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CORREOS/174: Was geht jetzt ab in Venezuela?


Correos des las Américas - Nr. 174, 29. Juni 2013

Was geht jetzt ab in Venezuela?
Ist nach dem Tod des Commandante Chávez und dem knappen Wahlsieg von Nicolas Maduro der revolutionäre Prozess in Venezuela am Ende?

René Lechleiter interviewt Carolus Wimmer



Zur Person von Carolus Wimmer

Carolus Wimmer, Venezuela, weilte anlässlich des II. Solidaritätstreffens mit der Bolivarianischen Revolution und ALBA Anfang Juni in der Schweiz. Er ist der verantwortliche Sekretär für internationale Beziehungen der PCV und Mitglied des Politischen Büros sowie Abgeordneter im Lateinamerikanischen Parlament. Tätigkeit als Dozent und Kolumnist im Radio und in verschiedenen Zeitungen Venezuelas. Ursprünglich Biologe, Studium und Doktorat in der DDR (politische Wissenschaften), lebte seit 1970 in Caracas und seit 2011 im Gliedstaat Pariñas.


René Lechleiter: Compañero Wimmer, es ist eine Tatsache, dass der unerwartet knappe Ausgang der Präsidentschaftswahlen vom 14. April viele Fragen und grosse Besorgnis über die Haltbarkeit und Zukunft des revolutionären Prozesses in Venezuela hervorgerufen hat. Und die Medien werden seither nicht müde, von einem gespaltenen Land, von prekären Bedingungen und einer Regierung zu sprechen, die alles nicht so richtig im Griff habe. Wir sind sehr interessiert daran, ungefilterte Informationen aus erster Hand und aus dem Inneren der Bewegung zu bekommen. Sprechen wir vorerst von den Wahlen vom 14. April dieses Jahres.

Carolus Wimmer: Wir wissen, auch wenn wir an Chile, an Nicaragua oder an Paraguay denken, dass wir uns mit Wahlen in einer bürgerlichen Demokratie auf ein sehr risikoreiches Parkett begeben. Wir stehen mitten in einem Umwandlungsprozess, in dem noch nichts definitiv entschieden ist. Es ist ein Prozess, in dem sich nicht zwei Hälften einer Bevölkerung gegenüberstehen, sondern zwei grundsätzlich verschiedene Projekte: das noch dominante neoliberal-kapitalistische versus ein fortschrittlich-solidarisches, sozialistisches Projekt.

Obwohl durch den frühen und plötzlichen Tod von Commandante Hugo Chávez Frias eine sehr schwierige und komplexe neue Situation entstanden ist, hat auch bei den jüngsten Wahlen das revolutionäre Projekt eine Mehrheit gefunden und gewonnen. Das sind die Regeln dieser Demokratie, in der im Prinzip eine einzige Stimme genügt, um als Sieger hervorzugehen. Man muss sich das wirklich ins Bewusstsein rufen: Siebeneinhalb Millionen Menschen, das heisst mehr als die Hälfte der Bewohner Venezuelas haben für ein Projekt ihre Stimme abgegeben, von dem es noch vor wenigen Jahren hiess, es sei untauglich, nicht praktikabel!

Es ist uns also ein ganz grosser Wurf gelungen. Das erfüllt uns mit Optimismus, macht uns aber nicht übermütig. Natürlich sind wir daran gegangen, unsere Schwächen und Fehler, die es zweifelsohne gab, zu analysieren und zu korrigieren. In erster Linie erlaubt uns aber dieser Wahlsieg, unseren Weg weiter zu beschreiten und zudem in den nächsten sechs Jahren auch den Prozess der lateinamerikanischen Integration zu vertiefen.

René Lechleiter: Das Ergebnis war mit 50.66 Prozent für Maduro gegenüber 49.07 Prozent für Capriles sehr knapp. Wie erklärt ihr den Verlust an Wählern und den Zuwachs bei der Opposition?

