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ARBEITERSTIMME/331: Die Türkei ist ein idealer Feind und Partner für die EU


Arbeiterstimme Nr. 192 - Sommer 2016
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Die Türkei ist ein idealer Feind und Partner für die EU.


Nach Chile wurde 1979 in der Türkei der Versuch unternommen ein neoliberales Programm umzusetzen. Auf Druck der IWF beauftragte die Minderheitsregierung unter dem späteren Staatspräsidenten Demirel eine Kommission mit der Ausarbeitung eines Programms, um die hohe Inflation unter Kontrolle zu bekommen, die Auslandsverschuldung zu mindern und die Wirtschaft zu beleben. Die so genannten "Stabilitäts-Beschlüsse" sollten eine radikale Wende der bisherigen Wirtschaftspolitik des türkischen Staates einleiten. Vorgesehen war, die Subventionen für die Landwirtschaft, für öffentliche Verkehrsmittel, Grundnahrungsmittel und ähnliches auf zu heben und das Privatkapital zu stärken. Die Wirtschaft sollte stärker auf Exporte ausgerichtet werden, die Zinsen-, Devisen- und Importbestimmungen sollten liberalisiert und die türkische Lira abgewertet werden. Nachdem diese Maßnahmen in Zusammenarbeit mit dem IWF und dem Ministerpräsidenten ausgearbeitet worden waren, stellte die Kommission sie dem engen Kreis des Nationalen Sicherheitsrates, also den obersten Militärs, vor. Mit der Zustimmung das Sicherheitsrates wurden die Maßnahmen am 24. Januar beschlossen und die türkische Lira über Nacht um fast die Hälfte abgewertet.

Die Folgen dieser Maßnahmen waren unter anderem extreme Preis-Steigerungen.

Die Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaften waren in den 70er Jahren immer militanter und selbstbewusster aufgetreten. Der Anteil der Löhne am nationalen Einkommen stieg in diesen Jahren stetig. Die Reaktion der Gewerkschaften auf die steigende Inflation und Preise waren Streiks für höhere Löhne. 1980 war das Jahr, in dem die meisten Streiks stattfanden. Es war klar, dass unter diesen Umständen die geplante ökonomische Neuausrichtung des Landes nicht umzusetzen war.

Als in den Morgenstunden des 12. September die Militärs putschten, waren zehntausende Arbeiter_innen noch im Streik. Eine der ersten Maßnahmen der Putschisten war es deshalb die Streiks und anschließend die Gewerkschaft DISK zu verbieten. Jahre später sagte der Putschgeneral Evren in einem Interview: "Wenn nach dem 24. Januar, nach den so genannten Stabilitäts-Beschlüssen nicht die 12. September-Phase gekommen wäre, wären die ganzen Maßnahmen zur Makulatur geworden, es hätte in einem Fiasko geendet. Nur das strenge militärische Regime stellte den Erfolg dieser Maßnahmen sicher." (Milliyet, 7.1.1991)

Der Putsch 1980 hatte zum Ziel die Macht der Gewerkschaften, der Arbeiterklasse zu brechen und damit das neoliberale Programm des Kapitals durchzusetzen. Mit dem ersten Teil waren sie sehr erfolgreich. Bis heute hat sich die türkische Arbeiterbewegung von den Folgen der Repression durch den Putsch nicht erholt. Obwohl heute über 16 Millionen Lohnabhängige beschäftigt sind, ist die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder geringer als vor dem Putsch 1980.

1983 fanden die ersten Wahlen nach dem Militärputsch statt. Die Parteien, die vor dem Putsch bestanden hatten, waren aufgelöst und von den Wahlen ausgeschlossen. Die Wahlen gewann die Partei von Turgut Özal, dem Architekten der neoliberalen Stabilitäts-Beschlüsse. Vor dem Putsch war er Berater des Ministerpräsidenten Demirel und Vorsitzender des türkischen Metallunternehmerverbandes (MESS). Unter seiner Regierung fand der erste grundlegende Wandel statt: Die Finanz- und Außenhandelspolitik wurden radikal geändert, Importbeschränkungen wurden abgebaut, mit der Privatisierung von staatlichen Unternehmen begonnen und ausländische Investitionen stark erleichtert.

