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CORREOS/195: Venezuela - Regime change humanitär


Correos de las Américas - Nr. 180, 4. Februar 2015

Regime change humanitär

von Dieter Drüssel


Am 18. Dezember veröffentlichte der Journalist Sandro Benini im Tages-Anzeiger eine Grossattacke auf die Parlamentarische Gruppe Schweiz-Alba, einen Zusammenschluss vorwiegend sozialdemokratischer und grüner ParlamentarierInnen mit einem solidarischen Interesse an den Entwicklungen in den Alba-Ländern. Benini hatte einige von ihnen per Email angefragt, warum sie sich mit Venezuela solidarisch fühlten, wo doch Amnesty International, Human Rights Watch, das UN-Komitee über willkürliche Verhaftungen und der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte die willkürliche Inhaftierung des venezolanischen Oppositionsführers Leopoldo López scharf kritisiert hätten. Die Antworten der Angefragten zeigten, dass sie Organisationen wie Amnesty als unbedingte moralische Instanz anerkennen. Ein Irrtum, wie darzulegen ist.


Der Kontext

Trotz realer Erfolgschancen verlor die Rechte am 14. April 2013 knapp die Präsidentschaftswahlen, gefolgt von einer deutlichen Niederlage in den Gemeindewahlen vom folgenden Dezember. Am 16. November 2014 veröffentlichte die venezolanische Zeitung Últimas Noticias ein Video von einem Treffen einer Vereinigung geflüchteter venezolanischer Putschisten am 13. Oktober 2013 in Florida, USA. Starredner war Leopoldo López, Chef der Partei Voluntad Popular (VP) in Venezuela. Zu den damals ein halbes Jahr zurückliegenden Präsidentschaftswahlen sagte López am Insidertreffen: «Am 14. April raubte Nicolás Maduro mit der Komplizenschaft des CNE (Nationaler Wahlrat) und des TSJ (Oberstes Gericht) die Wahlen. [...] Wir müssen den Abgang - la salida - vorverlegen [...] Nicolás Maduro muss besser früher als später aus der Regierung weg, und alle, die ihn begleiten [...] Es ist nicht das Gleiche, von einer verletzten Demokratie zu reden wie von einer sich konsolidierenden Diktatur [...] Wenn wir wissen, dass nicht eines der Merkmale eines demokratischen Systems erfüllt ist, dann können wir natürlich nicht eine einem demokratischen System angemessene Haltung einnehmen.»

La salida - unter diesem Begriff fasste die rechte Planung die am 12. Februar 2014 angelaufenen Versuche zusammen, die Regierung Maduro zu stürzen. Schon am 23. Januar 2014 riefen López und die seit Jahren von der US-Regierungsstiftung NED finanzierte Rechtspolitikerin María Corina Machado (Mitunterzeichnerin des Putschdekrets von 2002) zu «Strassenversammlungen» auf, bei denen es, so López, um «die salida dieser Regierung» gehen würde. «Die salida dieser Regierung liegt in unseren Händen», liessen sie wissen(1). Im Schutz von «zivilen» Protesten versuchten dabei zunehmend brutaler vorgehende Strukturen bis Juli 2014 vergeblich, breitere Bevölkerungskreise für einen Regierungsturz zu mobilisieren.

López wurde am 18. Februar 2014 verhaftet. Gegen ihn läuft ein Prozess wegen Brandstiftung, öffentlichem Aufruf zu einem Verbrechen und Verschwörung. Um ihn und Machado läuft eine sich intensivierende internationale Kampagne, um Venezuela zu isolieren und im Verbund mit der von der Bourgeoisie (auch der «chavistischen») angeheizten Versorgungskrise doch noch zum regime change zu gelangen. Ein Kernelement dieser Kampagne besteht in der Umkehrung der realen Gewalttäterschaften. In diesem Rahmen haben auch einige der international «angesehenen» Menschenrechtsagenturen ihren Auftritt.


