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AUFBAU/280: In der Wüste der Moderne



aufbau Nr. 63, Dezember/Januar 2010/11
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

In der Wüste der Moderne

STADTENTWICKLUNG - Die Banlieues, die französischen Vorstädte, sind heute Armutszonen mitten in Europa. Entwickelt wurden die Banlieues aber an der Peripherie, in den französischen Kolonien. Was die Analyse von Stadtplanung mit internationaler Solidarität zu tun hat, zeigt diese Geschichte der Verflechtung von Kapitalismus und Kolonialismus, von Befreiungskampf und Migration.


(az) Es ist der 7. Dezember 1952, ein Sonntag: In Casablanca bricht der Aufstand aus. Bereits seit Wochen ist es in der marokkanischen Hafenstadt zu Streiks, Sabotageaktionen und Demos gegen die französische Herrschaft gekommen. Auf der ganzen Welt, an allen Ecken und Enden der europäischen Kolonien, wird für die Befreiung gekämpft. In Casablanca knüppelt die Polizei an diesem Tag eine Solidaritätskundgebung für inhaftierte tunesische Dockers zusammen. Wie ein Lauffeuer geht diese Nachricht durch die Bidonvilles, die Hüttensiedlungen der Arbeiterinnen und des Subproletariats. Aus dem Protest entsteht ein Flächenbrand, die Revolte hält tagelang an. Mittendrin im Tumult, aber völlig unbeleckt von allem, errichten zwei Architekten aus der Schweiz, Andre M. Studer aus Zürich und der Genfer Bankierssohn Jean Hentsch, im Auftrag der Protektoratsregierung Wohnblöcke, die ganz ähnlich aussehen wie in den Vorstadtgürteln um Paris oder Toulouse - oder wie in Zürich-Altstetten. Modern, funktional, serienmässig und mit damals ungekanntem Komfort.


Architektur und Aufstand

Was haben diese Geschichten - die Architektur und der Aufstand - miteinander zu tun? Und was haben sie mit uns zu tun? Vor zwei Jahren behandelte eine Ausstellung unter dem Titel "In der Wüste der Moderne" die Verknüpfung. von Kolonialismus und Stadtplanung am Beispiel Casablanca. Der Ursprung dieser Ausstellung lag aber nicht im Maghreb, sondern in der Zürcher Grünau, als einige Leute begannen, über den Abriss der städtischen Wohnsiedlung Bernerstrasse zu diskutieren. Die Siedlung war natürlich keine Banlieue, aber ebenfalls für proletarische MigrantInnen gebaut. Und im Erscheinungsbild hatte sie gewisse formale Ähnlichkeiten mit den modernen Vororten in der Wüste Nordafrikas. Nun ist ein Buch zu dieser Ausstellung erschienen und einer der Mitinitianten, sagt dazu:(1) "In Casablanca prallte in den 1950er-Jahren quasi alles auf einander: Die Kolonien waren. ein Labor der Stadtplanung. Hier wurden die modernen Banlieues entwickelt. Sie verkörperten das Aufstiegsversprechen in den Nachkriegs-Jahrzehnten. Aber gleich daneben lebte die Hälfte der Stadtbevölkerung in Hüttensiedlungen: Von hier ging der Widerstand gegen die Franzosen aus. " Heute verbinden wir mit den Banlieues subproletarische Wohnsilos, deren Jugendliche immer wieder mit Unruhen auf ihre Situation aufmerksam machen. Das war aber ganz anders, als die französischen Banlieues gebaut wurden. Sie wurden konzipiert für ein befriedetes Proletariat und ein strebsames Kleinbürgertum, die mit Auto und Kühlschrank am fordistischen Wohlstand teilhatten. Im Maghreb wiederum schuf das Kolonialregime mit Militärgewalt Traumbedingungen für die Architekten: Diese konnten am Reissbrett Städte entwerfen, wie es in Europa unmöglich gewesen wäre. Ihre Erfahrungen wandten sie dann in der Metropole an. Zugleich begannen im langen Wirtschaftsaufschwung Leute aus Nordafrika in den französischen Fabriken zu arbeiten. In die Banlieues, die ursprünglich für weisse FranzösInnen geplant waren, zogen nun ImmigrantInnen. Zwei grosse Bewegungen, jene des städteplanerischen Wissens und der Strom der Migration, vollzogen sich vom Maghreb nach Frankreich, von.der Peripherie in die Metropole.


Kolonie und Kapitalismus

"Wenn man dieses Hin und Her zwischen Peripherie und Metropole feststellt", so heisst es aus dem Umfeld der Ausstellung weiter, "kann man nochmals anders fragen, nämlich: Was bedeutet internationale Solidarität?". In Zeiten der neoliberalen Globalisierung ist die Parole "die Klassenkämpfe globalisieren" brandaktuell. Kämpfe zu verbinden ist eine schlichte Notwendigkeit, weit das Kapital Iängst global agiert. Das bedeutet, nicht nur weltweit stattfindende Kämpfe solidarisch zu unterstützen, sondern vor allem die eigenen Kämpfe damit in Beziehung zu setzen. Diese Verknüpfung ist schnell behauptet, aber schwierig umzusetzen. Dazu muss man mehr wissen über die Verflochtenheit des globalen Kapitalismus, die auch durch koloniale Unterdrückung entstand. Die ausserökonomische Gewalt, die Marx die "so genannt ursprüngliche Akkumulation" des Kapitals nannte, die Trennung der ProduzentInnen von ihren Produktionsmitteln, blieb in den Kolonien ein anhaltender Prozess. Ausserhalb des kapitalistischen Kerns in Europa und Nordamerika dauerte die kriegerische Enteignung und Versklavung auch dann fort, als in den Metropolen die so genannt "freie" Lohnarbeit durchgesetzt wurde. Im Weltmassstab blieben Sklaverei, Leibeigenschaft und Kapitalismus eng verknüpft. Und im Imperialismus - für Lenin 1916 "die jüngste Etappe des Kapitalismus" - ging die Expansion einer Weltmacht direkt auf Kosten der übrigen Imperialisten.

