Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

AUFBAU/266: Bagdad oder Baltimore - Mann, das ist Amerika


aufbau Nr. 61, Mai/Juni 2010
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Bagdad oder Baltimore: Mann, das ist Amerika


THE WIRE - Seltsam aber wahr: Die beste zeitgenössische TV-Serie ist eine Polizeiserie. Sie zeigt die perspektivlose, harte Wirklichkeit der US-amerikanischen Unterklassen in Baltimore.


(az) Die Serie funktioniert nicht mit den üblichen Tricks, weder werden Spannungsbögen aufgebaut, die dann erst in der nächsten Folge gelöst werden, noch gibt es sympathische, schöne Menschen, mit denen man sich identifizieren könnte. Trotzdem kann man, wenn man angefangen hat zu schauen, nicht mehr wegschauen. The Wire zieht dich in den Bann, fesselt dich an den TV und es lässt sich zunächst gar nicht genau erklären, weshalb. Die Serie spielt in Baltimore, einer alten, deindustrialisierten und völlig verarmten Hafenstadt an der Ostküste der USA. In der ersten Staffel treffen Polizeibeamte auf Drogendealer, zwei Apparate, die gegensätzlicher nicht sein könnten, sich aber wiederum sehr ähnlich sind.

Der Drehbuchautor David Simons (1) gibt an, er habe eine Serie machen wollen, die wie ein Buch sei: Eine Geschichte, die sich über zwölf Kapitel entwickelt. Dies verlange von den ZuschauerInnen mehr ab, als üblich sei, meint er. Unter anderem das Vertrauen in das Team, dass dennoch eine Geschichte erzählt werde, langsam, aber gehaltvoll. Das lässt uns die Serie von der ersten Sekunde an spüren: Keine Einstellung ist daneben, kein Blick wirkt aufgesetzt oder zufällig, alles vermittelt uns, dass hier grosses Kino gezeigt wird und nicht einfache Unterhaltung zur Sättigung der Konsumlust.


Hart, aber nicht herzlich

Anspruchsvoll ist die Serie tatsächlich. Erstens sind es viele Personen. Es gibt zwar Hauptfiguren, doch alle Figuren sind wichtig. Zweitens sind diese allesamt höchst zwiespältig. Denn wichtiger als die Personen sind die Mechanismen, die auf die Figuren wirken, die sie nötigen zu handeln, wie sie handeln. Es ist der hart durchgezogene soziale Realismus, der sich auch in der derben Sprache und dem zotigen Humor der Beamten wiederspiegelt, der in den Bann zieht und die Serie zu einer "linken" Serie macht. Sie porträtiert die Arbeitswelt ihrer Figuren, sie nimmt sich Zeit dafür, gewährt Einblick. Sie katapultiert uns in eine Welt, von derer Existenz wir zwar wissen, die wir aber nicht kennen, deren Verhaltensregeln wir nicht verstehen und die uns deshalb immer wieder verdutzt.

Am absurdesten ist das Polizeicorps, das der Autor als "disfunktionale Institution" bezeichnet. Der Apparat ist ein Schlachtfeld der Intrigen. Baltimore weist eine der höchsten Mordraten auf und hat seinen BewohnerInnen kaum eine Perspektive zu bieten. Das macht die Polizei zum Spielball politischer Agitation. Dauernd wird von irgendeinem Politiker irgendwas versprochen, das dann "eingelöst" werden muss. Dass die Polizei jener Arbeit nachgehen würde, die wir aus anderen Serien kennen, ist deshalb höchst aussergewöhnlich. Sie spezialisiert sich ganz im Gegenteil darauf, kleine Fische, die problemlos eingebuchtet werden können, von der Strasse zu holen. Solches befördert dann die statistische Kurve nach oben und mit ihr einen bestimmten Chef. Der Autor bezeichnet das als "statistische Suggestion des Erfolgs". Nur wer nicht kämpft, kann nicht verlieren, erklärt uns die Serie in expliziter Umkehrung der bekannten Aussage, dass nur gewinnen kann, wer kämpft.