Eckdaten zur López-Kampagne

30. Juli 2014: US-Aussenminister John Kerry verhängt Reiserestriktionen gegen venezolanische Behördenmitglieder, die «legitime Formen des Dissens» bei den vergangenen Demonstrationen «unterdrückt» und sich dadurch der «Verletzung von Menschenrechten» schuldig gemacht haben.

23. September 2014: Barack Obama verlangt, Leopoldo López und andere vom US-Präsidenten namentlich genannte Gefangene anderswo «müssen frei gelassen werden».

Ende September 2014: Die UN-Arbeitsgruppe über willkürliche Verhaftungen des UN-Menschenrechtsrates veröffentlicht ihre «Empfehlung» für die Freilassung von López.

20. Oktober 2014: Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte ruft «die venezolanischen Behörden dazu auf, die Herren López und Ceballos freizulassen».

22. Oktober 2014: Mariano Rajoy schreibt nach einem Treffen mit López' Ehefrau: «Seine Freiheit und das Recht, friedlich demonstrieren zu können, sind nötig.»

3. November 2014: Amnesty International veröffentlicht den Bericht «Venezuela: Briefing to the UNO Committee Against Torture, 53d. session, November 2014».

7. November 2014: Das zum US-Handelsministerium gehörende Bureau of Industry and Security verhängt über Venezuela die Bestimmungen über die sogenannten militärischen Endverbraucher-Lizenzen. Begründung: «die gewaltsame Unterdrückung des venezolanischen Volkes durch die venezolanische Armee.» Bisher waren einzig China und Russland diesem spezifischen Sanktionsregime unterworfen. Unter den Begriff fallen je nach Interpretation der Administration Obama dualuse-Produkte wie Computer, die Fingerabdrücke lesen können, die in Venezuela für die WählerInnenidentifizierung gebraucht werden. Mit diesem Beschluss wird das seit 2006 bestehende US-Waffenembargo gegen Venezuela ausgeweitet.

16. Dezember 2014: Die Sozialistische Internationale nimmt die militant rechte Partei von López, die Voluntad Popular, als Vollmitglied auf.

18. Dezember 2014: Die grosse rechte Mehrheit des Europaparlaments (inklusive sozialdemokratische Fraktion) fordert, u. a. in Bezugnahme auf den Fall López, das Ende der Repression in Venezuela.

18. Dezember 2014: Barack Obama setzt ein vom Kongress angenommenes neues Sanktionsgesetz gegen Venezuela in Kraft, das z. B. die Güterbeschlagnahmung bei Personen vorsieht, die mit «Menschenrechtsverletzungen [...] im Zusammenhang mit den Antiregierungsprotesten, die am 4. Februar 2014 begonnen haben», zu tun gehabt haben. Darunter fallen auch Menschen, die «bedeutende finanzielle, materielle oder technologische Unterstützung für die Begehung solcher Taten» geleistet haben.

19. Dezember 2014: Die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini zeigt sich «ernsthaft besorgt über das jedes Mal schlimmere Konfrontationsklima im Land und die andauernden willkürlichen Verhaftungen von Oppositionsführern. [...] Wir werden diese Fälle, einschliesslich jenes von Leopoldo López, aufmerksam verfolgen.»


Das Prozedere von Amnesty

Der November-Bericht von AI zeichnet eigentlich eine klassische Diktatur in Venezuela: gefolterte friedliche DemonstrantInnen, verfolgte OppositionspolitikerInnen, Straffreiheit für die Repressionskräfte, Paramilitärs.

AI befragt ausschliesslich Quellen der «zivilgesellschaftlichen» Organisationen der Opposition. Zwölf venezolanische «Menschenrechtsorganisationen» tragen den Bericht mit, eine von ihnen gemässigt rechts, die anderen elf virulent antichavistisch. Das wird nie transparent gemacht. Darstellungen der Behörden (nie zu konkreten Beschuldigungen) werden gestreift oder ein halber oder ganzer Satz wird daraus zitiert. Darstellungen von oppositionellen Kräften werden dagegen ausführlich zitiert und als Wirklichkeit «dokumentiert» (Ausdruck, der wiederholt für dieses Prozedere gebraucht wird).