Carolus Wimmer: Vorerst muss man daran erinnern, dass diese Wahlen nötig wurden durch den Tod von Hugo Chávez. Dieser war ein grosser, anerkannter und beliebter Führer des Volkes. Er verkörperte ad personam den revolutionären Prozess. Ich erinnere da an die tagelangen, massenhaft besuchten Trauer- und Abschiedskundgebungen. Die Welt schien für viele Venezolaner stillzustehen. Die physische Abwesenheit des Commandante hat sicherlich viele WählerInnen abgehalten, zur Urne zu gehen. Sie fühlten sich in gewissem Sinne orientierungslos.

Dann müssen wir auch einsehen, dass wir aus eher pragmatischen Gründen WählerInnen verloren haben, oder sogar aus Enttäuschung. Es gibt zum Beispiel Leute, die möchten mehr Revolution. Sie wollen, dass es sichtbarer oder konkreter weitergeht. Oder sie fühlen sich nicht ernst genommen, wenn die Regierung nicht entschlossen genug durchgreift gegenüber Fällen von Korruption oder in den Fragen der persönlichen Sicherheit. Es fehlte oft auch an konsequenter politischer Entschlusskraft gegenüber der Bürokratie und der Ineffizienz. Das alles müssen - und können - wir nun bewusst angehen. Diese Menschen sind nicht plötzlich konterrevolutionär geworden, wir wollen sie zurückgewinnen durch ein Vorantreiben des Emanzipationsprozesses.

René Lechleiter: Wie oder wo haben denn die Gegner ihre zusätzlichen Stimmen geholt?

Carolus Wimmer: Wir könnten es uns einfach machen und darauf hinweisen, wie viel Geld in diese Gegenkampagne gesteckt wurde, auf all die Sabotage und alle Destabilisierungsaktionen, die es gab. Vertiefend sollte man jedoch auch sehen, dass die so genannte Opposition, die in Wirklichkeit einen kleinen Teil der Bevölkerung repräsentiert, ihren politisch-ideologischen Auftritt radikal umgekrempelt hat. Bis im Dezember 2012 waren sie totale Anti-Chavisten, und virulente Feinde all seiner Massnahmen, insbesondere des Regierungsprogramms, genannt Plan Simón Bolívar, und somit auch der sozialen misiones. Zudem machten sie eine vehemente antikubanische und antikommunistische Kampagne.

Und dann trat das Kommando ihrer Wahlkampagne im März 2014 unter dem Namen Simón Bolívars auf. Ihr Kandidat Capriles, ein Multimillionär und Mann der Ultra-Rechten, der - obwohl Gouverneur eines Gliedstaates - nicht in Venezuela, sondern grossmehrheitlich in den USA lebt, dieser Kandidat versprach plötzlich lauthals, er werde die «misiones» nicht nur aufrechterhalten, er werde sie sogar noch verbessern. Dies alles begleitet von einer riesigen medialen Präsenz im In- und Ausland.

Zudem versprach er eine generelle und vor allem sofortige Erhöhung der Löhne um 40 Prozent, um damit den Kandidaten der Chavistas und Gewerkschafter Nicolás Maduro auszustechen. Dieser hatte zuvor eine stufenweise Anhebung der Löhne bis zu 40 Prozent vorgeschlagen... Capriles versprach allen kubanischen Ärzten im Land die Erteilung der venezolanischen Nationalität. Kurz: Eine totale Abkehr von allem, was sie bisher vertreten haben. Eine Anbiederung, mit der sie in einigen Sektoren der Bevölkerung Gehör fanden. Diese Leute liessen sich täuschen oder verführen.

Die Opposition trat als absolute Einheit auf, sämtliche politischen Parteien der Gegner waren plötzlich verschwunden. Am 8. Dezember waren es noch 14 verschiedene Listen gewesen. Jetzt gab es kein Bündnis, keine Listenverbindung mehr, sondern nur noch die eine einzige Karte Capriles. Demgegenüber trat das Lager der Chavistas mit zehn untereinander verbundenen Listen zugunsten von Nicolás Maduro an, also von aussen gesehen nicht geeint.

Zusammengefasst: Der Stimmenzuwachs bei der Opposition ist nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Es war die Summe vieler raffinierter Schachzüge, die zum Ergebnis führten. Wir nehmen das alles sehr ernst und werden es mit Sorgfalt noch weiter analysieren. Noch ein paar Fehler mehr von unserer Seite und wir hätten nicht nur die Wahlen, sondern alles verloren; da machen wir uns keine Illusionen.

