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AUFBAU/384: "Kompetent" in die "Wissensgesellschaft"?


aufbau Nr. 77, mai / juni 2014
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Kompetent" in die "Wissensgesellschaft"?



BILDUNGSREFORM - Die Begriffe "Kompetenzen" und "Bildungsstandards" stellen die Rezepte dar, mit denen SchülerInnen, Lehrlinge und StudentInnen für den Arbeitsmarkt fit gemacht werden sollen.


(rabs) Seit dem Jahr 2000 führt die OECD Studien zum Vergleich von SchülerInnenleistungen durch: Die PISA- und TIMMS-Studien. Diese Studien sind der Aufhänger einer Welle von bildungspolitischen Reformen, die von einer Wirtschaftsorganisation angeführt werden. Mittlerweile haben sich die Reformen und mit ihnen die neuen Begriffe durchgesetzt: Lehrpläne und Unterrichtsmittel werden auf Kompetenzen und Standards umgeschrieben, millionenschwere Forschungsprojekte sind dazu im Gang und es findet in regelmässigem Turnus ein Wettrennen um die Plätze auf den PISA-Ranglisten statt: Konnten sich die 15jährigen Jugendlichen eines Landes von ihrem soundsovielten Platz weiter vorarbeiten oder fielen sie zurück, und was sagt das über den Zustand der Nation aus? Ist die Jugend gerüstet für die "Wissensgesellschaft", die seit über zehn Jahren eines der zentralen politischen Leitmotive der EU darstellt?


"Wissensgesellschaft" oder Zwang zum "lebenslangen Lernen"?

Seit dem Lissabonner Sondergipfel vom März 2000 ist davon die Rede, dass die EU zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum(1)" werden soll. Der Diskurs um die "Wissensgesellschaft" ist demnach eng mit der Legitimierung der politischen Agenda der EU verknüpft, die wiederum ganz unter dem Vorzeichen der Wettbewerbslogik steht. Bildung wird unter diesen Vorzeichen allein unter ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen betrachtet, weswegen sich die Menschen im Namen des internationalen Wettbewerbs zu rüsten - Pardon: auszubilden - hätten. Die emanzipatorischen Seiten, die Bildung auch hat, fallen dabei vollkommen unter den Tisch, da in der aktuellen Debatte durch Bildungsinstitutionen reproduzierte Klassenunterschiede kein Thema sind, und Bildung als Zwang zum wertsteigernden "lebenslangen Lernen" verstanden wird, nicht als Befähigung zum Verständnis und zur Veränderung der Welt. Hinzu kommt eine massive Tendenz zur Ökonomisierung: Kompetenzen und Standards werden über Tests ermittelt - für Schweizer Lehrlinge sind das die sogenannten "Multichecks", die auch noch selbst bezahlt werden müssen, für SchülerInnen des Bildungsraumes Nordwestschweiz die "Checks", die zur Ergänzung der Abschlusszeugnisse viermal während der obligatorischen Schulzeit durchgeführt werden(2). Mit der Durchführung der Tests ist eine ganze Industrie beschäftigt, etwa das Zürcher "Institut für Bildungsevaluation", das gemäss eigener Webseite Forschung im "Interesse der Auftraggeber" betreibt.


Organisierte Einflussnahme

Wie die Bildungsreformen in der Schweiz ohne jede öffentliche Diskussion lanciert wurden, kann in einer wertneutralen Studie der Politikwissenschaftlerin Tonia Bieber nachgelesen werden(3). Bieber konstatiert, dass es trotz zahlreichen "Veto-Playern" und der föderalistischen Struktur der Schweiz möglich gewesen sei, über die Bologna-Reform und die PISA-Studien erheblichen Einfluss auf das schweizerische Bildungswesen zu nehmen. EU und OECD sei es gelungen, die Verbreitung und Einführung von Ideen zu initiieren, z.B. das Setzen von Bildungsstandards. Gepusht wurde der Trend ferner auch von einer vom Bundesrat in Auftrag gegebenen Studie zu den bildungspolitischen Zielen bis 2030: Das Weissbuch "Zukunft Bildung Schweiz" empfiehlt die Kompetenzorientierung mit dem Argument, dass wir in einer "Wissensgesellschaft" leben würden, in der Wissen ganz schnell veralte, weswegen nun zwar lebenslang gelernt werden solle, statt Wissensinhalte aber besser Kompetenzen.