Die neoliberale Ausrichtung der Wirtschaft ging allerdings nicht sehr schnell voran. Die Gründe waren unterschiedlich. Zum Leidwesen der Herrschenden kam der Krieg in Kurdistan dazwischen, der die Regierungen davon ablenkte sich auf die Privatisierungen zu konzentrieren und der zudem enorme finanzielle Kosten verursachte. Zum anderen waren die Versuche, das Finanzsystem zu liberalisieren immer wieder von einer Hyper-Inflation und Banken- und Finanzkrisen begleitet, die türkische Lira fiel in das Bodenlose. Betrug der Wechselkurs noch 1970 gegenüber dem Dollar 1:13, war es im Jahr 2002 1:1.490.000.

Die Vollendung dieses neoliberalen Projektes sollte der AKP vorbehalten bleiben. Die AKP erfüllt nun das, was den Putschisten von 1980 eigentlich vorschwebte, aber weder ihnen noch den Regierungen danach gelungen war.

Die AKP kam 2002 an die Macht, nach einer sehr schweren Wirtschaftskrise in der Türkei in den Jahren 1999 und 2000 in deren Verlauf mehrere Banken pleite gingen. Über Nacht machten eine halbe Million, vor allem Kleinbetriebe, Werkstätten und Einzelhändler dicht und es gab auf einen Schlag eine Million Arbeitslose mehr. Am Ende dieser Krise, nachdem die Pleitebanken verstaatlicht und die Kosten vom Staat übernommen worden waren, bekam die AKP bei den Parlamentswahlen, zu denen sie zum ersten Mal antrat, 34 Prozent der Stimmen und - aufgrund des Wahlrechts - die absolute Mehrheit der Sitze.

Mit der absoluten Mehrheit im Parlament konnte die AKP anders agieren, als die Regierungen in den Krisenjahren zuvor. Die Politik der Deregulierung und Privatisierung bekam jetzt einen neuen Schub. Der in der Türkei traditionell starke Staatsbesitz von Industrieunternehmen wurde radikal zurückgefahren. Betriebe in der Petrochemie, der Stahl- und Zementherstellung, in der Nahrungsindustrie, die türkische Luftfahrtsgesellschaft THY, Flughäfen, die Türk-Telekom und viele weitere wurden an Privatunternehmen verkauft. Von den Bosporusbrücken bis zu Autobahnen, alles was zur privaten Reichstumsvermehrung geeignet schien, wurde verscherbelt. Noch nicht betroffen ist bisher die staatliche Eisenbahn, weil diese sich derzeit noch in desolatem Zustand befindet. Aber es wird beispielsweise am Ausbau des Streckennetzes gearbeitet und es ist absehbar, dass nachdem genug staatliche Gelder investiert wurden, auch hier nach Investoren gesucht werden wird.

Die AKP hat außerdem vor allen Dingen die Bauwirtschaft extrem forciert. Neben Megaprojekten wie neue Bosporus-Brücken und -Tunnel oder Groß-Staudämme, sind es vor allen Dingen neue Viertel mit den Ausmaßen von Kleinstädten, die in der Peripherie der Großstädte ständig neu entstehen. Seit der Mechanisierung der Landwirtschaft gibt es eine ständige Landflucht, der Krieg in Kurdistan in den 90er Jahren hat den Zuzug in die Großstädte nochmals verstärkt. Istanbul hatte z.B. noch in den 50er Jahren nicht einmal eine Million BewohnerInnen, heute sind es offiziell über 14 Millionen, inoffiziell 18 Millionen.

Für die wirtschaftliche Entwicklung, für die das Land auch gelobt wird, braucht die Türkei allerdings permanent ausländisches Kapital. Das Land konsumiert mehr, als es produziert. Mit acht bis zehn Prozent Leistungsbilanzdefizit ist die Türkei Spitzenreiter aller Staaten! Die Türkei ist zwar sehr erfolgreich in dem neoliberalen Projekt, allerdings steht das Ganze auch auf tönernen Füßen. Sobald der Kapitalzufluss unterbrochen zu werden droht, werden die Herrschenden sehr nervös. Die wirtschaftliche Entwicklung beruht auf dem ausländischen Kapital, das permanent fließen muss.

