: "Für uns sind alle diese drei Forderungselemente gleichwertig". Nach Huber wird sich also die IG Metall in der Tarifrunde in der Frage der Entgelte, bei der Übernahme der Azubis und der Mitbestimmung der Betriebsräte bei der Beschäftigung von Leiharbeitern in gleichem Maße und gleicher Ernsthaftigkeit einsetzen. Das mag Hubers moralischem Selbstverständnis entsprechen, nicht aber der gewerkschaftlichen Realität. Der Verlauf der Tarifrunde wird zeigen, dass Huber seinen Anspruch aufgrund dieser Realität zurückschrauben muss.

Das gilt mit Sicherheit auch für die "fairere" Bezahlung der Leiharbeitnehmer, die in Metallbetrieben eingesetzt sind. Für diese KollegInnen sollen ja parallel mit den entsprechenden Unternehmerverbänden bessere Löhne ausgehandelt werden. "Eine weitgehende Angleichung der Löhne innerhalb der Branche ist das Ziel", so der IG Metall-Vize Detlef Wetzel gegenüber der Süddeutschen Zeitung im Februar. Wetzel geht in einem Interview auf die Lage der Leiharbeiter in der Metall- und Elektroindustrie ein und meint, die Leiharbeiter hätten ihren Anteil zum Erfolg der Branche beigetragen. Daher sei es nur gerecht, wenn sie "genauso wie die Stammbeschäftigten" davon profitieren. Da hat Wetzel sicherlich Recht. Aber Recht haben und dieses Recht durchsetzen sind bekanntermaßen zwei Paar Stiefel. Wo gilt das mehr als in einer Tarifrunde! In besagtem Artikel geht Wetzel auch auf die positive Mitgliederentwicklung der IG Metall ein. Dabei stellt er den Leiharbeiterbereich besonders heraus. Um 70 Prozent sei dort im vergangenen Jahr die Mitgliederzahl gestiegen, von rund 21.000 auf 36.000. Wer aber weiß, dass, laut Bundesagentur für Arbeit, die Leiharbeitsbranche 2011 mit 910.000 Beschäftigten einen neuen Höchststand erreicht hat, der erahnt, dass man mit einem solch geringen Organisationsgrad bei Tarifverhandlungen zu kollektivem Betteln verurteilt ist.

Am 15. Februar meldet die Stuttgarter Zeitung, dass die IG Metall Baden-Württemberg mit einer Reihe von Personaldienstleistern einen Ergänzungstarifvertrag abgeschlossen hat, der Leiharbeitern in dieser Branche mehr arbeitsrechtliche Sicherheit und mehr Geld bringen soll. Die Leiharbeiter erhalten vom ersten Tag des Einsatzes an ein Entgelt, das sich an dem Tarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie orientiert. Zudem haben sie einen Anspruch auf 30 Tage Urlaub im Jahr sowie auf Mehrarbeits- und Feiertagszuschläge.

Nanu, fragt man sich da. Es geht also doch! Offensichtlich können Tarifverträge auch ohne gewerkschaftliche Machtbasis durchgesetzt werden. Bei genauerer Betrachtung der Pressemeldung stellt man aber fest, dass die zitierte Tarifvereinbarung einen "Schönheitsfehler" hat, wie die Stuttgarter Zeitung schreibt, nämlich "... dass die großen deutschen Zeitarbeitsunternehmen im Kreis der Firmen fehlen, die diesen Ergänzungstarifvertrag unterschrieben haben. Vielmehr handelt es sich um fünf sozial orientierte oder gewerkschaftsnahe Firmen wie die Stuttgarter Neue Arbeit oder die Transfergesellschaft Mypegasus". Einen ähnlichen Tarifvertrag hat die IG Metall auch im vergangenen Herbst in der Stahlindustrie abgeschlossen und es gibt in den großen Automobilfirmen ähnliche Vereinbarungen, welche die Besserstellung von Leiharbeitern regeln.


Tariferfolge durch Korporatismus?