Wessen Bildung ist die Bildung?

Die vielen Worthülsen, die die aktuelle Bildungsdebatte und insbesondere den Begriff der "Wissensgesellschaft" begleiten, sind leicht zu demontieren. Kennzeichnet das Attribut "Wissen" tatsächlich die heutige Gesellschaft im Unterschied zu anderen Epochen? Auch historisch ältere Gesellschaften kannten Techniken, um ihr Leben zu organisieren. Das oder gar eine philosophische Tradition, gemäss der Wissen nach seinen Grenzen und seinem Wahrheitsgehalt fragt und deshalb nicht mit schlichter Informationszunahme verwechselt werden kann, kümmert die Verfechter der Wissensgesellschaft nicht. Sie verbreiten die Mär vom schnellen Wissensverfall, dem die Beschäftigten nun "kompetent" durch eigenverantwortliches "lebenslanges Lernen" entgegen wirken sollen, und schreiben damit die Legitimierung flexibler Arbeitsverhältnisse fort.

Werden die eingangs erwähnten bildungspolitischen Schlagworte der "Kompetenz" und der "Bildungsstandards" genauer untersucht, so zeigt sich schnell, dass sie das Rad nicht neu erfinden, wohl aber bestimmte Interessen fördern. Davon zeugt nicht zuletzt die aktuelle Testmanie, die das emanzipatorische Potential von Bildung vollends zu Boden wirft, sofern es unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt jemals gedeihen konnte. So zeigt z.B. der Blick in angelsächsische Länder, dass die gepriesenen Kompetenzsteigerungen der SchülerInnen nicht beobachtet werden können, wohl aber eine Kultur des Wettbewerbs unter LehrerInnen, SchülerInnen und Schulhäusern: In Teilen der USA bestimmen etwa Klassenergebnisse die Löhne und Schulergebnisse die Verteilung finanzieller Mittel unter "armen und reichen" Schulen. Die negativen Konsequenzen, die in den USA nach mehrjähriger Erfahrung mit Bildungsstandards beobachtet wurden, brachten sogar die US-amerikanische Politikberaterin Diane Ravitch, die der standardbasierten Schulreform in den 1990er Jahren den Weg ebnete, zur Revision ihrer Ansichten(4). Saula wandelte sich zu Paula und sie blieb nicht die einzige kritische Stimme, was aber noch nicht den dringend nötigen Widerstand im Bildungswesen ersetzt, das gerade unter privatwirtschaftlicher Perspektive reformiert wird.


"Kompetenz" / "Bildungsstandards"

Der Begriff "Kompetenz" ist in der Alltagssprache fest verankert. Im bildungspolitischen Diskurs stellt er einen Schlüsselbegriff dar, mit dem Reformen legitimiert werden, die SchülerInnenleistungen durch interne und externe Tests vergleichbar machen sollen, in der Schweiz ist etwa der Lehrplan 21, der für die Volksschulen gilt, kompetenzorientiert: Was früher Lernziel hiess, heisst neu "Kompetenz" und ist in diverse "Bildungsstandards" unterteilt, die die Vergleichsbasis über Schulen und Kantone hinweg schaffen sollen. Der Betriebspsychologe Franz Weinert lieferte die einzige Definition des Begriffs "Kompetenz", die seither allen bildungspolitischen Studien im deutschsprachigen Raum zugrunde liegt.


Anmerkungen:

(1) Europäischer Rat (2000), Schlussfolgerungen des Vorsitzes,
http://www.europarl.europa.eu/summits/lisl_de.htm

(2) Auch unter den Zielen des umstrittenen Lehrplan 21 für die Volksschule ist an erster Stelle die "förderdiagnostische Leistungsmessung" erwähnt. Mit dem LP 21 werden die "Checks" in der ganzen Schweiz durchgeführt; bislang gehört der erwähnte Bildungsraum Nordwestschweiz noch zu den Vorreitern.

(3) Tonia Bieber, Soft Governance in Education. The PISA Study and the Bologna Process in Switzerland, Bremen 2010.

(4) http://dianeravitch.com/

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 77, mai / juni 2014, Seite 13
HerausgeberInnen:
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Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2014