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CORREOS/129: Venezuela - Chávez im Zwielicht


Correos des las Américas - Nr. 166, 16. Juni 2011

Chávez im Zwielicht
Zur Auslieferung eines kolumbianischen Flüchtlings schwedischer Nationalität an Kolumbien.

Von Dieter Drüssel


«Dieser Fall ist eine weitere Demonstration dafür, wie flexibel und wirksam diese Zusammenarbeit ist», freute sich der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos (El Tiempo, 23.04.11). Stunden zuvor hatte Venezuelas Präsident den schwedischen Bürger kolumbianischer Abstammung Joaquín Pérez Becerra verhaften lassen. Das Blatt berichtete weiter: «Santos erzählte, dass er sich gestern mit Präsident Hugo Chávez telefonisch in Verbindung gesetzt habe, um ihn zu bitten, ein als «Alberto Martínez» bekanntes Mitglied der FARC zu verhaften, das mit einem Flug aus Frankfurt (Deutschland) in Caracas ankomme. 'Ich gab ihm den Namen und bat ihn, bei der Verhaftung zu helfen. Er zögert keinen Moment', sagte der Präsident, der anfügte, er habe heute morgen erneut mit Chávez telefoniert, um ihm für die Verhaftung des Guerillero zu danken».

Aus einer ersten Stellungsnahme der venezolanischen Regierung: «Die Regierung der Bolivarischen Republik von Venezuela informiert, dass am 23. April 2011 im internationalen Flughafen Simón Bolivar von Maiquetia der kolumbianische Staatsbürger Joaquín Pérez Becerra ... festgenommen wurde. [Er] wird von den Justizorganen der Republik Kolumbien über die rote Liste von Interpol wegen ... Terrorismusfinanzierung und Verwaltung von Ressourcen im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten gesucht ... Die bolivarische Regierung bekräftigt ihre unwiderrufbare Verpflichtung zum Kampf gegen den Terrorismus, die Kriminalität und das Organisierte Verbrechen in strikter Erfüllung der internationalen Verpflichtungen und Kooperation, unter Beachtung der Prinzipien von Frieden, Solidarität und Respektierung der Menschenrechte».

Becerra hat seit 1994 Asyl in Schweden und gab bei seiner Einbürgerung in Schweden vor 10 Jahren seine kolumbianische Nationalität auf. Die Chávez-Behörde gab einfach wieder, was ihr die kolumbianischen Dienste fütterten und übte sich ansonsten mit ihrem Verweis auf «Respektierung der Menschenrechte» in bitterem Hohn.

Carlos Lozano, Chefredaktor des kolumbianischen KP-Blattes La Voz und ehemals offizieller Vermittler im kolumbianischen Konflikt, sagt: «Pérez Becerra ist Direktor des Internetportals Anncol mit Sitz in Schweden, das mit Bewilligung der Regierung jenes Landes operiert. Man kann mit dem Stil von Anncol und mit einigen Veröffentlichungen nicht einverstanden sein, aber dies macht ihren Direktor nicht zum Terroristen oder zum FARC-Mitglied. Anncol verheimlicht ihre Sympathie für die Guerillagruppe nicht und hat das Recht dazu. Es handelt sich um eine freie Meinungsäusserung» (aporrea.org, 25.4.11). Joaquín Pérez Becerra war vor seiner Flucht nach Schweden für die damalige Linkspartei Unión Patriótica (UP) Mitglied der Gemeinderegierung von Corinto im Departement Valle del Cauca. Sämtliche der 1988 gewählten UP-BürgermeisterInnen wurden in den folgenden Jahren vom Staatsterrorismus ermordet, dito hunderte von anderen UP-Mitglieder in Gemeindeexekutiven - insgesamt wurden 4000 oder 5000 UP-AktivistInnen «eliminiert». Joaquín Pérez' Gattin wurde damals von den Paramilitärs entführt und ermordet. Anncol wird vom kolumbianischen Repressionsapparat schon seit langem als organischer Propagandaarm der FARC dargestellt. Meist werden als Beleg für diese These «Emails aus dem Computer von Raúl Reyes» genannt. So auch jetzt im Fall des von Chávez an seinen Freund Santos ausgelieferten Journalisten. Eine klägliche Quelle, um so mehr, als sie, intimste Beziehung von Chávez mit den FARC «dokumentierend», von Venezuela schon lange als Farce analysiert worden ist. Was Santos & Co. real nerven dürfte, ist, dass Anncol anscheinend die am viertmeisten aufgerufene Kolumbien-Seite ist.

