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AUFBAU/530: Klassenkampf versus Kulturkampf


aufbau Nr. 92, März/April 2018
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Klassenkampf versus Kulturkampf


RASSISMUS Es ist wieder da: Das Abendland und dessen Werte, die es gegen die rückständige Kultur aus dem Osten zu verteidigen gilt. Die Überzeugung, dass fortschrittliches Denken nicht an das Abendland gebunden ist und mit den der Gesellschaft zugrunde liegenden materiellen Verhältnissen in Wechselwirkung steht, ergibt sich aus einem materialistischen Kulturverständnis.


(fk) Rassistisches Denken kam nach der so genannten "Flüchtlingskrise" längst nicht nur in der Form von Pegida an die Oberfläche, sondern füllte auch bürgerliche Zeitungen: "Abendland gleich Aufklärung", "Orient gleich Bedrohung" lauten die Gleichungen. Ein solch essentialisierter Kulturbegriff ist nicht nur antidialektisch, sondern ideologische Widerspiegelung des kolonialen und imperialistischen Systems.

Konstruktion des Abendlands

Es wird ein wiedererwecktes Lied gesungen in Europa. Ein Lied das mit einer kolossalen Lobpreisung des Abendlandes und seinen angeblichen Säulen Vernunft, Aufklärung und Freiheit beginnt, dann übergeht in ein sanftes Geriesel, weshalb diese Säulen zur Zeit bedroht sind, und schliesslich mit der Aufforderung endet, aufzustehen, um das Abendland gegen diese Bedrohung zu verteidigen. Es ist ein Lied, welches häufig gesungen wird. Bürgerliche Intellektuelle singen es, PolitikerInnen von links bis rechts in verschiedenen Tonarten. Es wurde montags in Dresden gegrölt und wird sonntags in Kirchen rezitiert, es wird vor Wahlen und Volksabstimmungen in der Flüchtlings- und Migrationsdebatte gespielt, und mitunter stimmt auch Slavoj Zizek in das Lied ein. Die Bedrohung des Abendendlandes: Das Morgenland, der Orient, dessen Kultur; deren Träger: die Flüchtenden.

Die Melodie ist eine alte. Die Konstruktion des Abendlandes in Abgrenzung zum Osten bzw. dem Orient, baute sich in eine religiöse, christliche Identität bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts auf. Wechselte dann in eine rassische, bevor sie Ende der 50er Jahre ihre heutige kulturelle Form annahm - dazumal in Abwehr gegenüber den sozialistischen Ländern. Immer ging es darum, den westlichen Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus zu verteidigen.

Materieller Überbau

In den bürgerlichen Feuilletons spielen religiöse oder gar rassische Bezugspunkte - von deren Online-Kommentarspalten abgesehen - eine untergeordnete Rolle. Die Dichotomie Abendland/Orient wird über "Werte" wie Aufklärung, Vernunft und Freiheit konstruiert, welchen Zwang, Unterordnung und Religiösität gegenüberstehen sollen. Dies geht aus einem ideologisch-bürgerlichen Kulturverständnis hervor: Das Wesen des Westens wird an der Aufklärung festgemacht, während das Wesen des Ostens deren Abwesenheit sei. Damit werden dann auch, wenn Flüchtende aus dem so genannten Orient in den Westen immigrieren, die "Werte der Aufklärung", also das Abendland, als bedroht angesehen. Die Kultur der Immigrierten - imaginiert als jenseits der Aufklärung - wird als starr, unveränderbar und essentiell angesehen. Diese sei dann auch nicht fähig, sich der neuen Gesellschaft anzupassen - vielmehr werde das Abendland durch die Immigration usurpiert. Dieses Kulturverständnis ist nicht einfach nur idealistisch und antidialektisch sondern reaktionär.

Materieller Unterbau

Hegel sah die Weltgeschichte als eine Geschichte von Ideen an, vom "Weltgeist" getragen; eine dialektische Geschichte zwar, aber bestimmend für die materiellen Verhältnisse war immer noch der Geist. In dieser Tradition steht auch das Kulturverständnis der selbst ernannten Abendlandverteidiger: Nicht die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern die Tradition der Ideen sei für die Kultur ausschlaggebend, und damit seien Gesellschaften jenseits einer "aufklärerischen Tradition" zu einer aufgeklärten Kultur nicht fähig.

Marx kehrte dieses Geschichtsbild vom Kopf auf die Füsse, indem er sagte, dass für die geistigen, sprich auch kulturellen Entwicklungen, die materiellen Verhältnisse ausschlaggebend sind. Bürgerliches Bewusstsein - dies ist mit "Aufklärung" gemeint -, ist Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaft. Feudales Bewusstsein, was häufig mit Zwang, Unterwerfung, Patriarchat und Religiösität verbunden werden kann, ist dann eben auch Ausdruck einer feudalen Gesellschaft, oder einer rückschrittlichen materiellen Situation. Kultur ist dabei immer Teil des Überbaus, dem der Unterbau der materiellen Verhältnisse zugrunde liegt. Fortschrittlich(er)es Denken ist Ausdruck einer fortschrittlich(er)en Gesellschaft, wobei mit Fortschritt der relative Fortschritt eines bürgerlich-kapitalistischen Systems zu einem feudal-konservativen gemeint ist.