Neben dem Boom der Bauwirtschaft, ist die positive wirtschaftliche Entwicklung auch auf inländischen Konsum zurückzuführen. Dieser Konsum beruht auf Krediten. Es gibt eine riesengroße Blase privater Kredite. Angehörige der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums haben in der Regel mehrere Kreditkarten zwischen denen ständig umgeschuldet wird. Die Löhne sind bis weit in die 2000er Jahre noch unter dem Vorputschniveau gewesen. Das hat sich in den letzten Jahren etwas geändert, trotzdem wird die Schere zwischen Wohlhabenden und Armen immer größer. Wie lange dieser Zustand noch anhalten kann, hängt vor allem von der globalen Wirtschaft ab. Sobald die Rohstoffpreise steigen oder die Zinsen in den Industriemetropolen anziehen, stehen der türkischen Wirtschaft wieder mal schwere Zeiten bevor.

Der kulturelle Kampf

Die AKP und Erdogan haben es in den 14 Jahren ihrer Regierungszeit verstanden eine Klientelwirtschaft aufzubauen. Das fängt damit an, dass sie sich die Wählerschichten mit milden Gaben, die von Zeit zur Zeit verteilt werden, gewogen zu halten und reicht bis dahin, dass unbotmäßige Unternehmen unter absurdesten Vorwürfen kaltgestellt werden. Bekannt sind die Enteignung von großen Unternehmen im Frühjahr, die angeblich einer terroristischen Organisation angehören sollen. So wurden mehrere Kapitalgruppen unter staatliche Kontrolle gestellt und oppositionelle Medienhäuser zerschlagen.

Faktisch gibt es heute in der Türkei keine großen Medien mehr, die nicht auf Regierungslinie sind. Die wenigen vor allem linken Zeitungen und Sender, die noch dagegen halten, sind immer wieder durch die Verhaftung ihrer MitarbeiterInnen und hohe Geldstrafen in ihrer Existenz bedroht.

Daneben werden die Angriffe auf die erkämpften Rechte der Frauen, der Arbeiterklasse und Minderheiten immer schärfer. Die AKP-Regierung macht alles um das erklärte Ziel von Erdogan, eine gläubige Jugend heran zu bilden zu erreichen. Das Alkoholkonsum wird strikt reguliert, die Anzahl der theologischen Gymnasien steigt stetig, Wohngemeinschaften, in denen junge Frauen und Männer zusammen wohnen, werden als unsittlich denunziert. Bei jeder Gelegenheit werden das Gebären und die Aufzucht der Kinder als die wahren Bestimmungen der Frau beschrieben und Frauen, die keine Kinder haben, verunglimpft. Diese Aufzählung ist natürlich unvollständig und es ist ermüdend über die absurden, reaktionären Ergüsse dieser Herrschaften zu schreiben.

Der Krieg in Kurdistan forderte seit dem Neuaufflammen der Kämpfe vor einem Jahr schon tausende Menschenleben und die Kämpfe gehen weiter. Bilder mancher Stadtviertel in Kurdistan erinnern an den Krieg in Syrien: Zusammengeschossene Häuser, Militärpanzer in Ruinen, kein Schulunterricht weil in den Schulgebäuden Militärs stationiert sind.

Im Mai beschloss das Parlament auf Betreiben von Erdogan eine Verfassungsänderung, um die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten zu ermöglichen. Natürlich ist das vor allem gegen die HDP gerichtet. Gegen 50 von ihnen laufen Ermittlungen im Zusammenhang mit Antiterrorgesetzen. Die Verurteilungen würden die Machtverhältnisse im Abgeordnetenhaus ändern, und Erdogan seinem Ziel, einem präsidialen Staat, näher bringen. Nebenbei hätte er Rache an den kurdischen und linken Abgeordneten genommen.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 192 - Sommer 2016, Seite 23 bis 24
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2016

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