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CORREOS/151: Guatemala - Der General lässt die zivile Maske fallen


Correos des las Américas - Nr. 170, 26. Juni 2012

Der General lässt die zivile Maske fallen

von Barbara Müller



Anfang Mai verhängte Guatemalas Präsident Otto Pérez Molina den ersten Ausnahmezustand dieses Jahres und den ersten in seiner Amtszeit. Er löste damit eine Situation aus, die an die Zeit des bewaffneten internen Konflikts erinnerte. Auch die unklare Kommunikation über die Schliessung des Friedensarchivs zeigt langsam das wahre Gesicht hinter der zivilen Maske des Ex-Generals.


Wie jedes Jahr feierten die BewohnerInnen von Santa Cruz Barillas und der umliegenden Dörfer den traditionellen Jahrmarkt. Was als Volksfest begann, endete mit einem Toten, zwei Schwerverletzten, rund 17 Verhaftungen und der Verhängung des Ausnahmezustandes. Und was anfänglich in den Medien als «Vandalenakt eines alkoholisierter Pöbels» bezeichnet wurde, entpuppte sich erstens als Ausdruck legitimen Widerstands der Bevölkerung gegen den Bau eines Wasserkraftwerks und zweitens als Anlass für die Regierung, mit unverhältnismässiger Gewalt eine Region zu militarisieren und im Departement Huehuetenango ein Exempel zu statuieren, wie mit zivilem Widerstand bei Auseinandersetzungen um Ressourcen vorgegangen wird.

Huehuetenango gilt als das Departement, das nach dem Quiché am zweitstärksten vom Krieg betroffen war. Gemäss Wahrheitskommission wurden dort mehr als 462 Massaker verübt.


Megaprojekte als Auslöser sozialer Konflikte

Die sozialen Konflikte in Barillas stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Präsenz von Hidro Santa Cruz. Hidro Santa Cruz ist ein Projekt des spanischen Energieunternehmens Ecoener Hidralia Energía, dessen Besitzer, Luis Castro Valdivia, und CEO, David Castro Valdivia, Bruder des Luis, im spanischen Galizien mit diversen Prozessen wegen Korruption und Machtmissbrauch konfrontiert waren. Ecoener Hidralia Energía hat vom guatemaltekischen Staat die Erlaubnis zum Bau des Wasserkraftwerks erhalten, obwohl sich in Santa Cruz Barillas bereits im Jahr 2007 bei einer Volksbefragung rund 46'500 Personen generell gegen Bergbau und sogenannte Megaprojekte ausgesprochen haben (gegen 9 Ja-Stimmen). Am 13. April dieses Jahres bekräftigen 298 von insgesamt 305 Gemeinden, die vom besagten Wasserkraftwerk betroffen sind, diesen Entschluss. Das Projekt soll in einem Gebiet realisiert werden, das der lokalen Bevölkerung traditionell als Heilbad, Ort der Erholung und für Zeremonien dient. Weiter befürchten die AnwohnerInnen, dass ihnen der Zugang zu Wasser sowohl für den Hausgebrauch wie auch für die Landwirtschaft erschwert wird. Zu Recht: Im Juni 2011 begann die Firma, das Flussufer einzuzäunen und entsandte bewaffnete Sicherheitskräfte in das Gebiet.

Guatemala deckt aktuell 35 Prozent seines Energiebedarfs mit Wasserkraft ab, bis ins Jahr 2020 wird das Ziel von 50 Prozent angestrebt. Huehuetenango gilt als eines der Departemente mit dem grössten Potenzial für den Ausbau der Wasserkraft. Landesweit sind 23 Wasserkraftwerke in Betrieb, acht befinden sich im Bau und weitere 24 sind in Planung. Zwei Drittel der Wasserkraftwerke sind jüngeren Datums und wurden erst nach dem Friedensschluss 1996 und im Rahmen der Privatisierung des Energiesektors erbaut. Entsprechend sind denn auch die meisten neueren Wasserkraftwerke in privatem Besitz und nur die ältesten gehören dem staatlichen Elektrizitätswerk.

