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ARBEITERSTIMME/319: Türkei - Massaker und Staatsterror


Arbeiterstimme Nr. 190 - Winter 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Türkei
Massaker und Staatsterror


Als dieses Referat Ende Oktober gehalten wurde, stand die Türkei kurz vor den zweiten Parlamentswahlen. Bei den ersten Wahlen am 7. Juni 2015 verlor die ALP neun Prozent ihrer Wählerschaft und hatte mit knapp 40 Prozent keine regierungsfähige Mehrheit erreicht. Das lag vor allem am Wahlerfolg der HDP - Demokratische Partei der Völker - ein Wahlbündnis von kurdischen und linken türkischen Organisationen. Die Partei konnte mit 13 Prozent der abgegebenen Stimmen die zehn Prozent-Hürde auf Anhieb überwinden. Damit waren die Pläne von Staatspräsident Erdogan und seiner AKP in der Türkei ein Präsidialsystem nach US-amerikanischem Modell einzuführen gescheitert.

Das war eine Sensation, der Einzug der HDP war zwar erwartet worden, doch nicht so deutlich. Vor allem die Stimmverluste der AKP von fast zehn Prozent fielen unerwartet hoch aus. Ein Teil dieser Stimmen, ca. 3,3 % gingen an die faschistische MHP, der Rest wohl an die HDP.

Dass die HDP so erfolgreich war, lag zum einen daran, dass die AKP wegen ihrer Syrien-Politik und ihres Verhaltens gegenüber den kurdischen Selbstverwaltungsgebieten in Syrien unter der konservativen kurdischen Bevölkerung stark an Zustimmung verlor, zum anderen gab es für die säkularen und linken Teile der Bevölkerung mit der HDP eine Partei, die sie weitestgehend ohne große Bauchschmerzen wählen konnten. Eine große Rolle für den Erfolg der Partei spielte auch das weitverbreitete Unbehangen über die zunehmende Verschmelzung der Regierungspartei AKP mit dem Staat und das immer repressivere, Gerichtsurteile ignorierende Vorgehen.

Dass Staatspräsident Erdogan und seine AKP mit dem Ausgang der Wahlen nicht zufrieden waren, lag auf der Hand. Die für eine Regierungsbildung vorgesehenen 45 Tage ließen sie verstreichen, damit durch Neuwahlen die Ergebnisse in ihrem Sinne korrigiert werden würden.

Den folgenden Wahlkampf führte die AKP sehr aggressiv. Um die an die faschistische MHP verlorenen Wählerinnen und Wähler zurück zu gewinnen, versuchten sie diese an nationalistischem und faschistischem Vokabular noch zu überbieten. Sie mobilisierten ihren Parteimob gegen HDP-Parteibüros und Kundgebungen, griffen missliebige Zeitungsredaktionen und Journalisten an, zerschlugen kurzer Hand ganze Konzerne unter fadenscheinigen Argumenten um deren Zeitungen und Fernsehsender in die Hand zu bekommen. Im Verlauf des Wahlkampfes wurden über 400 HDP-Büros niedergebrannt oder anderweitig zerstört. Auf Kundgebungen und Wahlkampfbüros der HDP wurden Bombenanschläge verübt, mehrere Menschen wurden ermordet.

Am 20. Juli wurden in Suruç an der Grenze zu Syrien durch Selbstmordattentäter 32 Mitglieder einer sozialistischen Jugendorganisation, die für den Wiederaufbau nach Kobanê reisen wollten, ermordet. Daraufhin eskalierten auch die militärischen Kämpfe zwischen der PKK und der türkischen Armee und Sondereinheiten der Polizei. Schon einige Tage später bombardierten türkische Flugzeuge zum ersten Mal seit 2011 wieder PKK-Stellungen im Nordirak.

Verschiedene Berufsverbände, Gewerkschaften und sozialistische und demokratische Parteien forderten auf Kundgebungen und Demonstrationen einen Waffenstillstand und Gespräche für die friedliche Beilegung des Konflikts. Am 10. Oktober starben auf der Auftaktkundgebung einer Friedensdemonstration in Ankara unter dem Motto "Arbeit, Frieden und Demokratie" durch zwei Selbstmordattentäter über 100 Menschen. Unter diesen Umständen sagte die HDP alle ihre Wahlkampfveranstaltungen ab, nachdem Sicherheitskräfte gewarnt hatten, dass weitere Anschläge geplant seien. Natürlich richtete sich diese massive Gewalt nur gegen linke Organisationen und kurdische Einrichtungen.