Diesen Mann also liess Chávez an seine alten Peiniger übergeben. Das Prozedere spottet jeder Beschreibung. Pérez Becerra war in den Räumlichkeiten des Geheimdienstes Sebin incomunicado gehalten, ohne Kontakt zu einem Anwalt. Seine Aushändigung an das Folterregime erfolgte blitzrasch und ohne auch nur einen Hauch von ordentlichem Verfahren, bei dem das kolumbianische Begehren keine Chance gehabt hätte.


Kein Sonderfall

Es ist nicht die erste Auslieferung an die Folterer in Bogotá, die Chávez zu verantworten hat. Seit dem Amtsantritt von Santos und den folgenden Freundschaftsbeteuerungen der beiden Präsidenten ist es dreimal zu Auslieferungen mehrerer angeblicher Mitglieder des ELN und der FARC an Kolumbien gekommen. Umgekehrt hat Santos wenige Tage nach «Erhalt» von Becerra den in Venezuela wegen Drogenhandel und Auftragsmorden an Journalisten gesuchten Walid Makled an Caracas ausgehändigt. Makled war letztes Jahr in Kolumbien verhaftet worden und versuchte mit sensationellen Andeutungen in den Medien über «höchste chavistische Protektion» in seinem Drogenbusiness seine Auslieferung in die USA zu erreichen. Erst darauf hin hatte Washington ebenfalls ein Auslieferungsgesuch gestellt, wegen monatlichen Schmuggels von 10 Tonnen Kokain in die USA. Allein, daraus wurde nichts, Santos versilberte Chávez seine Kollaboration bei der Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla mit dem Geschenk Makled. Chávez ist daran interessiert, in Erfahrung zu bringen, in welches Netz Makled eingebunden war. Das Bauernopfer in diesem Fall ist Joaquín Becerra.

Im März 2010 liess Chávez den deutsch-baskischen Aktivisten Walter Wendelin nach Spanien ausliefern, einen bekannten Aktivisten von Askapena, der internationalen Solidaritätsorganisation aus dem Umfeld von Batasuna. In Spanien werden baskische Militante, ob ETA-Mitglieder oder nicht, oft gefoltert. Amnesty International und der UNO-Sonderberichterstatter zu Folter belegen dies regelmässig, wenn auch folgenlos. Die über 7000 politischen Gefangenen in Kolumbien gehören zu den «Glücklichen», die die Folter in ihrem Land überlebt haben.

Als die Schweiz das frühere PKK-Leitungsmitglied Mehmet Esiyok an Ankara ausliefern wollte, war der Widerstand dagegen so gross, dass der Bundesrat sich von den türkischen Behörden die Zusicherung geben lassen musste, Mehmet nicht zu foltern, was von der Schweizer Botschaft überprüft werden dürfe. Das auslieferungsgierige Bundesbern musste sich in der Folge vorhalten lassen, nur zu gern den Lügen der Folterer glauben zu wollen. Mit Erfolg: Mehmet Esiyok wurde nicht ausgeliefert. Es schmerzt, sagen zu müssen, dass dieser kleine Erfolg im linken Venezuela heute nicht zu haben wäre.

Im Fall von Joaquín Pérez Becerra wäre es Chávez sehr einfach gefallen, die Auslieferung zu verweigern: ein seit langem naturalisierter schwedischer Bürger, Überlebender des in Lateinamerika noch immer unvergessenen Massakers an der UP, der ungehindert in Europa reisen konnte ... Und, nicht minder wichtig, in diesem Fall hatten venezolanische Linksorganisationen sofort reagiert: mit öffentlichen Erklärungen gegen die Auslieferung wie etwa jener des Gewerkschaftsdachverbandes Unete und mit Protestkundgebungen vor Regierungsgebäuden. Tatsächlich gab es einen im Vergleich zu anderen Auslieferungen an Kolumbien breiten, auch internationalen Protest. Der sonst so mitteilungsfreudige Chávez hüllte sich lange in Schweigen. Erst an der 1. Mai-Kundgebung nahm er Stellung: «Nachdem er im Flughafen Maiquetía festgenommen worden war, was sollte ich machen? Die einzige Option, die ich hatte, war, die internationalen Verpflichtungen von Venezuela zu erfüllen». Zur Demo gegen die Deportation einige Tage vorher meinte der Comandante: «Diese «Marxisten-Leninisten, die katholischer als der Papst sein wollen», haben früher neoliberale Regierungen unterstützt. Im Übrigen sei Perez Becerra benutzt worden, um ihm eine Falle zu stellen. Wie sonst habe er ungehindert aus Schweden und Deutschland ausreisen können? «Meiner bescheidenen Ansicht nach haben sie ihm eine Falle gestellt, um mir einen Dolchstoss zu versetzen» (Telesur, 1.5.11).