Schliesslich ist es falsch, Westen mit Fortschritt und Orient mit Rückschritt gleichzusetzen. Im Westen gibt es durchaus nicht-industrialisierte, rückschrittlichere Regionen, während in den Ländern des Nahen Ostens auch ein gesellschaftlicher, ökonomischer Fortschritt im Gang ist, es neben der massgeblichen feudalen Ordnung starke bürgerliche Elemente gibt. Die Grüne Revolution im Iran 2009 sowie der Arabische Frühling 2011 waren Ausdruck der Revolte der fortschrittlichen, urban geprägten Kräfte, welche gegen die konservative, halb-feudale Ordnung aufbegehrten. Diese Kräfte haben ein aufklärerisches Denken. Umgekehrt gibt es offensichtlich Kräfte in Europa - und deren nicht zu wenige -, die rückschrittlich, konservativ, reaktionär sind.

Kein Kulturkampf, sondern Klassenkampf

Während bürgerliche Kräfte gern von "Kulturkampf" sprechen, reden wir vom Klassenkampf. Es gibt keinen "Kulturkampf" zwischen Westen und Orient, zwischen einem angeblich "fortschrittlichen" Christentum und angeblich "rückständigen" Islam, sondern einen Klassenkampf zwischen feudalen und bürgerlichen Kräften - wie er zur Zeit im Nahen und Mittleren Osten der Hauptwiderspruch ist - und zwischen bürgerlichen und sozialistischen Kräften (wobei als Randbemerkung, ein Bündnis zwischen SozialistInnen und progressiv-bürgerlichen Kräften gegen die halb-feudale Herrschaft im Nahen und Mittleren Osten - im Gegensatz zu Europa - eher die Regel als die Ausnahme darstellt).

Kultur gerät in eine Wechselwirkung, eine Dialektik, sobald sie auf andere materielle Verhältnisse trifft; und ob nun die Flüchtenden vor halb-feudalen Strukturen oder den Folgen der imperialistischen Interventionen wie Armut und Krieg emigriert sind, deren Kultur wird mit der Kultur der bürgerlichen Gesellschaft in Wechselwirkung geraten: sich anpassen, sie übernehmen, sie vielleicht auch negieren; im besten Fall beides. Es gibt kein einheitliches "Wesen des Morgenlandes", kein einheitliches "Wesen des Abendlandes". Es gibt - unabhängig von Religion oder Region - verschiedene Klasseninteressen innerhalb der jeweiligen Gesellschaften, die sich gegenüberstehen und in dieser Widersprüchlichkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse vorantreiben und verändern.

Negation der Negation

Die bürgerlichen Feuilletons sehen die bürgerliche Gesellschaftsordnung als Ausgeburt der Vernunft und des Fortschritts; dies ist nicht der Fall. Kann sie zwar für sich beanspruchen, fortschrittlicher als eine feudale Gesellschaft zu sein, so ist sie rückschrittlich im Hinblick auf eine sozialistische Gesellschaft. Es ist die bürgerliche Gesellschaft, welche Kriege wie diejenigen im Irak und Afghanistan zu verantworten hat, es ist die bürgerliche Gesellschaft, welche Rassismus und Nationalismus verursacht, zu Armut, Ausbeutung und Elend führt. Es ist die westliche bürgerliche Gesellschaft, welche durch Kolonialismus und Imperialismus in den Trikontländern eine zudienende, reaktionäre Kompradorenbourgeoisie erzeugt, fortschrittliche Kräfte zurückbindet und eliminiert, sowie den Massen weder Bildung noch Perspektive bietet.

Die bürgerliche Kultur als Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft entspricht nicht den objektiven Interessen der Flüchtenden - selbst wenn noch ein relativer Fortschritt gegenüber der feudalen Kultur besteht. Sie sind es - als Proletariat, welches die unterste soziale Schicht darstellt -, die am meisten unter Rassismus, Ausbeutung und Armut zu leiden haben. Und sie sehen, dass der Westen in seinen Kriegen eigene Interessen verfolgt, dass der bürgerliche Staat die Versprechen, welche er den Flüchtenden gibt, nicht einzulösen vermag. Diese Erfahrung der Flüchtenden kann früher oder später, bewusst oder unbewusst, in eine Negation der bürgerlichen Kultur und deren Werte umschlagen. Eine Negation, welche sich im schlechtesten Fall wieder auf feudale, rückschrittliche Werte besinnt, ist eine Möglichkeit (was genauso für "einheimische" Arbeitende gilt, die anfangen SVP, AfD und Front National zu wählen). Es besteht jedoch auch die Möglichkeit einer bewussten Negation, welche die bürgerliche Gesellschaft im Hinblick auf eine fortschrittlichere, schliesslich auch vernünftigere, aufgeklärtere Perspektive negiert: Für eine Gesellschaft, welche ohne Rücksicht auf Herkunft und Geschlecht, den arbeitenden Menschen als Subjekt setzt, für eine Gesellschaft, welche ihren Interessen statt denjenigen des Bürgertums dient.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Das Agassizhorn in den Kantonen Bern und Wallis, benannt nach dem Gletscherforscher und Rassisten Louis Agassiz (1807-1873)

- "The flame towers" in Baku. Das Abendland bringt dem Morgenland Prosperität, Kultur und Frieden.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 92, März/April 2018, Seite 14
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2018

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