Doch Wasser ist nicht die einzige Ressource, die in Huehuetenango zum Ausverkauf steht. Im Jahr 2009 gab es im Departement 39 Bergbaulizenzen, rund die Hälfte bereits für den Abbau, die andere Hälfte zur Exploration des Bodens.


Kriminalisierung des Widerstands

Bisher war der Widerstand der Bevölkerung in Barillas friedlich. Den jüngsten Unruhen ging am 1. Mai ein Überfall auf drei Anführer einer Dorfgemeinschaft auf dem Weg von Barillas in ihr Dorf Posa Verde voraus. Die drei engagierten sich öffentlich gegen das Wasserkraftwerk, das in der Nähe ihres Wohnorts errichtet werden soll. Einer der Männer verlor dabei sein Leben, die zwei anderen überlebten schwer verletzt. Die Überlebenden sagten aus, dass die Angreifer in den gleichen Fahrzeugen unterwegs gewesen seien, wie sie Hidro Santa Cruz verwendet. Als Reaktion auf die Angriffe der drei Männer demonstrierten Teile der Bevölkerung, besetzten die Militärkaserne, und es kam zu Sachbeschädigungen und tätlichen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig gab es Leute, die dazu aufriefen, die Ruhe zu bewahren und sich nicht einschüchtern oder provozieren zu lassen. Rund 500 Soldaten und 150 PolizistInnen wurden nach Santa Cruz Barillas entsandt, um den Ausnahmezustand durchzusetzen. Diese Präsenz der Sicherheitskräfte und ihr Vorgehen erinnert die Bevölkerung an die Repression, die sie während dem bewaffneten Konflikt in der Region erlebte. Auch dieses Mal haben BewohnerInnen aus Angst vor Hausdurchsuchungen und Verhaftungen Barillas verlassen und sind über die nahegelegene Grenze nach Mexiko geflüchtet.

Die Kriminalisierung von Organisationen und Personen, die sich für die individuellen und kollektiven Rechte der indigenen Völker einsetzen, ist leider kein Novum der Regierung von Otto Pérez Molina, sondern war bereits unter seinen beiden Vorgängern …scar Berger und Álvaro Colom eine gängige Praxis und geht einher mit der Öffnung Guatemalas zur brutalen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen - ein Prozess, der in ganz Lateinamerika zu beobachten ist. Auch wenn Pérez Molina behauptete, es handle sich um eine Sicherheitsmassnahme und nicht um Repression, ist die Verhängung des Ausnahmezustandes eine gefährliche Version der Legalität: den Rechtsstaat zu schützen, indem man die Rechte mit Füssen tritt, die ihn eigentlich definieren. Auch hat mit der Regierungsübernahme des Ex-Generals die Entsendung von Militärbrigaden in verschiedene Regionen des Landes zugenommen. Und zwar nicht an die Landesgrenzen oder sonst gefährliche oder strategisch wichtige Orte - sondern an Orte mit sozialen Konflikte wie zum Beispiel San Juan Sacatepéquez, wo sich die Bevölkerung gegen ein Zementwerk mit Beteiligung der Schweizer Holcim wehrt, oder Polochic, wo Landbesetzungen militärisch geräumt wurden. Es scheint, dass die guatemaltekische Armee einen neuen «Staatsfeind» gefunden hat.

Doch was die Sicherheitskräfte in Barillas, in San Juan Sacatepéquez oder Polochic antreffen, sind weder TerroristInnen noch Kriminelle. Es sind guatemaltekische BürgerInnen, die ihre Rechte kennen und verteidigen. Ihre Erzählungen gleichen sich alle: Irgendwann taucht ein Bergbau-, Wasserkraft-, Öl- oder Zement-Unternehmen auf, und die Leute müssen zuschauen, wie Wege gesperrt, Bäume gefällt, Flüsse umgeleitet werden. Unabhängig davon, ob die Präsenz dieser Unternehmen legal ist oder nicht, die betroffene Bevölkerung erlebt Machtdemonstrationen, Gewalt, Entwürdigung und Einschüchterung seitens der Unternehmen, derweil diese mit Unterstützung der Behörden und Straflosigkeit rechnen können.

