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CORREOS/180: Venezuela - Mainstream, Devisen und Linke


Correos des las Américas - Nr. 176, 16. Dezember 2013

Mainstream, Devisen und Linke

von Dieter Drüssel



Es wird so oft wiederholt, dass es zur keiner Erklärung mehr bedürftigen Selbstverständlichkeit wird: Venezuela steht vor dem Scheitern, die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft haben das Land ruiniert. Dies stimmt umso mehr, als es ja auch viele linke Medien zugeben. Die WoZ etwa, deren Journalist langsam daran verzweifelt, dass einer wie Maduro nicht einmal «ahnt», dass, um etwas sozial zu verteilen, es erst produziert sein will. Damit was produziert werden kann im Lotterland, müssen alte Zöpfe abgeschnitten und zum Beispiel der Wechselkurs flexibilisiert werden. Die gleiche Botschaft, allerdings gehaltvoller, verbreitet etwa Jan Ullrich im wichtigen Lateinamerikaportal amerika21.de. Das tut auch eine Reihe von ehemaligen und aktuellen Ministern der chavistischen Regierungen. Nicht Sabotage, Spekulation und bewusster Wirtschaftskrieg seien die Ursachen für die massive Verteuerung der letzten Monate (Jahresinflation um die 50 %), sondern wirtschaftliche Gesetze. Da der Staat die Devisenausfuhr kontrolliere und gleichzeitig wegen seiner Budgetkrise der venezolanischen Wirtschaft zu wenig Dollars zum Funktionieren zur Verfügung stelle, steige die US-Währung auf dem Schwarzmarkt in schwindelerregende Höhen. Auch dieser Markt gebe die realen Wirtschaftsinformationen wieder. Teurer Dollar - teurer Import, allgemeine Teuerung.

Nur, hinter dem «Ausweg» Flexibilisierung des Wechselkurses versteckt sich letztlich das Bestreben, die Öleinkünfte wieder unter die Kontrolle der nationalen und internationalen Bourgeoisie zu bringen. Zum Verständnis ein Blick zurück:

Die Devisenkontrolle wurde nach der grossen Wirtschaftssabotage 2002/03 («Ölstreik») eingeführt. Es kam zu einer Produktionseinbusse von $ 30 Mrd. und ins Ausland «geflüchteten» $20 Mrd., zusammen etwa so viel wie die damaligen Öleinnahmen im Jahr. Mit der Devisenkontrolle kam der Aufschwung. Ab 2004 verfolgte Chávez die Politik eines Paktes mit der «nationalen Bourgeoisie»: Für reichliche und billige Importdollars sollte der Privatsektor einen Teil der Gewinne in den Aufbau einer nationalen Produktionskapazität stecken. Die seit Jahrzehnten auf die Ölrente ausgerichtete Wirtschaft konnte den nationalen Bedarf an Konsum- und Investitionsgütern nicht abdecken, erst recht jetzt nicht, mit der massiven Steigerung des Unterklasseneinkommens. In den folgenden Jahren erhielt die Bourgeoisie als weiteres Zugeständnis die Möglichkeit, Obligationen des Staates und der Ölgesellschaft Pdvsa mit einheimischen Bolívares zu kaufen, Anleihen, die aber, gedeckt vom Staat, auf den internationalen Märkten in Dollars gehandelt werden konnten. Diese Mechanismen wurden von den Privatbanken verwaltet. Ergebnis: Ende 2009 kam es zu einem kriminellen Bankencrash und weiteren $30 Mrd. Fluchtkapital. Zwar wollte Chávez energisch durchgreifen, doch schon 2010 setzte er auf ein ähnliches Versöhnungsarrangement mit der Unternehmerschaft.

2012 war ein Jahr, in dem in Venezuela die Wirtschaft florierte und die Inflationsrate bei tiefen 5 % lag. Interessant sind nun Aussagen der damaligen Zentralbankpräsidentin Edme Betancourt zum Thema «Unternehmer am leeren staatlichen Devisentrog». 2012 erhielt der Privatsektor für die Einfuhr von Waren und Dienstleistungen $36 Mrd. Davon gingen mindestens $20 Mrd. an «empresas maletín», Phantasieunternehmen, gegründet mit dem Zweck, an staatliche Importdevisen heranzukommen. (Das spricht Bände über die aktive Kompliznschaft im staatlichen Finanzsektor.) Also: Für die realen Importgeschäfte reichten im relativen Boomjahr $16 Mrd. 2013 begann die Inflationsspirale eine Woche nach dem Tod von Chávez zu drehen, angeblich eben wegen der entsprechenden «Marktinformationen». Im ersten Halbjahr 2013 erhielt der Privatsektor Dollars allein für die Gütereinfuhr von $15 Mrd., ungefähr so viel wie in der Vorjahrsperiode. Und dennoch lassen die Marktgesetze wegen der mangelnden Dollarverfügbarkeit die Inflation in die Höhe schiessen?

Ein paar Dinge sind klar: Eine Abwertung trifft in der Tendenz das Einkommen der Unterklassen, deren Anteil am Volkseinkommen sinkt. Dies war die praktische Folge der von Finanzminister Merentes letzten Februar durchgeführten Abwertung des Bolívars, die nur teilweise durch Staatsmassnahmen ausgeglichen wurde. Merentes damalige Ankündigung der Wiedereinführung der eben abgeschafften Devisengeschäftsmöglichkeiten hat aber dazu geführt, dass er seine Position als Leiter des Wirtschaftskabinetts abgeben musste. Der «superchavistische» Mann steht vermutlich für jene Boliburguesía, eine neue Bourgoisiefraktion im Regierungslager, die etwa die evidenten Devisenverbrechen ermöglich hat. Die verschärften Preiskontrollen der Regierung zeigen jetzt in eine entgegengesetzte Richtung und stossen in der Bevölkerung auf grosse Zustimmung. Natürlich ist klar: Auf lange Sicht bleiben Preiskontrollen wirkungslos, wenn sie nicht Teil einer viel grösseren Agenda sind wie etwa der staatlichen Kontrolle oder Übernahme des Aussenhandels und der Privatbanken. Nur so wird sich Venezuela von seiner Ölabhängigkeit real emanzipieren können. Solche Fragen werden aber nicht mit billigen Ratschlägen gelöst, sondern es braucht Prozesse, in dem sich konkrete soziale AkteurInnen einbringen. Da gibt es keine Rezepte, dafür eine Machtfrage, auch hinsichtlich der Boliburguesía. Wichtig aber wäre, dass zumindest in linken Kreisen aufgehört wird, die Lügen des Mainstreams zu verbreiten. Das wäre schon was.


Quellen für diesen Artikel: Die Arbeiten des Ökonomen Simón Andrés Zuñiga und von Marea Socialista, beide auf aporrea.org zu finden.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 176, 16. Dezember 2013, S. 26
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2014