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CORREOS/178: Brasilien - Über Vertreibungen und Demonstrationen


Correos des las Américas - Nr. 175, 21. September 2013

Über Vertreibungen und Demonstrationen

von Marcio Jeronimo



Rio de Janeiro ist eine eigentümliche Stadt. Im Zuge des Booms des sogenannten ökonomischen Wunders in den 70er Jahren wurde ein gewaltiger Migrationsprozess, vor allem aus dem Nordosten, initiiert. Die Anzahl Favelas auf den Hügeln inmitten der reichen Südzone wuchs enorm, in Gegenden, die bis anhin von der Bevölkerung Rios zur Bewohnung als ungeeignet erachtet wurden.

Ironisch gesprochen, wachten die Reichen aber eines Tages auf und realisierten, dass die Hügel die besten Orte zum Leben sind!

Zum Beispiel Rocinha, eine der grössten Favelas in der Südzone: In ihrer Nachbarschaft wurden auf kleineren Hügeln bereits wahrhafte Paläste errichtet. In diesem Kontext ist es offenkundig, dass Rocinha die Mittel- und Oberschicht mehr und mehr stört.

Auch Brasilien erlebt eine bereits länger andauernde Phase der Gentrifizierung, und jetzt vor allem in den WM-Städten wie beispielsweise Belo Horizionte, S&qtilde;o Paulo, Porto Alegre, Espirito Santo und selbstverständlich auch Rio de Janeiro. Um die Gentrifizierung voranzutreiben, sind Mega-Evente geradezu ideal. Im besonderen Fall Rio de Janeiros zeigt sich dies auf zwei Arten, in der sogenannten «weissen Vertreibung» und in der Zwangsvertreibung. In Rio de Janeiro wurden die UPPs (Unidades de Policía Pacificadora) kreiert, welche das Hauptinstrument sind um die «weisse Vertreibung» zu implementieren. Vielleicht muss ich einige Aspekte darstellen, um dies zu verdeutlichen:

Die meisten UPPs wurden in Favelas der Südzone installiert, die eigentlich noble Zone von Rio. In den Favelas gebrauchten viele BewohnerInnen klandestin Dienstleistungen für die Wasser- und Energieversorgung. Das ermöglichte überhaupt ein Überleben angesichts des geringen Einkommens. Mit der Ankunft der UPPs wurden diese Dienstleistungen sozusagen «moralisiert». Was ich damit meine ist: Wasser und Strom bedeuten sehr hohe Ausgaben für die arme Bevölkerung, die am Ende des Monats bezahlt werden müssen - ich weiss, dass diese Aussage jenen ironisch erscheint, die diese Ausgaben als bürgerliche Pflicht erachten. Gleichzeitig entstand durch den Einsatz von UPPs ein staatliches Kontrollsystem, was ein klandestines Anzapfen kaum mehr möglich machte. Wäre es die Absicht des Staates, dass die ursprünglichen BewohnerInnen bleiben können, müsste die Pazifizierung mit alternativen zusätzlichen Massnahmen begleitet werden, ein Beispiel hierfür wäre der Aufbau von Solarstrom.

Die Mieten in den Favelas, wo sich UPPs befinden, sind mittlerweile um fast 100% gestiegen, da die Präsenz der früheren massiv bewaffneten Drogenkommandos nicht mehr besteht, was wiederum die «Sicherheit» für die lokal Residierenden fördert.

Zusammenfassend wird es klar, dass all diese Faktoren eine erschreckende Immobilienspekulation in den Favelas der Südzone hervorgerufen haben. Kleines, wenig beachtetes Detail: Auch Europäer haben mittlerweile billig Häuser in diesen Favelas aufgekauft, selbst Hotels für die Touristen wurden bereits gebaut.

Die Zwangsvertreibung hingegen kann man als abartigste Gewalt gegen die Menschenrechte klassifizieren. In diesem Fall benutzt der Staat die Polizeigewalt, um die Menschen zu vertreiben, die kaum ihre Bürgerrechte einfordern können. Das Schlimmste ist, dass die Regierung dies mit schlichtweg perversen Argumenten rechtfertigt. In allen Gebieten, wo die Vertreibung bereits stattgefunden hat, wie auch denen, wo sie geplant ist, verwendet die Regierung Berichte, die diese Zonen als Risikogebiete für Erdrutsche definiert.

