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AUFBAU/214: Prekarisierung - "Zu oft ihr Maul aufgemacht"


aufbau Nr. 56, März/April 2009
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Prekarisierung
"Zu oft ihr Maul aufgemacht"


INTERVIEWREIHE - Wir haben uns mit zwei Frauen getroffen, die im Verkauf arbeiten. Sie haben viel erzählt. Von der Arbeit an der Kasse, von den Kameras und Taschenkontrollen. Davon, dass es kaum möglich ist, keinen Fehler zu machen, und dass sie sich nicht alles gefallen lassen.


(agfk) FRAGE: Sabine du arbeitest in einem grossen Non-Food-Detailhandelsmarkt [1]. Vor einigen Wochen sind dort ziemlich viele Leute entlassen worden. Was ist passiert?

SABINE: Im Ganzen haben sie von ca. 100 Leuten 8 geschmissen, innerhalb von 2 Wochen. Aus unterschiedlichen Gründen. [2] Zuerst ist schon Panik rumgegangen bei den Leuten und die Angst: Vielleicht bin ich morgen auch nicht mehr da? Alle sind freigestellt worden. Es ist schon Scheisse. Aber sicher angenehmer als fristlos entlassen. Wahrscheinlich reichten die Gründe nicht, um sie fristlos zu entlassen.

FRAGE: Anna, du bist seit gut 3 Jahren an einer 24 Stunden Tankstelle. Sind bei euch auch Leute entlassen worden?

ANNA: Ja, vor ein paar Tagen haben sie einen Kollegen fristlos entlassen. Mir ist schon länger aufgefallen, dass er nicht so gut stand beim Chef. Die Kündigung kam dann wegen einem komischen Vorfall. Ich glaube nicht, dass das wirklich ein Kündigungsgrund ist. Aber keiner sagt etwas.

FRAGE: Müsst ihr flexibel sein oder habt ihr geregelte Arbeitszeiten?

ANNA: In letzter Zeit ist es ein bisschen häufiger vorgekommen, dass Leute einfach nach Hause geschickt wurden, weil es zu wenig Arbeit gab. Aber du wirst gefragt. Wenn du von weit her kommst, ist das schon sehr ärgerlich. Und wenn du noch nicht soviel Stunden hast, dann macht es was aus.

SABINE: Ja, also an der Kasse ist es extrem. Wenn sie dich brauchen, dann musst du einfach kommen und je nach dem, wenn es nicht läuft, dann schicken sie die Leute heim. Bei uns in der Abteilung ist es nicht so schlimm.

FRAGE: Dürft ihr Fehler machen?

SABINE: Gerade an der Kasse ist es recht streng. Ab einer bestimmten Differenz musst du mit dem Chef reden. In Situationen wie samstags darfst du wirklich nichts falsch machen, hast aber beschissene Arbeitszeiten und kaum eine Pause. Die an den Kassen werden richtig schikaniert.
Man würde nicht denken, dass so ein grosser Verein so extrem chaotisch ist, extrem. Wir haben zurzeit zu wenig Leute in der Abteilung und versinken im Chaos. Es passieren Sachen, die nicht passieren dürften. Die Chefs haben das Gefühl, es geht auch mit wenig Leuten. Und du merkst, es funktioniert, Wenn ein Kunde kommt, rennen wir. Aber dann bleibt andere Arbeit liegen. Da sind sie selber schuld. Wenn es nicht geht, dann geht es nicht mehr. Das müssen die auch mal sehen. Und irgendwann hast du einen Unmut in dir, weil du nicht sagen kannst, dass dich das stört, dass es zu wenig Leute hat, dass es zu chaotisch ist und dass das einfach nicht geht.

ANNA: Ich habe wenig Angst, dass ich einen Fehler mache und deshalb entlassen werde. Ich kenne meine Rechte. Zum Beispiel als mal einer abgefahren ist, ohne zu zahlen, da wollte der Chef, dass ich dafür aufkomme. Ich habe gesagt, dass ich dies nicht muss. Und dann war das gegessen. Die anderen, die das nicht wussten, die haben natürlich gezahlt. Ich habe nicht die Angst, gekündigt zu werden, da soll er mal kommen, dann komme ich mit dem Rest. Dann suche ich eine andere Arbeit. Das kann natürlich eine Mutter mit Kindern nicht so einfach sagen.

FRAGE: Gibt es viele Frauen und viele temporär Angestellte?

SABINE: Ja, an der Kasse hat es nur einen Mann. Sonst in den Abteilungen hat es nicht so viele Frauen. Temporäre hat es jetzt noch ein paar. Die Anderen sind ja alle entlassen worden. Sie werden schauen müssen, denn wir sind zu wenige Leute. Aber es ist easy, ein paar Temporäre anzustellen und dann wieder zu entlassen. Das werden sie wieder machen.

ANNA: Es arbeiten im Moment nur Frauen dort. Wir sind alle im Stundenlohn angestellt und haben den gleichen Vertrag, was die Arbeitsbedingungen betrifft. Es gibt Leute, die 100% oder sogar mehr arbeiten. Und dann gibt es viele, die nebenbei arbeiten, z. B. Mütter, die dann am Abend kommen. Die haben dann ihre festen Tage und Zeiten. Und ein anderer Teil vom Personal muss flexibel sein, darf also nicht so viele Freiwünsche und Einschränkungen haben. Das wird akzeptiert, damit sind alle einverstanden. Ausser bei zwei Leuten, die werden bevorzugt mit den Schichten, so haben wir den Eindruck. Solange aber alle teamkonform arbeiten, gibt es keine schlechte Stimmung. Wichtig ist, dass man aufeinander schaut und miteinander redet.