35 namhafte MenschenrechtsverteidigerInnen veröffentlichten bis Ende März 2014 die Berichte «Situación de los derechos humanos en la coyuntura venezolana: una mirada alternativa» I und II, die sich explizit auch gegen die antichavistische «Instrumentalisierung des Menschenrechtsdikurses» wenden. Unter den AutorInnen befindet sich die ehemalige Venezuela-Verantwortliche von AI. Solche Quellen ignoriert AI strikt.

Gesetzgeberische Fortschritte im Bereich der Folter-Bekämpfung werden erwähnt, doch würden sie nicht umgesetzt. So seien zwischen 2003 und 2011 nur 12 Beamte wegen Folter und 187 wegen körperlichen Misshandlungen verurteilt worden.

AI: «Dies entspricht nur einem winzigen Prozentsatz der Berichte über Folter oder andere Misshandlungen.» (S. 6) Was für Berichte? Am 7. März 2014, auf dem Höhepunkt der guarimbas, als die AI-Quellen über die Medien von massenhafter Folter etc. berichteten, legte das für diese Kreise repräsentative Foro Penal Venezolano der Generalstaatsanwältin ganze 40 Fälle von realen oder angeblichen Menschenrechtsverletzungen vor. In vielen dieser Fälle war die Staatsanwaltschaft schon am Ermitteln (Mirada alternativa II).

Vielleicht zu Recht moniert Amnesty, gerichtsärztliche Berichte über den Gesundheitszustand von Verhafteten entsprächen nicht den internationalen Standards, was eine Dunkelziffer von Misshandlungen implizieren könnte. Und selbstverständlich müssen Menschenrechtsverletzungen streng geahndet werden. Doch warum soll das eine beeindruckend tendenziöse Auswahl der Ereignisse, rechte Propaganda und Halbwahrheiten legitimieren?

Ein Beispiel für Halbwahrheit: Auf S. 7 referiert AI die Ermordung des oppositionellen Bassil Dacosta an der guarimba-«Startdemo» vom 12. Februar, mutmasslich durch ein deswegen in Haft genommenes Mitglied des Geheimdienstes Sebin. Unerwähnt bleibt, dass Minuten zuvor ein landesweit bekannter chavistischer Militanter mit offenbar derselben Waffe am gleichen Tatort ermordet worden war. Die ausschliessliche Fokussierung auf die «staatliche Repression gegen Oppositionelle» muss erhalten bleiben ...


Die «Ausgewogenheit» von AI

Emotional aufladende Aussagen stimmen die LeserInnen auf die insinuierte Existenz von «chavistischen Todesschwadronen » ein. Beispiel im Zusammenhang mit einer antibolivarischen Aktivistin: «Nach Berichten, die Amnesty International erhalten hat, wurden gegen ihr Haus in ein Flugblatt eingewickelte Steine geworfen, auf dem stand: 'Wir sehen, dass du die erste Warnung nicht beachtet hast - Jetzt siehst du, dass wir überall Leute infiltriert haben und dass wir dir überall hin folgen. Dies ist unsere zweite Warnung. Eine dritte wird es nicht geben. Das nächste Mal wird es Kugeln geben.'» (S. 8) Berichte von wem? Warum nicht ein erhärtendes Element? Auf einem Foto auf dem Blatt sei auch eine weitere AI-Gewährsfrau, Ghina Rodríguez, Ehefrau eines laut AI von «einer bewaffneten Proregierungsgruppe» im März ermordeten Oppositionssaktivisten. Rodríguez hatte in venezolanischen Medien geschildert, wie Banden auf ihren Motorrädern wild um sich schiessend während Stunden friedliche AnwohnerInnen der Stadt Valencia terrorisierten, ohne von Sicherheitskräften belästigt worden zu sein. Solche Auswüchse von Hollywood-Phantasy verschweigt AI, ohne aber an der Glaubwürdigkeit ihrer Quelle zu zweifeln.

