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AUFBAU/388: Rebellische Türkei


aufbau Nr. 77, mai / juni 2014
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Rebellische Türkei



WAHLEN - Am 11. März verstarb Berkin Elvan nach 269 Tagen im Koma. Der Tod des 15-jährigen Jungen als vorläufig letztes Opfer der Gezi-Park-Bewegung, rief einmal mehr die kämpferischen Bilder des vergangenen Jahres in Erinnerung. Wir schauen, was aus dieser Bewegung geworden ist und wie die Konterrevolution an der Machterhaltung arbeitet.


(agkkzh) Der türkische Premierminister und AKP-Parteivorsitzende Tayyip Erdogan tritt derzeit von Skandal zu Skandal. Jüngst wurde über ein veröffentlichtes Telefonat bekannt, dass Erdogan über seinen Sohn immense Bargeldbeträge wegschaffen liess. Wenige Wochen später trat in einem erneuten Telefonausschnitt zu Tage, dass Erdogan sich mit dem Geheimdienst über die Planung eines Angriffes auf Syrien unterhielt. Der Premierminister reagiert zunehmend irrational auf solche Vorwürfe und liess aufgrund von neuen Gesetzen postwendend die Internetdienste Twitter und Youtube vom Netz nehmen. Trotz solcher Schnellschüsse darf nicht vergessen werden, dass Erdogan und dessen AKP noch immer auf eine grosse Basis zurückgreifen können. Der religiöse und nationalistische Teil des Proletariats und die vom Klientelismus profitierenden Schichten innerhalb der Arbeiteraristokratie und des Kleinbürgertums zögern trotz oder gerade wegen der reaktionären Mobilmachung noch immer keine Sekunde daran Erdogan auch weiterhin die Treue zu halten. Dass Erdogan und die AKP auch in den aktuellen Kommunalwahlen ihre Macht sichern, teilweise gar ausbauen konnten, zeugt ebenfalls von dieser tiefen Verankerung.


12 Jahre AKP Herrschaft

Das Kapital ist auch in der Türkei stark mit der politischen Macht verbandelt. Besonders anschaulich zeigt sich dies in der durch die Regierung vollzogenen "Urbanen Transformation". Unter dem Deckmantel der städtischen Entwicklung vollzieht sich in den türkischen Städten eine gnadenlose Gentrifikation. Nicht nur Grünflächen, wie der Gezi-Park, müssen neuen Shoppingzentren weichen, auch ganze Stadteile, wie zum Beispiel das historische Roma-Quartier "Sulukule" im historischen Zentrum Istanbuls, werden zu Spekulationsobjekten. Aufgrund von oftmals unsicheren Eigentumsverhältnissen werden Leute, die noch vor wenigen Jahren in die grossen Städte getrieben wurden, verjagt, um Investitionsfläche frei zu machen oder auch nur um mit dem Bauland selbst zu spekulieren. Erdogan setzt sich mit solchen Projekten nicht nur selbst ein Denkmal, sondern ermöglicht mit der Deregulierung des Immobilienmarktes auch, dass sich die befreundeten Unternehmer masslos am Umbau der Städte bereichern können. Bestes Beispiel: Die Unternehmergruppe um AKP-Freund Ali Agaoglu. Dank Erdogan kann Agaoglu heute nicht nur 17 Luxusautos in seiner Garage versammeln, sondern zählt durch den Bauboom mit einem Vermögen von rund 2 Mrd. Dollar auch zu den reichsten Türken. Dass dafür tausende BewohnerInnen noch weiter in die Aussenquartiere vertrieben wurden, spielt für die Herrschenden keine Rolle. Erdogan, das ist schliesslich doch nichts anderes als die neoliberale Variante des modernen Staatsmannes, aus geographischen Umständen für einmal im grünen Kostüm gekleidet.