René Lechleiter: Der Frust und die Wut, dass es dennoch nicht gereicht hat, muss beim Gegner sehr gross gewesen sein.

Carolus Wimmer: Auch das, was in den Tagen nach dem 14. April in Venezuela abging, wollen wir keinesfalls herunterspielen. Da lief ein ausgeklügeltes Szenario ab, das man als einen weiteren Putschversuch einstufen muss. Es hat erneut nicht geklappt, sie wurden vom Volk gestoppt und von der Armee schloss sich ihnen niemand an.

Schon die Forderung nach einer Nachzählung der Stimmen kam einer Provokation gleich. Sie haben ihre eigenen Vertreter in den Wahlbüros desavouiert, die ja den Urnengang akribisch überwachten und am Schluss des Tages die Resultate der Auszählungen unterschrieben. Das Wahlprozedere wird mittlerweile selbst von internationalen Organisationen und von den anwesenden Wahlbeobachtern als eines der fälschungssichersten eingestuft. Es wurde schon im Jahre 2006 eingeführt und seither weiterentwickelt und perfektioniert.

Noch bevor alles vollständig ausgezählt war, versuchten sie die Knappheit als ein Patt und somit als ein Machtvakuum darzustellen und schickten ihre Banden los, die dann Einrichtungen angriffen wie Parteibüros, regierungsnahe Medien sowie Spitäler, in denen kubanische Ärte arbeiten. Es gibt einen Saldo von elf Toten im ganzen Land - alles Chavistas! Nur die Anzahl der Toten gelangte in die Medien, um so etwas wie den Eindruck von Bürgerkrieg zu erwecken, nicht aber, wer da gegen wen mit tödlicher Gewalt vorging. Capriles hat diese Toten denn auch nie bedauert. Ebensowenig all die Fälschungen und Lügen, die über CNN in die Welt hinaus verbreitet wurden, wie die Mär von den verbrannten Wahlzettel, die sich nachträglich als Aufnahmen aus dem Jahr 2008 herausstellten, als das Militär legal Wahlzettel von weit zurückliegenden Wahlen entsorgt hatte.

Das Ungeheuerliche ist, dass es Capriles persönlich war, der noch am Abend des Wahltages über öffentliche Fernsehkanäle seine Banden dazu aufrief, vor den Wahllokalen gegen das Resultat zu protestieren. Die - offensichtlich im Voraus geplanten - Angriffe richteten sich dann folgerichtig nicht nur gegen Urnenlokale. Die Rechte versuchte, ähnlich wie schon 2002, mit Gewalt einen Durchmarsch in den Präsidentenpalast.

Als einer der treibenden Kräfte wurde der ehemalige General Antonio José Rivero González verhaftet, dem von der Staatsanwaltschaft Verbindungen zum CIA nachgesagt werden... Bezeichnenderweise hat die Regierung der USA bis heute das Wahlresultat vom 14. April nicht offiziell anerkannt.

René Lechleiter: Wenden wir uns der heutigen Situation zu. Die neue Regierung wird von Nicolás Maduro angeführt. Kannst Du diese Persönlichkeit kurz beschreiben?

Carolus Wimmer: Ich denke, Maduro wird von den Medien falsch dargestellt. Für uns ist er kein Unbekannter. Er kommt, im Gegensatz zu Chávez, von ganz unten, war Aktivist in linken Gruppen und dann in der Gewerkschaftsbewegung. Er hat eine solide politische Schulung durchlaufen, er repräsentiert die arbeitenden Menschen in Venezuela.

René Lechleiter: Dennoch steht er vor einer schwierigen Aufgabe?

Carolus Wimmer: Der Emanzipationsprozess in Venezuela ist in eine neue Etappe eingetreten. Ohne irgend eine Leistung von Huo Chávez schmälern zu wollen, müssen wir einsehen, dass bis zum 8. Dezember 2012 zu vieles auf die Person des Commandante fokussiert gewesen ist. Ein Slogan lautete: «Con Chávez todo - sin Chávez nada» (mit Chávez alles - ohne Chávez nichts), und plötzlich war Chávez nicht mehr da! Das hat viele, auch viele bisherige WählerInnen, verunsichert.