Marokko ist ein Bilderbuchbeispiel des Imperialismus. Offiziell war das Land nie eine Kolonie, sondern ein Protektorat, ein an Frankreich übergebenes Schutzgebiet. Grund war die strategische Lage: Keine der europäischen Mächte hätte akzeptiert, dass Frankreich am Nadelöhr des Mittelmeers eine Kolonie unterhielt. Ein rassistisches Rechtssystem trennte europäische, jüdische und muslimische Bevölkerung und "ethnifizierte" mit dieser Grenzziehung die Klassengesellschaft. Ein reaktionärer Marionettenkönig sorgte dafür, dass die Gewerkschaften und die kommunistische Partei verboten blieben. Der Abbau von Phosphat - noch heute deckt Marokko rund drei Viertel des Weltbedarfs - sowie die wichtigen Häfen liessen ein städtisches Proletariat entstehen. Die improvisierten Wellblechsiedlungen explodierten. "Bidonville" (Kanisterstadt), das französische Wort für Slum, stammt aus Casablanca. Die Hafenstadt verdoppelte sich zwischen 1936 und 1956. Als dann 1952 in Casablanca der Aufstand ausbrach, setzten die Franzosen kurzerhand den König ab. Die "Istiklal" genannte Unabhängigkeitsbewegung bekam nun Zulauf von rechten Monarchisten und der lokalen Bourgeoisie. Genau diese Kräfte garantierten denn auch, dass nach Abzug der Franzosen das Wesentliche beim Alten blieb. 1956 wurde der König wieder eingesetzt und kurz darauf die Unabhängigkeit erklärt. Anders als in. Algerien, wo 1956 gerade erst der Guerillakrieg gegen die Kolonialisten begann, war in Marokko der Übergang zwischen faktischer Kolonialherrschaft und postkolonialen Verhältnissen fliessend, das französische Kapital blieb im Land. Die Linke wurde und wird mit jahrzehntelanger Repression bis heute verfolgt.


Schön orientalisch, aber sachlich

Gegen das Unruhepotenzial in den Städten setzte die Protektoratsregierung auf forcierte Modernisierung, seit den 1930ern wurde ein Planungsraster für ganz Casablanca erstellt. Begradigt, zur erleichterten militärischen Kontrolle, und funktional arrangiert sollten neue Siedlungen die koloniale Arbeitskraft beherbergen. Doch die schicken Bauten waren nur für Staatsangestellte und KleinbürgerInnen erschwinglich. Die Hüttensiedlungen blieben. In diesem Kontext liessen die Schweizer Architekten André M. Studer und Jean Hentsch ab 1953 die Siedlung "Sidi Othman" bauen, gleich neben der zweitgrössten Bidonville der Stadt. Wie fast alle Architekten der Zeit folgten sie den Prinzipien der Moderne: gerade Linien, Sachlichkeit, Funktionalität. Die Architektur der Moderne setzte auf allgemein gültige Schemen - die Bewohnerinnen hatten sich den vordefinierten Abläufen und Funktionen zu fügen. Im Maghreb wurden diese für universell erklärten Schemen an lokale Bedingungen angepasst - eine Neuheit für die Moderne. Die Architekten betrieben ethnologische Forschungen und studierten die traditionelle Bauweise, um die "orientalischen Wohnbedürfnisse" herauszufinden. Dabei bestätigten sie vor allem ihre eigenen rassistischen Vorurteile - die Leute direkt einbezogen haben sie nie. Studer und Hentsch planten deshalb viele Innenhöfe, Balkone und Winkel. "Pas possible!" fand die Protektoratsregierung und setzte eine stärker "europäische" Bauweise durch: Verwinkelte Innenhöfe waren zu günstig für den Häuserkampf und übles Terrain für die Armee. Die Furcht der Kolonialisten entsprach der Angst vor den "gefährlichen Klassen" der grossen Städte. Dieser Sozialrassismus war auch in Europa wirksam, als mit der Krise der 1970er die französischen Banlieues zu Armutszonen gerieten. In der polizeilichen Repression leben auch heute Elemente des Kolonialismus. Am 8. November 2005 - ein halbes Jahrhundert nach dem Aufstand von Casablanca - brannten in Frankreich die Banlieues erneut, und die Regierung verhängte in den betreffenden Vierteln eine Ausgangssperre. Die Ausgangssperre ist eine Massnahme aus dem Repertoire des Kolonialismus: Die Grundlage dazu bildete ein Notstandrecht aus dem Jahr 1955, mit dem die französische Regierung den algerischeR Befreiungskrieg im Keim ersticken wollte. Es ist nur ein Beispiel und keineswegs das letzte, wie koloniale Gewalt weit über das offizielle Ende des Kolonialismus hinaus wirkt.


(1) Tom Avermaete, Serhat Karakayali, Marion von Osten (Hg.), Colonial Modern. Aesthetics of the Past, Rebellions for the Future, London: Black Dog Publishing 2010.


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend (agj)


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Quelle:
aufbau Nr. 63, Dezember/Januar 2010/11, Seite 14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2011