In Sachen Gängelung der Justiz dient AI prominent der Fall Leopoldo López, dessen «Verhaftung politisch motiviert zu sein scheint» (S.9).

Ausgewogenheit, S. 10. Weit weniger als ein Hundertstel des Gesamtberichts dient der Erwähnung, dass es auch zu Gewalt auf Seiten der Opposition gekommen sei und unter den 43 Guarimbas-Toten auch Sicherheitsbeamte und Unbeteiligte gewesen seien. Eine am 14. April veröffentlichte Untersuchung(2) zu den damals 41 guarimba-Ermordeten ergab: Unbeteiligte, Mitglieder der Sicherheitskräfte und Chavistas stellten die grosse Mehrheit der Toten. Bei ihnen erwähnt AI keine Namen, schildert keine Mordumstände, zitiert keine Aussagen von Angehörigen, die sich jetzt im Komitee der guarimba-Opfer organisieren, um gegen die rechte transnationale Weisswäscherei zu protestieren. Denn Amnesty geht nach ihrer supersummarischen Erwähnung wieder zur seitenlangen «Sache» über, wie nämlich Oppositionelle - sie haben einen Namen - (angeblich) von der Guardia Nacional beschossen wurden.


«Knall das Monster auf das Titelblatt»

Wiederholt kommt Amnesty auf «bewaffnete Proregierungsgruppen» zu sprechen und widmet diesen auf S. 13 ein Unterkapitel. Man habe dazu «Dutzende von Berichten von Menschen in Mérida» erhalten, wo, so suggeriert Amnesty, die Leute «Barrikaden vor ihren Häusern errichtet hatten, um sich vor diesen bewaffneten Banden zu schützen». Mérida ist wie das von AI ebenfalls als Ort der Unterdrückung erwähnte Bundesland Táchira ein Grenzstaat zu Kolumbien. Hier verbreiten kolumbianische Paramilitärs seit Jahren, protegiert von oppositionellen Lokalbehörden, Angst und Gewalt. Hier üben kolumbianische Paramilitärs Macht aus; einige von ihnen wurden in den guarimbas verhaftet. Doch für AI verkehrt sich die Sache um 180 Grad. Die Paras sind die colectivos, die «bewaffneten Proregierungsgruppen», bolivarische Basisgruppen. Sie dienen der Rechten als Schreckensinbegriff für «castrochavistischen Totalitarismus» - «Knall das Monster auf die Titelseite», wie man in Italien sagte. AI übernimmt den Ball, unter Abschminke der extremistischen Begrifflichkeit.


Die grundlegende politische Lüge

Der Bericht konzentriert sich auf Vorgänge während der guarimbas, die durchgehend als «Sozialproteste» bezeichnet werden. «Sozialproteste», von denen AI nicht mitteilt, dass sie strikt nicht in Unterklassenquartieren stattgefunden haben.

Regierungshandlungen sind stets im gesellschaftlichen Kontext zu analysieren (sonst wird es immer manipulativ). Nicht, um diese Handlungen allenfalls zu «entschuldigen », sondern um sie einzuordnen. Das will AI verhindern. Der Bericht suggeriert permanent, ohne es ein Mal klar auszusprechen, dass MR-Verletzungen eine Auswirkung einer grundsätzlichen bolivarischen Regierungspolitik seien.