Der wirkliche Grund für die Vertreibungen ist jedoch die Absicht, neue Parkplätze, Strassen, Hotels etc. im Rahmen der Weltfussballmeisterschaft und der Olympiade zu bauen, Hand in Hand mit Immobilienfirmen, die diese Gebiete lukrativ nutzen werden. Interessanterweise kann dieses Vorgehen auf die Unterstützung der Medien zählen, allem voran von Rede Globo, welche die wichtigsten Fernsehsender und Zeitungen unter sich hat. In den Medien nennt die Rede Globo die Favelas «invadidas» , mit anderen Worten, die Bevölkerung sei illegal eingedrungen. Von wegen unparteiisch!

Ebenso wichtig sind die Strategien der Regierung für die Zwangsräumungen. Zuerst erstellen sie ein Kataster der BewohnerInnen. Dies sei notwendig, um finanzielle Unterstützung zu ermöglichen. Mit den erworbenen Informationen markieren sie die Häuser mit Nummern, man denke an die Nazizeit. Der nächste Schritt ist die Zwangsvertreibung, durchgeführt mit massiven Drohungen und Gewalt. Nehmen wir als Beispiel das Quartier Estradinha, auf der Höhe des Hügels Tabajares gelegen, zwischen den berühmten Vierteln Copacabana und Botafogo. 2011 gelang es der Stadtregierung, mehr als die Hälfte der Familien zum Wegzug zu überreden unter dem Vorwand, ihr Gebiet liege in einer Risikozone. Irma Fátima aus Estradinha begann den Widerstand der BewohnerInnen anzuführen: Sie blieben, wo sie wohnten, trotz ständiger Druckversuche, unterstützt vom Ingenieur Mauricio Campos, der mittels einer Studie beweisen konnte, dass die behauptete Gefahr eines Erdrutsches nicht existierte. Irma Fátima erzählt, dass das Quartier Estradinha 1986 von der Stadtregierung den BewohnerInnen offiziell übergeben wurde, nachdem erwiesen war, dass die Erde solid genug für den Wohnungsbau war. Jetzt, 27 Jahre später, behauptet die Stadtregierung, dass es eine Riskozone sei, nicht brauchbar als Wohngebiet. Die Strategie der Regierung ist klar: Estradinha ist Teil des Regierungsprogrammes PAC (ein staatliches Programm für Wachstumsbeschleunigung), die Favela soll einer Seilbahn weichen...

Kurz noch einige Überlegungen zum Phänomen der «plötzlichen» Demonstrationen und den Favelas:

Die kürzlichen Demonstrationen in Brasilien sind Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit u.a. über die verschlechterten öffentlichen Dienstleistungen.

Die staatliche Privatisierungspolitik und der Bau der Stadien für die Fussball-WM hinterlassen ein immenses Defizit mit umittelbaren Folgen für die öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit etc. Lassen wir uns nicht vormachen, die Demonstrationen beruhten vor allem auf der Erhöhung der ÖV-Tarife - die neu entstandene Bewegung war mehr eine Zündschnur, die die ganze politische Klasse erschütterte. Was ich jedoch hervorheben möchte ist, dass die Gewalteinsätze der Polizei, die bis anhin gegen arme Favela-BewohnerInnen gerichtet war, sich nun plötzlich auch gegen die demonstrierende Mittelschicht richtete, selbstverständlich in geringerer Heftigkeit. Trotzdem entlarven sie das System der Militarisierung der öffentlichen Sicherheit, die bis anhin von eben dieser Mittelschicht bewundert wurde. Das hat zwei Gründe: Mit den UPPs stieg der Grundstückpreis; auch die Quartiere in der Nähe der pazifizierten Favelas verteuerten sich und so wurden auch die Lebenskosten der Mittelschicht betroffen. Anderseits nahmen Diebstahl und Raub in erschreckendem Masse zu.

Die Panzerwagen mit Totenkopf, die bisher nur in den Favelas eingesetzt wurden, setzte man nun gegen die DemonstrantInnen ein. Der Unterschied ist, dass in den Favelas die Menschen gezielt umgebracht werden, die DemonstratInnen hingegen werden verprügelt. Teile der Mittelschicht beginnen sich mit den «armen Favelados» zu solidarisieren, die vorher als wahrhaft nutzlos betrachtet wurden. Das schafft die Möglichkeit eines erhöhten Bewusstseins über die Realität in den Favelas, vor allem auch dank der alternativen Medien.

Ein Satz, der an vielen Demonstrationen zirkulierte und deutlich die Partizipation von favelados in den Demonstrationen aufzeigt ist: «Die Polizei, die dich schlägt, ist dieselbe, die uns in den Favelas tötet.»


Der Autor hat u. a. den Film «Zwischen Mauern und Favelas» gedreht. Er lebt und arbeitet in Zürich und in Brasilien.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 175, 21. September 2013, S. 26-27
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2013