Heute sagen wir: «Todos somos Chávez!», und «Chávez vive - la lucha sigue». Und das sind nicht einfach leere Slogans. Denn Chávez hat uns ein grosses politisches Vermächtnis hinterlassen. Einen konkreten, detaillierten Plan für die nächsten sechs Jahre.

Das heisst, physisch ist der Leader abwesend, verstorben - aber er hinterlässt nicht eine Leere, es gibt dieses grosse politische Projekt, das weiterlebt: El Plan de la Patria Simón Bolívar 2013-2019.

René Lechleiter: Kannst Du das näher erläutern?

Carolus Wimmer: Sicher. Voraussetzen möchte ich, dass wir unsere Politik nicht als Opposition betreiben müssen, sondern den Präsidenten stellen, also Regierung sind. Das heisst allerdings nicht, dass wir an der Macht wären. Wir stecken mitten in einem gewaltigen Umwandlungsprozess. Dabei geht es um einen definitiven Bruch mit dem abgekarteten Zweiparteien-System, aber vor allem geht es um einen Bruch mit dem neoliberalen Wirtschaftssystem, der Abhängigkeit von den multinationalen Konzernen, den Polit- und Wirtschaftsdiktaten aus den USA, schliesslich um eine entsprechende lateinamerikanische Integration.

Was noch vor wenigen Jahren ein Traum war, ist heute Realität. Ihr müsst Euch das einmal vorstellen, Anfang der 90er Jahre stimmten vielleicht 200'000 Menschen für eine sozialistische Perspektive, heute sind es in Venezuela 7.5 Millionen! Darunter gibt es Kräfte, denen alles viel zu langsam geht, anderen wiederum zu schnell, und logischerweise schläft auch der Feind nicht, möchte den Prozess stoppen und umkehren. Es ist also noch gar nichts sicher, eine vordringliche Aufgabe ist und bleibt es, eine möglichst grosse Einheit aller antiimperialistischen und antikapitalistischen Kräfte herzustellen auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft. Hierfür steht das Projekt der Bildung eines Gran Polo Patriótico, welcher dann auch Präsident Maduro in seiner Arbeit unterstützt.

René Lechleiter: Bitte erläutere uns näheres zum «Plan de la Patria» und zum «Gran Polo Patriótico».

Carolus Wimmer: Dieser Plan de la Patria ist zwar sehr konkret, aber dennoch kein Rezeptbuch, wie man zu einer sozialistischen Gesellschaft wird. Davon sind wir sicher noch weit entfernt, wir sind aber auch schon ein gutes Stück weiter! Die Kunst besteht darin, die grundsätzliche Zielsetzung Schritt für Schritt umzusetzen und, wo nötig, Korrekturen vorzunehmen.

Auf wirtschaftlicher Ebene haben wir ein Land vor uns, das einseitig auf die Ausbeutung und den Export von Erdöl ausgerichtet war. Unsere Ökonomie ist abhängig vom Preis, der fürs Öl bezahlt wird. Wir glauben aber, dass Venezuela grosse produktive Möglichkeiten hat. Das würde uns unabhängiger machen von Importen und erst noch sinnvolle Arbeitsplätze schaffen. Dann wollen wir die Infrastruktur verbessern und ausbauen. Vom Strassennetz auf dem Land bis zu Flughäfen, neuen Eisenbahnlinien etc.

Obwohl die ökonomische Lage gegenwärtig nicht sehr einfach ist - wir haben unter anderem eine hohe Inflationsrate - wollen wir die von Chávez geschaffenen Sozialwerke, die so genannten misiones, aufrechterhalten und wenn möglich noch ausbauen. Um sich ein ganz genaues Bild der aktuellen Lage zu machen, betreibt Nicolas Maduro gegenwärtig eine Kampagne, die sich «Regierung der Strasse» nennt. Das bedeutet, dass Maduro nicht vom Präsidentenpalast in Caracas aus regiert, sondern sukzessive in allen Gliedstaaten die Zelte aufschlägt, den Dialog mit dem Volk und dessen lokalen Organisationen sucht.