Dieses Negieren bzw. Umdrehen des politischen Kontexts ist konstitutiv für den ganzen Bericht. In den guarimbas kam eine gut organisierte und vorbereitete Gewaltstrategie zum Ausdruck, die das Ende der chavistischen Regierung und generell der bolivarischen Positionen in der Gesellschaft zum Ziel hatte. In dieser Konstellation hat die Regierung insgesamt behutsam agiert - bei aller Unerträglichkeit des Vorgehens der Sicherheitskräfte in bestimmten Situationen. So wurden etwa zwecks Deeskalation zentrale Strassenblockaden wochen-, ja monatelang nicht geräumt. (Und unvorstellbar für AI: Militante Gegenwehr gegen faschistoiden Terror ist nicht per se zu verdammen.)


Wovon Amnesty nichts wissen will

In Correos 177 (April 2014) sind Beispiele für die systematische rechte guarimba-Gewalt dokumentiert. Hier nur ein Wort zu den «chavistischen Todesschwadronen »: Laut bolivarischen Quellen legen etwa Kugelflugbahnen nahe, dass rechtsextreme Kräfte für Morde auch an rechten AktivistInnen verantwortlich seien. In einem Fall haben die Untersuchungsbehörden diese These widerlegt (bei einer Barrikade hatte ein Guardia Nacional geschossen). Dennoch ist sie plausibel. Am 11. September 2002 wurden 19 Beteiligte einer rechten Mobilisierung und einer chavistischen Gegendemo erschossen. Die 19 angeblich vom Chavismus Ermordeten auf der Llaguna-Brücke wurden von den westlichen Medien als Rechtfertigung für den dadurch angeblich ausgelösten Putsch gehandelt. Doch es ist eindeutig: Die Todesschüsse kamen von der putschistischen Gemeindepolizei, um den Vorwand für den Putsch zu schaffen. Seit Jahren fordert AI die Freilassung des hauptverantwortlichen Polizeikommissars Iván Simonovis aus «Gesundheitsgründen» - gegen den erbitterten Protest der Opfervereinigung des Puente Llaguna.


Die UNO, der Señor López, die Experten und der Prinz

Für die Darstellung des Falles von Leopoldo López stützte sich AI hauptsächlich auf das Septembergutachten der fünf Mitglieder der UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Verhaftungen. Darin legt eine nicht weiter spezifizierte «Quelle» lange dar, warum die Menschenrechte von López verletzt seien, kurz wird eine Antwort der venezolanischen Regierungen auf diese Vorbehalte referiert, worauf die «Quelle» ihrerseits länger antwortet. Das UN-Gremium schliesst sich im Schlussteil voll den Ausführungen der Quelle an.

Die «Quelle» schildert den guarimba-Start vom 14. Februar 2014 eklatant wahrheitswidrig so, dass nach Abschluss der friedlichen Oppositionsdemonstration diese von «bewaffneten, mit der Regierung verbündeten Vigilantegruppen, bekannt als colectivos, angegriffen» worden sei. López sitze aktuell im «Kontext von Schikanen und Verfolgung der letzten 10 Jahre» in Haft. 2011 habe die CIDH (Interamerikanische Menschenrechtskommission und -Gerichtshof der OAS) den Entzug des passiven Wahlrechts von López durch venezolanische Gerichte aufgehoben.

Die Antwort der Regierung ist sehr knapp und allgemein wiedergegeben, fokussiert vor allem auf die zur Anklage gereichenden Paragraphen. Als Begründung referiert das Komitee einzig, laut Regierung habe López «demokratische Kanäle» ignoriert und am «2. Februar 2014 für eine landesweite Massendemonstration am 14. Februar aufgerufen, um die legitime Regierung abzusetzen». Dafür findet Folgendes Eingang in die «Expertise» der fünf Mitglieder der UN-Arbeitsgruppe: «Die Regierung erhebt den Anspruch, in einer von nationalen politischen AkteurInnen und internationalen VertreterInnen verifizierten Wahl gewählt worden zu sein.»