FRAGE: Wird sich viel gewehrt?

SABINE: Die an der Kasse haben sich teilweise recht beschwert. Auch zu recht. Ich weiss nicht, wie weit sie gegangen sind. Du hast genaue Vorschriften, wo du dich beschweren darfst. Ziemlich krank. Und die, die sich zu fest wehren, bekommen dann auf die Fresse. Eine Kollegin, die hat ihr Maul zu oft aufgemacht, ihr wurde dann gekündigt. Eigentlich wegen einer Kleinigkeit, aber sie war zu unbequem. Man weiss langsam, dass man nichts machen darf, wenn man weiterhin dort arbeiten will. Das ist jetzt endgültig allen klar.

ANNA: An der Tankstelle, wo ich vorher war, hatten wir kaum Pausen und waren nur am Rennen. Wenn dann der Chef nicht da war, haben wir gegessen ohne auszustempeln. Wir haben das Essen oft auch nicht gezahlt. Auch wenn der Chef da war, habe ich eine Zigarettenpause gemacht, das war mir egal.

FRAGE: Fühlt ihr euch als Team?

ANNA: Die Identifikation ist anders als in einem Grossbetrieb. Es ist alles sehr familiär. Jetzt ist es so, dass der Chef viel im Laden ist, er gehört also zum Team. Es gibt nicht so viele Dinge, die er nicht mitbekommen soll. Bei meiner vorherigen Stelle gab es viele Sachen, die der Chef nicht sehen durfte. Und du wusstest auch welche Leute im Team genauso denken. Aber je mühsamer der Chef, desto grösser der Zusammenhalt beim Personal. Es gab Situationen, wo wir gemeinsam zum Chef sind. Z. B. da, wo das Auto weggefahren ist. Und einmal haben wir das Geld aus der Kaffeekasse genommen und den Schaden ersetzt. Oder aus der einen Kasse, wo zuviel war, die andere aufgebessert. Wir haben geschaut, dass keiner unter die Räder kommt. Auch wenn du am Abend eine Schicht hattest und nicht alles geschafft hast, dann müssen es die am Morgen noch machen, bevor der Chef es sieht. Da musst du dich gut mit denen verstehen. Aber wenn du es dir mit einigen Kollegen verspielt hast, dann hast du die Arschkarte gezogen. Vor allem wenn du neu bist, dann brauchst du schon Leute, die das gut auffangen können.

SABINE: Hier machen sie sehr einen auf Familie und Teamgeist. Wir haben auch ein Sommerfest gehabt. Zum einen ist das total nett, zum anderen sind diese Veranstaltungen ja auch da, damit die Leute weitermachen. Das Problem ist, dass wir zu wenige Leute sind. Du versuchst ja, nicht krank zu sein, sonst versinken deine Kollegen im Chaos. Das andere ist, sie versprechen sogar eine Belohnung, wenn du ein Jahr lang nicht krank bist.

FRAGE: Gibt es bei euch Taschenkontrollen?

SABINE: Taschenkontrollen sind im Detailhandel ja üblich. Bei Feierabend, wenn du raus läufst, musst du würfeln. Wenn du die gleiche Zahl hast wie der Wochentag, dann musst du deine Taschen zeigen. Es ist völlig übertrieben. Einmal gab es eine Grosskontrolle. Da musstest du jede Tasche zeigen und wurdest sogar abgetastet. Oder es wurde mal der Spind in der Garderobe kontrolliert. Das ist schon krass. Der einzige kleine Privatbereich, wo du evtl. Medis, Tampons und so weiter aufbewahrst. Dieses Vorgehen hat mich schockiert am Anfang, aber man gewöhnt sich daran. Sie machen damit Eindruck und zeigen: "Leute, wenn ihr etwas klauen wollt, vergesst es." Also das einzige, was ich wirklich schlimm finde, sind die Kameras. Sie können sogar so zoomen, dass sie sehen, was du auf einen Zettel schreibst. Du stehst ständig unter Beobachtung.

FRAGE: Würdest du lieber heute als morgen aufhören?

ANNA: neue Stelle suche, dann nicht mehr im Verkauf. Ich sollte noch eine Lehre machen, kann mich aber nicht entscheiden.

SABINE: Du gewöhnst dich einfach daran, weil du einfach musst. Klar, wenn das Team jetzt sehr schlimm wäre, dann würde ich einen anderen Job suchen. Aber das Team ist lässig. Vielleicht in einem Jahr oder zwei kann man schon etwas anderes suchen, aber es ist vielleicht auch mal gut für den Lebenslauf, wenn man mal irgendwo gearbeitet hat und nicht schon nach einem halben Jahr gewechselt hat. Bevor ich diesen Job hatte, war ich 4 Monate arbeitslos, das hat mich geschlissen. Weil du da keine Perspektive mehr hast. Es läuft immer gleich, du arbeitest ein paar Monate, dann wieder nicht. Und dann merkst du, es ist sehr schwierig, eine Stelle zu finden.


Anmerkungen:
[1] Namen und zu genaue Hinweise auf die Unternehmen wurden geändert.

[2] Über die Gründe und Umstände der Entlassungen werden wir im nächsten aufbau berichten.


Interviewreihe

In den nächsten Ausgaben des aufbau werden wir verschiedene Interviews mit Leuten in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen veröffentlichen. Wir sind deshalb interessiert an möglichst vielen verschiedenen InterviewpartnerInnen. Wenn Du Lust hast, melde Dich unter
arbeitskampf@aufbau.org oder
frauenkampf@aufbau.org.


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur)


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Quelle:
aufbau Nr. 56, März/April 2009, S. 6
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Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Bern, Postfach 87, 3174 Thörishaus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2009