Parallel dazu hat er auch das Gespräch gesucht mit einem der wichtigsten Unternehmervertreter, Mendoza, um eine gangbare Alternative zur Verknappungs-Strategie der Grossverteiler zu finden.

Ziel der Begegnungen ist es, den Plan de la Patria mit der Realität zu konfrontieren, zuzuhören, Kritiken und Vorschläge der Bevölkerung aufzunehmen, und gleichzeitig das Vertrauen in den Staat und den revolutionären Prozess zu festigen, oder, wo nötig, zurückzugewinnen. Es gilt auch, die junge Generation anzusprechen, man darf nicht vergessen, dass Venezuela ein grosses Bevölkerungswachstum von 1,8 Prozent hat; bei jeder Wahlrunde stossen zirka 800'000 junge ErstwählerInnen dazu.

Eine mittelfristige Absicht ist dabei die Schaffung von poder popular; wir denken sowohl an Kommunalräte in den Gemeinden, als auch an sozialistische ArbeiterInnenräte (consejos socialistas de trabajadores y trabajadoras), was in etwa eine Kontrolle der Werktätigen über Fabriken und Unternehmen bedeutet. Dies ist ein Feld, in dem sich Präsident Maduro bestens auskennt.

Weiter geht es uns auch um die Thematik Frieden und Sicherheit. Im engeren Sinne wollen wir eigentliche Friedenszentren einrichten, wo sich Familien, Frauen, Jugendliche, Kinder mit kulturellen Aktivitäten und Sport betätigen können und so von den Fängen der kriminellen Strassenbanden loskommen. Die Botschaft des Plan de la Patria enthält im Kern ein alternatives Projekt zum Kapitalismus, - der sich ja in einer totalen Krise befindet mit Arbeitslosigkeit, kriegerischen Interventionen etc. - da er auf Beherrschung oder Liquidierung ausgerichtet ist, während bei uns im Vordergrund das Schöpferische stehen soll, ein gesundes Leben für Mensch und Natur, Bildung für Alle, Kreativität, Liebe, Beteiligung am Aufbau von etwas Neuem, Solidarischem, national und international.

René Lechleiter: Was für eine Bedeutung hat angesichts dieser gewaltigen Pläne der «Gran Polo Patriótico»?

Carolus Wimmer: Eine ganz zentrale. Es geht hierbei um die Organisierung und die Einheit aller fortschrittlichen und revolutionären Kräfte hinter einem sich entwickelnden revolutionären Projekt. Also um die zentrale Basis nicht nur für eine Regierung, sondern für die Entwicklung in der gegenwärtigen Phase, die wir als Nationale Befreiung verstehen, und nachher auch für die Etappe des Aufbaus des Sozialismus.

Wir streben eine möglichst grosse Einheit des Volkes an, auf der Basis von gemeinsamen Prinzipien, einem gemeinsamen Programm und mit einem hohen Organisationsgrad. Konkret schwebt uns dabei jedoch nicht eine «Einheitspartei» vor, sondern eine neue Form der Volksorganisation.

Es hat ja Phasen gegeben, wo man das Ende der politischen Parteien heraufbeschwor, und dafür die Zivilgesellschaft als den neuen Träger für revolutionäre Prozesse bezeichnete. Wir sehen das heute viel differenzierter. Wr haben aus der Geschichte gelernt. Die Beseitigung der Ausbeutung obliegt nicht mehr der Arbeiterklasse à la Karl Marx, heute ist das Sache aller, also der Berufsleute, TechnikerInnen, Intellektuellen, speziell auch Frauen, Jugendlichen, somit also auch der verschiedenen sozialen Schichten und Zusammenhänge einer Gesellschaft, der verschiedenen Ethnien - und deren jeweiligen Organisationsformen.

Auch diese Idee, die Schaffung eines Gran Polo Patriótico geht auf eine Idee des Commandante Chávez zurück. Darin eingeschlossen sind die politischen Parteien (sowohl die Regierungspartei PSUV, als auch die PCV und andere, kleinere Parteien), die sozialen Bewegungen, die Organisationen von Frauen, von Jugendlichen, aber auch Gewerkschaftsorganisationen (es gibt in Venezuela leider keine einheitliche Gewerkschaftsbewegung) und schliesslich auch die Vertreter der nationalen Streitkräfte, der Fuerzas Armadas Bolivarianas, die mehrheitlich antiimperialistisch orientiert sind.