In dieser Situation, in einer Atmosphäre von Gewalt und Angst fanden die Wahlen statt. Die AKP bekam fast 50 Prozent der Stimmen und kann die Regierung alleine stellen. Die HDP und die faschistische MHP verloren an Stimmen, sind aber weiterhin im Parlament vertreten.

Der Krieg im Osten der Türkei eskaliert weiter, viele kurdische Städte und Gemeinden haben ihre Autonomie erklärt, der türkische Staat antwortete darauf mit der Mobilisierung der Armee und der Verhängung von Ausgangssperren. Ganze Städte werden tagelang von der Außenwelt abgeschnitten und mit schwerer Artillerie und Panzern beschossen. Der Frieden scheint weiter entfernt zu sein, als je zuvor.

Doch ist die Eskalation der Gewalt nicht der einzige Grund für den Erfolg der AKP. Es ist offensichtlich, dass seit über einem Jahrzehnt über 40 Prozent der Menschen in der Türkei keine Alternative zur AKP sehen. Zusammengezählt bekommen die rechten Parteien regelmäßig über 60 Prozent der Stimmen. Das zu ändern bedarf großer Anstrengungen, vor allem muss die türkisch-kurdische sozialistische Linke ihr Augenmerk wieder verstärkt auf die Arbeiterklasse richten.

20.12.2015

 Die Wahlergebnisse 
 7. Juni 2015: 
Partei
Stimmen in %
Sitze
AKP
CHP
MHP
HDP
40,8
24,9
16,2
13,1
258
132
80
80

 Die Wahlergebnisse 
 1. November 2015: 
Partei
Stimmen in %
Sitze
AKP
CHP
MHP
HDP
49,5
25,3
11,9
10,8
317
134
40
59

AKP: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung
CHP: Republikanische Volkspartei
MHP: Partei der Nationalistischen Bewegung
HDP: Demokratische Partei der Völker

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HDP - Halkları Demukratik Partisi

Die AKP war unter anderem in der Absicht zu den Wahlen angetreten ein "Präsidialsystem türkischer Art" einzuführen. Dafür ist eine Verfassungsänderung notwendig und für diese bedarf es einer 3/5 Mehrheit im Parlament, die die AKP mit 258 gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentariern am 7. Juni weit verfehlte. Alle anderen Parteien wollten von einem Präsidialsystem, nach welcher "Art" auch immer, nichts wissen. Die größte Gefahr für die angestrebte verfassungsändernde Mehrheit der AKP ging vom Einzug einer vierten Partei ins Parlament aus, weil damit die Sitzverteilung zuungunsten der AKP ausfallen würde. Diese Partei war das Wahlbündnis HDP.

Zu den Parlamentswahlen 2011 war noch ein Bündnis (Emek, Demokrasi ve Özgürlük Blogu - Block der Arbeit, Demokratie und der Freiheit) mit unabhängigen Kandidaten angetreten. Die stärkste Organisation in diesem Bündnis war die kurdische BDP, daneben hatten sich unterschiedliche sozialistische Parteien, die Grüne Partei, feministische Gruppen und weitere zusammen gefunden. Im Herbst 2013 wurde die HDP gegründet und die Mitglieder des Bündnisses traten in die neugegründete Partei ein. Auf diese Weise bekam die HDP eine Parlamentsfraktion, ohne an Wahlen teilgenommen zu haben.

Die HDP steht innerparteilich vor einigen Problemen. Einerseits versucht sie auch die konservativen (muslimisch-sunnitischen) Kurdinnen und Kurden zu mobilisieren und macht dafür Zugeständnisse bei der Aufstellung der Kandidatinnen und Kandidaten. Dies führt zu Konflikten mit alewitischen und säkular-atheistischen Kreisen. Zum anderen wird sie von großen Teilen der türkischen Bevölkerung als eine PKK-Organisation angesehen. Zudem sind ihre Verbindung zu Gewerkschaften sehr dürftig. Im Grunde genommen ist die Organisation einzig aufgrund der 10-Prozent-Hürde bei den Wahlen entstanden, da die kurdische BDP alleine diese Hürde in absehbarer Zeit nicht überwinden würde. Ihre natürlichen Bündnispartner können nur aus den türkischen sozialistischen Organisationen kommen. Diese aber haben andere Ziele, den Sozialismus. So ist die HDP in ihrer jetzigen Form irgendetwas zwischen Einheits- und Volksfront.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 190 - Winter 2015, Seite 11 bis 12
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2016

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