Dem Polizeiapparat gegenüber steht der höchst funktionale Apparat der Drogendealer. Letztere betreiben ihr Gewerbe durchaus clever, aber natürlich ohne Rücksicht auf Verluste. Die jungen "Hoppers" können anrühren: Jugendliche, die morgens aufstehen, ihre kleinen Geschwister füttern und dann zur Schule bringen und später in der Siedlung die Kundschaft bedienen. Sie strahlen menschliche Wärme aus. Aber auch die süssen "Hoppers" schlagen den Junkie ruchlos zusammen, wenn er den Kick nicht bezahlen kann, und sie töten kaltblütig, wenn ein Kumpel die Regeln verletzt hat. Wer dazu gehört, befolgt die Befehle, oder er ist draussen, dies gilt bei den Bullen wie bei den Dealern.

Die Serie setzt bei einer Erschütterung im Polizeiapparat ein. Durch politischen Druck eines Richters wird eine Sonderkommission erwirkt, die niemand haben will und von der niemand Teil sein will. Sie hat die Aufgabe, den Ring um den Drogenbaron Avon Barksdale zu sprengen. Theoretisch, praktisch hofft der gesamte Polizeiapparat darauf, dass sie schnell foppt, damit wieder zum eingespielten Alltag zurückgekehrt werden kann. Und damit endet die Staffel dann auch tatsächlich. Jede Staffel hat einen Fokus, meistens spielt sie im Ghetto der Schwarzen. Doch die zweite Staffel widmet sich der weissen ArbeiterInnenklasse. Der Hafen soll an Immobilienspekulanten verschachert und die Gewerkschaft zerschlagen werden. In der dritten Staffel wird wieder der Drogenkrieg thematisiert, in der vierten geht es um das Schulsystem und in der fünften um die Medien. Mit jeder Staffel nähert sich die Serie etwas mehr den Zirkeln der Macht. In jeder Staffel findet eine Kollision zwischen den Apparaten statt und jedesmal endet diese im Desaster. Das ist, was die Serie zum herausragenden Werk macht. Der personell zwar meist abwesende, aber durch Sachzwänge allgegenwärtige Kapitalismus, beweist Folge für Folge seine Untauglichkeit. Die Eigenlogik des Kapitalismus ist weder gut noch böse, aber definitiv lebensfeindlich.


Kein Trost, nirgends

Das verbindende Element über die fünf Staffeln hinweg ist die Polizei. Tatsächlich und traurigerweise ist sie es, die in ständigem Kontakt zu den Unterklassen steht. Die beiden Drehbuchautoren kennen sich in Polizeiarbeit aus. Der eine, David Simons, hat jahrelang als Journalist in Baltimore gearbeitet und darüber berichtet. Der andere, Ed Burns, war ein pensionierter Polizist, inzwischen ist er gestorben. Sie hatten die Ambition, eine Serie zu machen, die die amerikanische Gesellschaft porträtiert, die Misstände aufzeigt, aber nicht mit dem Mahnfinger auf den "dekadenten Pöbel" zeigt, sondern schonungslos darlegt, was abläuft. Und wenn doch auf Schuldige gezeigt wird, dann sicher nicht auf die kleinen Fische. Anklagend ist die Serie deshalb gegenüber jenen, die höchst selten zu sehen sind, weil sie für die Betroffenen unfassbar sind. Die wirklich Mächtigen kennt man im Ghetto nur vom Fernseher. Von plakativen Schlussfolgerungen lassen die Autoren dennoch die Finger, das Denken überlassen sie den ZuschauerInnen. Doch ist klar, dass sich die Serie positioniert und etwas bewirken will. Im ersten Kommentar sagte der Autor deshalb auch: "Es scheint eine Polizeiserie zu sein. Blaulicht und so. Aber wir haben versucht, etwas in der Polizeiserie zu verstecken. Diese Serie dreht sich in Wahrheit um die amerikanische Stadt und darum, wie wir zusammenleben." Und wenig später vergleicht er die amerikanische Stadt mit Bagdad. Wo sie hinkommt, die US-Politik, da sorgt sie für Elend, und die Menschen müssen schauen, wie sie über die Runden kommen. Das ist Amerika!


(1) Alle Verweise aus dem Bonus-Material der DVDs.


*


Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Arbeitsgruppe Winterthur (agw), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Arbeitsgruppe Jugend (agi), Kulturredaktion (kur), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk)


*


Quelle:
aufbau Nr. 61, Mai/Juni 2010, S. 16
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Bern, Postfach 87, 3174 Thörishaus
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
Fax: 0041-(0)44/240 17 96
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org

aufbau erscheint fünfmal pro Jahr.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
aufbau-Jahresabo: 30 Franken, Förderabo ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2010