Die Antwort der «Quelle» besteht im
Wesentlichen darin, die «Nichtantwort» der
Regierung auf ihre konkreten Vorhaltungen
würden diese bestätigen. In ihrem Befund
macht die AG eingangs klar, wie sie die
Dinge sehen will: «Die Arbeitsgruppe respektiert
die unbezweifelbaren Handlungen von
Tausenden von VenezolanerInnen, die sich
am 12. Februar 2014 in [...] Caracas versammelt
haben.»
(Pt. 46)

Bei so viel Respekt versteht sich auch, dass die AG mit ihrer Beschreibung des Demokratieheros López 2004 ansetzt. Sonst hätte sie vielleicht erwähnen müssen, dass er während des Putschs 2002 an der Spitze einer bewaffneten Meute vor laufenden Kameras den rechtmässigen Innenminister aus seinem Haus zerrte und misshandelte. Schliesslich war er Bürgermeister der hauptstädtischen Oligarchiegemeinde Chacao.

Vorab zur «Menschenrechts»-Gerichtsbarkeit der OAS, der CIDH: Salim Lamrani von der Sorbonne-Paris IV fasste zusammen (Correos 171, September 2012), weshalb Venezuela 2012 daraus ausgetreten ist. Mehrere Gründe haben den Ausschlag gegeben, alle vor dem Hintergrund, dass die CIDH das Land von 2000 (Regierung von Chávez) bis 2012 36 Mal verurteilt hatte, «sieben Mal mehr als in den 40 Jahren zuvor, die durch Übergriffe aller Art und besonders durch den Caracazo vom 27. und 28. Februar 1989 gekennzeichnet waren, einer Volkserhebung gegen die Teuerung, die von Armee und Polizei blutig unterdrückt worden war, mit dem Saldo von 3000 ermordeten ZivilistInnen». Der von der CIDH beanstandete Entzug der Wählbarkeit von López durch venezolanische Gerichte geht auf einen schweren Korruptionsfall 1998 zurück, als seine Mutter, Kader in der staatlichen Ölgesellschaft Pdvsa, die politischen Ambitionen ihres Sohnes mit Pdvsa-Geldern finanzierte.

Die fünf Mitglieder der Arbeitsgruppe sind: Mads Andenas, vorher Topkader im norwegischen Handels- und im Finanzministerium und in der «Osteueropabank » EBRD; José Guevara, ehemaliger stellvertretender Generaldirektor für Menschenrechte im mexikanischen Aussenministerium; Seang-Phil Hong, der u. a. für das Investorengericht der Weltbank (ICSID) gerichtet hat; Sètondji Adjovi aus Bénin, mit Erfahrungen im internationalen Ruandagericht, und der Ukrainer Vladimir Tochilovsky mit ICC-Background. Guevara, Hong und Adjovi sitzen seit Beginn 2014 in der Arbeitsgruppe. In der Unia-Zeitung Work vom 5. Juli 2012 schrieb Jean Ziegler: «Als neuer Präsident des Selektionsausschusses des (UNO-)Menschenrechtsrates wurde dank intensivem amerikanischem Druck Roberto Flores, der Botschafter von Honduras, gewählt. Er hat damit entscheidende Kompetenzen. Denn er wählt die Sonderberichterstatter und Experten für die vom Rat eingesetzten Untersuchungskommissionen aus.» Flores Bermúdez war 2009 der Verbindungsmann der honduranischen PutschistInnen in Washington. Auf Rückfrage bestätigte Jean Ziegler, «natürlich» habe Flores bei der Ernennung der neuen Mitglieder der Arbeitsgruppe entscheidenden Einfluss gehabt.

Zeid Ra'ad Al Hussein ist ein Prinz aus dem jordanischen Herrschergeschlecht und seit 1. September 2014 UN-Hochkommissar für Menschenrechte. Keine zwei Monate im Amt, verlangt er von Venezuela die Freilassung von López. Auf ein vorgängiges Gespräch mit Caracas hatte er verzichtet.


