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AUFBAU/437: Nepals Bevölkerung bebt vor Unzufriedenheit


aufbau Nr. 83, Januar/Februar 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Nepals Bevölkerung bebt vor Unzufriedenheit


NEUE VERFASSUNG Seit dem 20. September 2015 hat Nepal eine neue Verfassung. Von den Eliten als historische Errungenschaft gepriesen, scheint ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Nepals Widersprüche zu dieser neuen Verfassung zu hegen. Zum besseren Verständnis der Problematik soll das Erscheinen der neuen Verfassung in den Kontext der jüngeren Geschichte Nepals gesetzt werden.


(agkkz) Mitte der 1990er Jahre initiierte die maoistische Bewegung Nepals einen Volkskrieg. Im Februar des Jahres 1996 wurden diverse Polizeiposten in ländlichen Gebieten von der spärlich ausgerüsteten Organisation angegriffen. Zu diesem Zeitpunkt war Nepal bereits kein reines Feudalsystem mehr und es gelang demokratischen Kräften ein bürgerlich-parlamentarisches System zu installieren. Demgegenüber nahmen die MaoistInnen eine kritische Position ein. 2002 wurde das Parlament wieder ausser Kraft gesetzt, der König konnte seine Machtposition kurzfristig zurückerobern. Trotz Repression und internationaler Unterstützung des Feudalsystems (allein die USA stellten über 20 Millionen Dollar zur Bekämpfung der MaoistInnen zur Verfügung) gelang es den MaoistInnen, innerhalb einer Dekade des bewaffneten Kampfes, einen grossen Teil Nepals zu kontrollieren. Die Führung der Communist Party of Nepal (Maoist) vollführte daraufhin einen rigiden Kurswechsel und entschied einen Linienkampf innerhalb der Partei für sich: an den Wahlen teilzunehmen, sich am Parlament zu beteiligen und die Waffen niederzulegen. Dies spaltete die Bewegung: Der revisionistische Teil der Partei begann 2005 am Mehrparteiensystem teilzunehmen, sie bildeten fortan die Mehrheit im Parlament; der revolutionäre Teil der Partei formierte sich zu einer abgespaltenen Fraktion.

Seit diesem Zeitpunkt ist Nepal ohne offizielle Verfassung, eine Ausarbeitung dieser war eine Bedingung der MaoistInnen zur Niederlegung ihrer Waffen gewesen. Ein zentrales Ziel dieser Verfassung sollte es sein, ein föderalistisches System zu etablieren; ist doch einer der historischen Widersprüche Nepals, dass es stets zentralistisch, von einer Elite aus Kathmandu, regiert wurde. Nun sind aber jene, die sich heute auf der Strasse versammeln, um gegen die neue Verfassung zu protestieren, der Ansicht, dass diese Verfassung, statt die Heterogenität des Landes angemessen zu würdigen, die Machtstellung der Eliten nur zementieren würde.