Solche "Erfolge" sind dort möglich, wo seit Jahren in der Branche und den Betrieben der Korporatismus gepflegt wird, also die friedliche Zusammenarbeit der Parteien, die ihrem Charakter nach antagonistische Interessen haben. In der Stahlindustrie wird in dieser Weise über das Montanmitbestimmungsgesetz bereits seit Jahrzehnten gearbeitet; in den Konzernbetrieben gewinnt mehr und mehr das Co-Management an Boden. Und eine solche Linie wird, seit der Vorstandschaft von Huber und Wetzel, in der IG Metall sichtbar gepflegt. Beide sind der Auffassung, dass ihre Politik die richtige Antwort auf die Herausforderungen der "Globalisierung" ist. Sie wollen nicht mehr "gewerkschaftliche Gegenmacht" sein, sondern den Kapitalismus mitgestalten. Neu ist dieser Weg nicht. Auch in den 60er und 70er Jahren stand der Mitgestaltungsanspruch in den Programmen der Gewerkschaften. Aber immerhin verstand man sich damals als Gegenmacht zur realen Unternehmermacht. Das halten Huber und Wetzel heute für antiquiert. Sie sehen sich als Manager und nicht länger als Arbeiterführer - auf gleicher Augenhöhe mit den Managern der Kapitalseite. Der Weg, den die IG Metall heute geht, ist der Weg der IG BCE, bei der die Kooperation mit dem Klassengegner die Gewerkschaft fast bis zur Unkenntlichkeit verkommen lassen hat. Wenn Ausgleich und Kooperation mit dem Gegner im Vordergrund stehen, meidet man die Konfrontation. Dann glaubt man an die Vernunft des "Sozialpartners" und auch daran, mit Argumenten mehr zu erreichen als mit gewerkschaftlicher Aktion, sowohl bei den Gegnern in den Verbänden und Betrieben als auch in Parteien und Regierung.

Aber alle Erfahrungen in der Geschichte der Arbeiterbewegung zeigen, dass eine friedliche Zusammenarbeit zwischen dem ökonomisch Starken und dem ökonomisch Schwachen auf Dauer nur zu Lasten der Schwachen geht. Der ökonomisch Stärke verzichtet bei diesem Korporatismus nicht auf seine Machtstellung, die auf seinem Kapitaleigentum beruht. Die Gewerkschaften dagegen geben bei dieser friedlichen Zusammenarbeit ihr einziges Druckmittel, den Klassenkampf, aus der Hand.


Lob der Kapitalisten

Die Metamorphose der IG Metall von einer relativ kämpferischen Organisation zum "Friedensengel" wird von den Kapitalisten und ihren politischen Handlangern in Parteien und Regierung natürlich gerne gesehen. Das wird für die Öffentlichkeit sichtbar in den Schmeicheleien der Merkel und des Bundespräsidenten auf dem vergangenen Gewerkschaftstag der IG Metall.

Wulff unterstrich am Auftaktabend des Gewerkschaftstages die Bedeutung der Gewerkschaften. Er meinte, es sei auch ein Verdienst der Arbeitnehmerorganisationen, dass die Wirtschaft nach der Krise weltweit einzigartig dastehe. "Sie haben Maß gehalten in Zeiten, als andere jegliches Maß verloren haben", lobte Wulff laut Stuttgarter Zeitung.

Zwei Tage später haute Merkel in dieselbe Kerbe. Sie führte aus, dass ihr Ziel gewesen sei, "dass Deutschland stärker aus dieser Krise hervorgehen soll, als es hineingegangen ist. Das ist erreicht worden - auch mit Hilfe der IG Metall. In einem Gemeinschaftswerk von Wirtschaft, Gewerkschaft und Politik ist uns das gelungen". Das "vertrauensvolle Miteinander" und die "Sozialpartnerschaft", hätten sich bewährt, so die Kanzlerin.

Zu der Lobhudelei hat man anschließend nicht nur aus Höflichkeit den Staatsrepräsentanten gegenüber geschwiegen. Weder von den Vorstandsmitgliedern, noch von einzelnen Delegierten kam dazu ein negativer Kommentar. Wahrscheinlich hat man sich, zumindest in der Vorstandsspitze, in seiner Politik bestätigt gesehen. Und das Ganze hört nicht auf.