Bürgerlicher Machtkampf

Doch die herrschende Klasse ist kein Einheitsbrei. Verschiedene Profiteure streiten sich um den türkischen Markt und Erdogan schaffte sich durch seine Positionierungen und Auswechslungen der kemalistischen Elite in den vergangenen Jahren nicht nur Freunde. Ein mancher wünscht sich für sein investiertes Kapital lieber mehr politische Ruhe und weniger Kopftuchdebatte. Und so geschah es, dass der Premierminister, trotz Grössenwahn, auch in der herrschenden Klasse nicht mehr widerspruchsfrei walten kann. Sowohl sein Intimfeind, der in den USA lebende Geistliche Fethullah Gülen, als auch Präsident und Parteikollege Abdullah Gül, haben sich in letzter Zeit immer wieder gegen Erdogan ausgesprochen. Wie scheinheilig eine solche innerherrschaftliche Debatte ist, zeigt sich besonders in der Auseinandersetzung mit der mächtigen Gülen-Bewegung. In Sachen autoritärer und reaktionärer Politik steht Gülen Erdogan in nichts nach. Gülen betreibt rund 25 Radiostationen, einen TV-Kanal, eine Tageszeitung und etliche weitere Publikationsorgane, welche tagein tagaus eine gehörige Portion reaktionärer Gesellschaftsideologie predigen. Daneben soll Gülen mehr als 1000 Privatschulen im In- und Ausland geschaffen haben. Dadurch kann der Prediger heute auf eine gewichtige Anzahl loyaler Mitstreiter im Staatsbetrieb und anderen Institutionen zurückgreifen. Gülen ist aber nicht nur Ideologe, sondern auch Vertreter des Kapitals. So soll der eng mit der Gülen-Bewegung verbundene Nurcu-Orden für gut die Hälfte des "grünen Kapitals" verantwortlich sein. Was sich real um Investitionen, Anlagen und Produktionsmittel im Wert von rund 25 Milliarden US-Dollar handeln soll. Gülen, der ebenso wie Erdogan für die neoliberale Verbindung von Kapitalinteressen mit religiös-ideologischen Legitimationsmuster steht, kann keine fortschrittliche Alternative darstellen. Und doch scheint es angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse ein realistisches Szenario zu sein, dass Erdogan bald schon durch eine neue Marionette des Kapitals ersetzt werden wird.


Wo steht die Bewegung? Streiks, Besetzungen und Kontinuität

Obwohl hierzulande dank medialer Präsenz am bekanntesten, sind die verschiedenen Formen des städtischen Kampfes nur ein Bestandteil der fortschrittlichen Bewegungen. Neben dem laufenden Organisierungsprozess verschiedener legaler und illegaler Organisationen, fanden in den vergangenen Monaten auch zahlreiche Streiks und andere Formen des Arbeitskampfes statt. Aktuellstes Beispiel ist die Fabrikbesetzung beim Verpackungshersteller Greif in Istanbul. Aufgrund fehlender Eingeständnisse der Bosse beschlossen am 10. Februar rund 1500 ArbeiterInnen die Fabrik kurzerhand zu besetzen. Damit sagten sie, wie sie in ihrem Communiqué schreiben, ""NEIN" zu den Hungerslöhnen und den Sklavenbedingungen", die beim US-Konzern Greif herrschen. Einige Monate zuvor hatten in derselben Stadt schon TextilarbeiterInnen ihre Fabrik besetzt. Aufgrund ausstehender Löhne beschlossen die ArbeiterInnen künftig die Produktion selbst in die Hand zu nehmen. Vielleicht findet die eine oder andere bald auf ihrem Textil-Etikett die Aufschrift des neuen Werkes: "Das ist ein Produkt des Kazova-Widerstandes!"


Kasten

Grünes Kapital

Grünes Kapital ist nichts anderes als Kapital, welches eine religiöse Legitimation erhalten hat. Damit unterscheidet es sich in seinem Wirken nicht von anderem Kapital. Weil das nach den Geboten des Islams angelegte Kapital aber nicht nur an den institutionalisierten Finanzplätzen gehandelt wird, ist dessen wirtschaftliche Bedeutung nur schwer abzuschätzen. Dadurch spielen auch informelle Kontakte und mafiöse Strukturen eine wichtige Rolle. Erdogan und die AKP-Regierung sind genauso wie auch Fethullah Gülen über verschiedene Kontakte, Investitionen, politische Entscheide und Bündnisse an dieses Kapital gebunden.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 77, mai / juni 2014, Seite 10
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2014