Zurück in der Gegenwart

Es können Parallelen gezogen werden zwischen der objektiven Situation mitte der 90er Jahre und der Gegenwart. Neben der Machtkonzentration im Kathmandutal ist auch die ökonomische Situation des Landes unverändert. Ein grosser Teil der Bevölkerung lebt nach wie vor von der Landwirtschaft. Aufgrund fehlender Infrastruktur ist Nepal kein attraktiver Standort für ausländische Produzenten, Industrie ist also praktisch keine vorhanden. Wird die Infrastruktur, besonders Verkehrswege, im Rahmen eines "Hilfprojekts" von benachbarten Staaten ausgebaut, so hat dies den einzigen Zweck, dass die "Helferstaaten" ihre Güter besser in Nepal auf den Markt bringen, sprich, Rendite erzielen können. Protektionistische Massnahmen, Importzölle etwa, werden von den Nachbarländern natürlich nicht geduldet. Da die NepalesInnen trotzdem billig arbeiten, erlauben ihnen die umliegenden Staaten visafreie Einreise. Diese Bedingungen haben sich über die letzten 20 Jahre hin praktisch nicht verändert, ebenso die Tatsache, dass die Politik Nepals nicht unerheblich von den Interessen seiner übergrossen Nachbarn Indien und China bestimmt wird. Grundsätzlich verunmöglicht die schwache, korrupte Regierung Nepals eine nachhaltige Entwicklung des Landes. So ist beispielsweise die Disparität in der Einkommensverteilung erheblich und die Regierung ist nicht im Stande, die Eigentümerklassen angemessen zu besteuern, was mit ein Grund für die prekäre Infrastruktur des Landes ist. Weiter ist Nepal nicht in der Lage, seine natürlichen Ressourcen zum Vorteil seiner EinwohnerInnen zu nutzen. Aufgrund der Topologie des Landes bietet sich Wasserkraft als Energieressource an. Der Bau von Wasserkraftwerken wird oft von ausländischen Investoren finanziert und die gewonnene Leistung wird dann ins zahlungkräftigere Ausland abgeführt.

Die subjektive Situation ist für den Grossteil der NepalesInnen prekär. Wie bereits erwähnt, lebt der Hauptteil der Bevölkerung in ärmlichen Verhältnissen. Ein Koch verdient umgerechnet rund 100 CHF im Monat, davon braucht er 400 CHF im Jahr für die Bildung eines(!) seiner Kinder und benötigt je nach dem einen grösseren fünfstelligen Betrag zur Sanierung von allfälligen Erdbebenschäden an seiner Behausung. Diese Entwicklung muss als Beispiel dafür verstanden werden, dass der Weg des Parlamentarismus nicht zum Ziel führt, die Klassensituation zu verändern.


Eine Frage der Perspektive

Vor diesem Hintergrund scheint es mehr als verständlich, dass sich die Massen auf der Strasse wiederfinden, um die bestehenden Verhältnisse anzuprangern. Es stellt sich jedoch die Frage nach der Perspektive. Die CPN (Maoist) ist, aufgrund des internen Linienkampfes, den der revolutionäre Flügel der Partei nicht gewinnen konnte, in einer bürgerlichen Mehrparteiendemokratie gelandet, deren Schwäche und Korruption viel zu der heute misslichen Lage beigetragen hat. Im Gespräch mit Studierenden der Katmandu Universität stellt sich heraus, dass für das akademische Kleinbürgertum der Sozialismus eine realistische Perspektive darstellt. In einem sozialistischen System wird sich ein Trikontland wie Nepal nachhaltig entwickeln können, ist eine Position, die man in diesen Kreisen antrifft.

Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung der neuen Verfassung wurde wöchentlich mobilisiert, meist wurde sonntags und montags gestreikt, wobei man erwähnen muss, dass Sonntag ein regulärer Arbeitstag ist. Wie bereits vor 20 Jahren regt sich der stärkste Widerstand im Terai, den südlichen Ebenen Nepals. Dessen BewohnerInnen fühlen sich besonders stark von der Regierung im Hochland vernachlässigt. Dabei standen zum einen die Gewerkschaften, verschiedene progressive, aber auch reaktionäre Kräfte, die das Feudalsystem zurückfordern, hinter den Streiks. Nepal ist ein sehr heterogenes Land mit über 150 verschiedenen Ethnien. Diese Heterogenität widerspiegelt sich auch in der Vielzahl seiner politischen Gruppierungen. Während die objektiven Bedingungen für eine erneute Bewegung der Massen gegeben zu sein scheinen, so ist es doch momentan nicht klar, ob die Massen unter einer progressiven Stossrichtung vereint werden können oder ob die revolutionäre Abspaltung der CPN (Maoist) sich neu formieren und wieder aktiv werden kann.


Mehr Infos zum Thema: aufbau nr. 74 "Stillstand in Nepal"

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 83, Januar/Februar 2016, Seite 4
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
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Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2016

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