Allenthalben häuft sich die positive Berichterstattung in den bürgerlichen Medien zur Politik der IG Metall. Die beiden Vorsitzenden werden geradezu mit Lob überschüttet. So bezeichnet das Handelsblatt in einem Portrait des IGM-Vize Wetzel, diesen als "einen begnadeten Organisator schlagkräftiger Kampagnen". Und die FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND widmet in der Reihe "Dream-Teams der deutschen Wirtschaft" Huber und Wetzel im Februar einen Artikel. Dort steht über die beiden geschrieben: "Die beiden Vorsitzenden der IG Metall bauen Europas mächtigste Gewerkschaft um. Sie sind keine Dogmatiker, sondern Pragmatiker - und haben durch neuartige Tarifverträge geholfen, Deutschland wettbewerbsfähiger zu machen. Sogar die Kanzlerin ist begeistert." In dem Artikel kommt auch Martin Kannegiesser, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, zu Wort, der sich sehr zufrieden zeigt, dass sich Huber 2003‍ ‍gegen seinen "links-ideologischen Kontrahenten Jürgen Peters" durchgesetzt hat. Sein Verhältnis zu Huber gilt als entspannt, die Klassenkampfzeiten sind passé so die Zeitung.

Dabei stehen sie erst noch bevor! Für die beiden Vorsitzenden jedoch scheint das zu stimmen. Sie haben den Klassengegner zu ihrem Partner gemacht. Deshalb kommt ihnen auch nicht das alte Bebel-Zitat in den Sinn "Wenn dich deine Feinde loben, hast du etwas falsch gemacht".


Arbeiterbewusstsein heute

Bei der Mitgliedschaft trifft der Kurs der Gewerkschaftsführung offensichtlich auf Akzeptanz. Die IG Metall ist im DGB eine der wenigen Gewerkschaften, die im vergangenen Jahr einen deutlichen Mitgliederzuwachs hatte. Die Frage allerdings ist: wegen oder trotz des Kurses der Führung? Die Frage lässt sich allerdings nicht einfach beantworten.

Junge Welt, UZ und Neues Deutschland berichteten vor kurzem über eine Untersuchung der Universität Jena. Der Soziologe Klaus Dörre hat mit seinem Forschungsteam die Thematik "Klassenbewusstsein in der Krise" aufgegriffen und insgesamt 2.074 Arbeiter in Ost- und Westdeutschland befragt. Dabei ergaben sich deutliche Unterschiede im Denken zwischen Ost und West. Hier interessieren aber nur die Gemeinsamkeiten, die in beiden Landesteilen bestehen.

Das wichtigste Ergebnis der Studie, für Gewerkschafter wenig überraschend, ist: Die tiefe wirtschaftliche Krise stellt sich selbst für die Beschäftigten in relativ stabilen Industrie- oder Dienstleistungsbetrieben mit "sicheren" Arbeitsverhältnissen als dauerhafte Infragestellung und Bedrohung der eigenen Existenzgrundlagen dar (UZ). Das führt bei mehr als der Hälfte der Befragten zu der Meinung, dass die heutige Wirtschaftsweise "auf Dauer nicht überlebensfähig" sei. Dieser durchaus kapitalismuskritische Bewusstseinsansatz ist allerdings von ambivalentem Charakter. Er setzt sich nicht ohne weiteres in politisches und aktives gewerkschaftliches Engagement um. Zwar wird das Wirken der Gewerkschaft grundsätzlich für gut befunden, aber es kommt trotzdem zur Entsolidarisierung der Belegschaften. Für viele geht es in diesen Zeiten nur noch darum, die eigene Haut zu retten. Vor allem Arbeiter in der Alt-BRD stimmen der Aussage zu: "Es reicht nicht mehr für alle". Und nicht jeder - zum Beispiel Leiharbeiter - könne noch "mitgenommen" werden.

So wundert es nicht, dass sich bei den Stammbelegschaften eine Art Wagenburgmentalität entwickelt: "Die eigenen Chancen auf Beschäftigungssicherheit steigen, wenn man den Club der Festangestellten einigermaßen exklusiv hält" (jW).

Man kann einem Huber und einem Wetzel sicher nicht die Schuld für die aktuelle Bewusstseinshaltung ihrer Mitgliedschaft geben. Aber sie tun auch nichts, um dies zu ändern. Im Gegenteil: mit ihrem politischen Kurs der Anpassung an das Kapital und der Zusammenarbeit mit dem Kapital verfestigen sie nur noch dieses Bewusstsein. Wie auf dieser Basis in der vor uns liegenden Tarifrunde eine Haltelinie gegen die weitere Prekarisierung der Arbeit gezogen werden soll, steht in den Sternen.

Stand 16. Februar 2012

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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 175, Frühjahr 2012, S. 1+3-8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2012