Natürlich spielen im heutigen Kontext die Streitkräfte eine wichtige Rolle. Präsident Maduro als Nicht-Militär möchte daher einen Zivil-Militärischen Revolutionsrat schaffen (Consejo político-militar de la Revolución). Das ist vorläufig erst eine Idee, doch die Notwendigkeit für einen solchen Verbund ist erkannt.

René Lechleiter: Das sind schöne Absichten. Bis es soweit ist, kann aber noch viel passieren?

Carolus Wimmer: Ja, wir sind uns bewusst, dass noch gar nichts gesichert ist. Umso stolzer sind wir auf den ersten Wahlsieg ohne die physische Präsenz des Revolutionsführers Chávez. Bis jetzt leben wir immer noch weitgehend in einer bürgerlichen Demokratie. Wir mussten in den letzten 15 Jahren viele Wahlen und Referenden bestreiten. Diese Urnengänge erheischten nicht nur volle Präsenz, sondern führten - in Ermangelung einer kollektiven Führung des Pozesses - zu jeweils lockeren Wahlallianzen. Aber wir hatten bisher nicht die Zeit und die Kraft zum Aufbau einer starken kollektiven Führungskraft der Revolution.

Solange wir so grossen Vorsprung hatten bei Wahlen und Abstimmungen, erschien es auch nicht unbedingt zwingend, über diese Allianzen hinauszugehen. Nun haben wir begriffen, dass das oberste Ziel lauten muss: Einheit. Maduro und der revolutionäre Prozess benötigen die volle und konkrete Unterstützung des Volkes, weit über die Regierungspartei PSUV hinaus. Die Schaffung einer strategischen revolutionären Allianz hat nun eine absolute Priorität erlangt.

Dies ist umso dringlicher, weil auch die Gegner des Prozesses nicht schlafen. Einerseits haben sie uns mit ihrer «Einheitskandidatur» vorgemacht, wie man WählerInnen gewinnen - in ihrem Fall täuschen - kann. Viel dramatischer ist es, dass sie das knappe Resultat wie erwähnt zum Anlass genommen haben, so etwas wie einen (weiteren) Staatsstreich anzuschieben.

René Lechleiter: Und die Zeit läuft. Bereits steht doch die nächste Wahlrunde an?

Carolus Wimmer: Ja, bereits in einem halben Jahr, am 8. Dezember 2013 werden in ganz Venezuela die Gemeinderäte und Bürgermeister neu gewählt. Wir wollen die Vorbereitung dieser Wahlen dazu nutzen, im genannten Sinne einen einheitlicheren Auftritt zu erreichen. Wir müssen die Unterstützung breiterer Kreise zurückgewinnen. Im Weiteren wollen wir jedoch auch einer der Zielsetzungen näher kommen, die in der neuen Verfassung festgeschrieben ist: die Schaffung einer wirklichen Demokratie, einer direkten Demokratie mit Volksbeteiligung.

Angesichts all dieser Aufgaben und Zielen ist es ganz wichtig, dass wir nicht in die Isolation abgedrängt werden, national und international. Wir schätzen es sehr, wenn in Europa und der Schweiz Anstrengungen unternommen werden, Venezuela und ALBA zu unterstützen. Für die Zukunft ist es zentral, dass der Prozess der lateinamerikanischen Integration vorankommt; nicht bloss als eine strategische Allianz, sondern ganz konkret. Das eröffnet den Menschen in vielen Ländern eine Perspektive, eine grosse Hoffnung.


René Lechleiter, Architekt und Journalist, kennt und verfolgt die politische Bewegung in Lateinamerika seit den 70er Jahren aus verschiedenen längeren Aufenthalten. Mehrmals als internationaler Wahlbeobachter tätig (Nicaragua, El Salvador, Bolivien); verschiedene Publikationen in Bücher und Zeitungen.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2013