Spiel mit dem Feuer

Chávez spielt mit dem Feuer. Zwar haben sich an der kritisierten Demo tatsächlich auch louche Figuren beteiligt. Aber der Protest wurde wesentlich von Organisationen wie der kleinen KP Venezuela, der man vielleicht einiges vorhalten kann, aber nicht eine Unterstützung von neoliberalen Regimes, oder der Coordinadora Simón Bolívar getragen, die im riesigen Hardcore-chavistischen Stadtteil 22 de Enero von Caracas als die entscheidende Sozialorganisation gilt. In den linken AktivistInnenkreisen Venezuelas hat diese Auslieferung erhebliche Bitterkeit verursacht. Das hilft in keiner Art und Weise, die Wahlen vom nächsten Jahr zu gewinnen. Das elektorale Hauptproblem für Chávez ist ohnehin weniger die Rechte an sich, als vielmehr die Frage, wie viele von einigen Regierungswidersprüchen Enttäuschte zur Stimmabgabe motiviert werden können.

Auch die Vorgänge, die kürzlich zur «Einigung» in Honduras geführt haben, deuten auf eine eigenartige «Achse» Caracas-Bogotá hin (vgl. Artikel in diesem Heft). Vieles bleibt noch im Dunkel, klar ist hingegen, dass Chávez seine «bolivarische Solidarität», was den bewaffneten Widerstand in Kolumbien betrifft, entsorgt hat. Die Zustände in Vor-Chávez-Regierungen (und vor 9/11 und dem «global war on terror»), als die kolumbianische Guerillas offiziöse Verbindungsbüros in Caracas unterhalten hatten, bekommen den Touch einer idyllischen Vergangenheit. Vor wenigen Jahren forderte Chávez noch die politische Anerkennung der des ELN und der FARC. Das scheint sich jetzt im Nebel der Vorgeschichte zu verlieren.


Propagandaeskalation gegen Venezuela

In den USA wird Chávez' Wohlverhalten nicht belohnt. Die Neocons schäumen, dass der Drogenhändler Walid Makled an Venezuela ausgeliefert wurde. Denn er habe Belege für die «venezolanische Hilfe an den Hizbollah und andere nahöstliche Terrorgruppen», wie der Ultra Jackson Diehl in der Washington Post vom 11.4.11 klagt. «Das könnte dem Justizdepartment und dem Finanzdepartment die Basis geben, um gegen eine Reihe von venezolanischen Top-Leaders Sanktionen zu verhängen». Doch Obama, das Weichei, habe den guten kolumbianischen Verbündeten vergrault und so die Auslieferung Makleds nach Venezuela verschuldet.

Die im Kongress wieder tonangebenden Ultras wollen Venezuela auf die Liste der staatlichen Terrorismussponsoren bringen, was die Lage massiv verschärfen würde. Die Obama/Clinton/Biden-Administration kam dieser Art Kriegstreiberei entgegen, indem sie am 24. Mai den staatlichen venezolanischen Erdölkonzern Pdvsa wegen Geschäftsbeziehungen mit dem Opec-Partner Iran mit Sanktionen belegte (natürlich ohne Importverbot für Pdvsa-Öl), was in Venezuela zu Strassenprotesten gegen den Imperialismus geführt hat.

Ins gleiche Bild passt die Meldung der Welt Online vom 13.5.11 über eine angebliche iranische Raketenbasis auf der venezolanischen Karibikinsel Paraguaná, von der aus Iran die USA und Venezuela Kolumbien bedrohen können. Quelle? «Westliche Sicherheitskreise»! Die Meldung wurde in internationalen Medien aufgenommen (auch in der NZZ) und geistert brav auch im US-Kongress herum. In den 80er Jahren diente für so etwas noch die Sowjetunion (damals kursierte etwa die Mär von sowjetischen Militärbasen in Nicaragua), heute muss man mit einem «Schurkenstaat» vorlieb nehmen. Beunruhigend sind solche geheimdienstlich gesteuerten Desinformationsoperationen allemal - sie lassen erahnen, mit welchen Planspielen man sich in den westlichen Schaltzentralen beschäftigt.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 166, 16. Juni 2011, S. 21-22
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2011