Aber an vielen Orten beginnt sich die Bevölkerung zu wehren. Nachdem sie zwanzig Jahre lang Diskurse über Menschenrechte und Rechte indigener Völker gehört haben, internationale Abkommen und nationale Gesetzen verabschiedet und schubladisiert wurden, nach der Errichtung einer «Demokratie mit Maya-Gesicht», haben die Menschen genug und beginnen sich zu organisieren. Sie kämpfen für das einzige, was ihnen noch geblieben ist nach Staatsterror und neoliberalem Ausverkauf: ihre Lebensgrundlage und ihre Würde.

Der landesweite Protest zwang die Regierung, am 18. Mai den Ausnahmezustand in Barillas aufzuheben. Zudem sah sie sich genötigt, aufgrund der Beschreibungen von ZeugInnen drei Sicherheitsangestellte der Hidro Santa Cruz festzunehmen und des Mordes an dem in Barillas umgebrachten Bauern anzuklagen.


Zukunft des Friedensarchivs ungewiss

Einen weiteren Beweis dafür, dass ihre zivile Maske reine Wahlpropaganda war, erbringt die Regierung Pérez Molina mit der Entlassung von 17 Angestellten des Friedensarchivs per Ende Juni. Das unter der Regierung von Álvaro Colom im Jahr 2008 gegründete Friedensarchiv beschäftigt sich unter anderem mit der Aufarbeitung der Militär- und Polizeiarchive, die während des bewaffneten Konflikts angelegt wurden. Die Digitalisierung und Analyse sogenannt deklassifizierter Dokumente aus den Archiven der ehemaligen staatlichen Sicherheitskräfte dient dazu, während des Krieges begangene Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Im weiteren verfasst das Archiv Expertisen und stellt Fachleute zur Verfügung bei juristischen Prozessen gegen die Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen während des Krieges. Zum Beispiel im aktuellen Genozidprozess gegen Efraín Ríos Montt, der wegen der Massaker in der Region Ixíl während der Jahre 1982-1983 angeklagt ist.

Bisher hat das Friedensarchiv zwei Millionen Dokumente digitalisiert und neun Publikationen veröffentlicht, unter anderem über illegale Adoptionen während des Konflikts, über gewaltsam verschwundene Kinder, über das Diario Militar, das Aufschluss gibt über das Schicksal von Dutzenden von verschwundenen Personen, sowie über das Polizeiarchiv. Im Moment beschäftigt sich das Archiv mit der aufgelösten Präsidialgarde (EMP), die während des Krieges eine wichtige und gefürchtete Geheimdienstfunktion einnahm und deren Chef von 1993 bis Anfang 1996 der heutige Präsident Otto Pérez Molina war.

Die Dokumente, die vom Archiv aufgearbeitet werden, enthalten nicht nur Berichte über Folter und andere Gräueltaten, die an «Staatsfeinden» und «marxistischen Subversiven» begangen wurden, sondern umfassen auch die genauen Befehlsketten, die zu den Massakern und dem Verschwindenlassen von Menschen geführt haben: Orte, Daten und Namen.

Begründet wurde die Entlassung der Angestellten des Friedensarchivs vom Direktor des staatlichen Friedenssekretariats SEPAZ, Antonio Arenales Forno, mit einer Reorganisation innerhalb des SEPAZ und damit, dass die Aufarbeitung der entsprechenden Archive Aufgabe der Menschenrechtsorganisationen sei und die Untersuchung möglicher Straftaten in der Verantwortung der Staatsanwaltschaft liege. «Heute und bis auf weiteres wird das Friedensarchiv geschlossen, dessen Existenz nicht berechtigt ist, und die Verträge der Mitarbeitenden gekündigt, für deren Anstellung ich keine Rechtfertigung sehe», erklärte Arenales Forno. Die über zwei Millionen digitalisierten Dokumenten sollen ins guatemaltekische Staatsarchiv (Archivo General de Centro América, AGCA) überführt werden.

Antonio Arenales Forno ist ein bekennender Leugner des Genozids in Guatemala. Vor seiner Ernennung zum Leiter des Friedenssekretariats amtierte der ehemalige Abgeordnete der Rechtspartei FRG als guatemaltekischer Botschafter bei der EU in Brüssel, wo er massgeblich an der Aushandlung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Zentralamerika beteiligt war. Mit Otto Pérez Molina sass er vor bald 20 Jahren am Verhandlungstisch der guatemaltekischen Friedensabkommen, Arenales Forno als Vertreter der Regierung, Pérez Molina als Vertreter der Armee. Die beiden sind also ein eingespieltes Team.

Eine weitere Abteilung innerhalb des Friedenssekretariats ist das Entschädigungsprogramm für Opfer des bewaffneten Konflikts (PNR). Aktueller Leiter des PNR ist Jorge Humberto Herrera, dem von der Jugendorganisation HIJOS vorgeworfen wird, dass er gemäss Diario Militar während des Krieges die Guerilla infiltriert habe und während der Friedensverhandlungen Berater der Armeedelegation war. Auch die Zukunft des PNR ist ungewiss. Einerseits wurde ihm in den letzten Jahren sukzessive das Budget gekürzt, anderseits gab es immer wieder Fälle von Korruption und Vorwürfe, dass die Definition der «Opfer» sehr unklar sei und deshalb «falsche» Personen entschädigt würden.

In einer Presseerklärung kündigt die Gewerkschaft der SEPAZ-Angestellten Massnahmen gegen die Kündigung ihrer 17 KollegInnen an. Für sie ist die Schliessung des Archivs ein Beispiel dafür, wie die Regierung von Pérez Molina die jüngste Geschichte Guatemalas verdrängen und ihre Aufarbeitung verhindern will. Dazu gehöre auch die Sprache, mit der diese Leute sprechen: «bewaffneter Zusammenstoss» statt «interner bewaffneter Konflikt», «Bestattungsorte» statt «klandestine Friedhöfe», oder, um Arenales Forno zu zitieren, «Massaker» und «Missbräuche» statt «Genozid». Mit der Schliessung des Archivs und der Entlassung der Angestellten wolle man die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen während des internen bewaffneten Konflikts entlasten, was ein Beweis für die Straflosigkeit sei, die in der aktuellen Regierung von Otto Pérez Molina herrsche, heisst es in der Erklärung der Gewerkschaft weiter.

Die drohende Schliessung des Friedensarchivs löste in Menschenrechtskreisen Protest und Solidarität mit den entlassenen Angestellten aus. Helen Mack, Direktorin der Mirna-Mack-Stiftung, betonte die Wichtigkeit der im Archiv aufgearbeiteten Dokumente bei den laufenden Prozessen gegen Militärs.

Für Claudia Samayoa von der Menschenrechtsorganisation UDEFEGUA ist die Schliessung des Archivs ein Rückschritt bei der Umsetzung der Empfehlungen der Wahrheitskommission. Ausserdem sei es eine Veräppelung, denn das Friedensarchiv sei nicht zuletzt vom aktuellen Präsidenten ins Feld geführt worden, um zu erreichen, dass die Vereinigten Staaten ihr Militärembargo gegen Guatemala aufheben.

Die Proteste der Gewerkschaft und der MenschenrechtsverteidigerInnen führten dazu, dass sich Präsident Pérez Molina und Antonio Arenales Forno am 1. Juni genötigt sahen, die Schliessung des Friedensarchivs zu dementieren: Die aktuelle Umstrukturierung sei Teil der Menschenrechtspolitik der Regierung, die eine Fusion der Präsidialen Menschenrechtskommission (Copredeh), dem Entschädigungsprogramm PNR und dem Friedenssekretariat zum «Sekretariat für Menschenrechte und Frieden» anstrebe. Ebenso bat Pérez Molina den Leiter der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG), Francisco Dall'Anese, seine Institution solle doch absichern, dass keine Dokumente aus dem Archiv zerstört werden.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 170, 26. Juni 2012, S. 8-10
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2012