Abschied von «Menschenrechts»-Apparaten

Der Putschist ernennt die UN-Menschenrechtsexperten. Er repräsentiert die Propaganda des «humanitären Interventionismus», der responsability to protect oder der failed states. Für diese Tendenz stehen etwa die jetzige AI-Lateinamerika-Verantwortliche Nuria García oder Suzanne Nossel, die 2012 AI USA leitete. Nossel war Topkader bei Human Rights Watch und im Privatsektor beim Wall Street Journal, bei Bertelsmann und McKinsey gewesen. Als Mitglied des Council on Foreign Relations lancierte sie in Foreign Affairs den Begriff smart power, also die Verbindung von US-Militärpower und nicht-militärischem soft power. Aussenministerin Hillary Clinton hatte den Begriff als zentrale Leitlinie für die US-Weltpolitik übernommen. In Clintons State Department war Nossel dann u. a. zuständig für den UN-Menschenrechtsrat, wo sie, wie AI damals auf ihrer Homepage plagierte, «bahnbrechende» UN-Menschenrechtsrat-Resolutionen etwa zu Iran, Libyen oder Côte d'Ivoire angestossen hatte. Danach leitete sie Amnesty USA, welche 2012 anlässlich des NATO-Gipfels in Chicago (und der Gegenmobilisierung) mit einer Plakatkampagne mit dem Bild burkaverschleierter Afghaninnen und dem Text: «NATO: keep the progress going» brillierte. Nach massiven Protesten musste Nossel gehen. Doch Dinge wie die Machart der Venezuela-Berichte zeigen, dass damit leider keine grundlegende Besinnung eingeleitet worden war.

Eine Geistesverwandte von Nuria oder Nossel ist Navi Pillay, bis August 2014 UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Sie war z. B. instrumentell für die UNO-Kriegsermächtigungsresolution gegen Libyen. Doch «humanitärer Interventionismus» manifestiert sich natürlich nicht bloss in der Bejahung von Kriegen. Nehmen wir Haltungen zu El Salvador und Honduras als Beispiel. Nach dem linken Wahlsieg 2009 in El Salvador entwickelte die Verfassungskammer des Obersten Gerichts einen bis heute andauernden Politaktivismus. Sie setzt(e) mit jeweiligen «Neuinterpretationen» der Verfassung ganze Paragraphen eben dieser Verfassung ausser Kraft, jeweils zulasten der neuen Parlamentsmehrheit und Regierung. 2012 kam es zu einer schweren Krise zwischen Parlament und Verfassungskammer; Mitte Jahr intervenierten Washingtoner FunktionärInnen öffentlich zugunsten des schleichenden Justizputsches. Und am 18. Juli 2012 rief Pillay den salvadorianischen Parlamentspräsidenten dazu auf, «die Unabhängigkeit der Justiz» zu respektieren. Wenige Monate später, am 12. Dezember 2012, liess der honduranische Parlamentspräsident (heute Staatspräsident) Juan Orlando Hernández vier von fünf Mitgliedern der Verfassungskammer des honduranischen Obersten Gerichts absetzen und durch Leute seiner Wahl ersetzen. Die vier hatten ein von Hernández auch heute noch favorisiertes Projekt von «Modellstädten», in denen Investoren eine eigene Verfassung, Gesetzgebung und Staatsgewalt erlassen sollten, als verfassungswidrig verworfen. Von Navi Pillay kam dazu kein Ton. Dafür konnten die honduranischen Medien am 7. März 2014 berichten, wie Pillay das Land als «nachahmungswürdiges Beispiel» bezeichnete, im Vergleich zur unmittelbaren Zeit nach dem Putsch.

Der Weg der «humanitären InterventionistInnen» zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Die Hopp-NATO-Kampagne von AI USA drückt dies aus. Wer wäre schon gegen die «Befreiung» von afghanischen Frauen? Kein Zufall, befinden sich unter den AI-«KronzeugInnen» gegen das chavistische Venezuela zwei Ultragruppen, von denen sich die eine als Frauenorganisation und die andere als LGBTI (Lesbians, Gays, Bi-, Trans- und Intersexuals) darstellen. Natürlich haben die reale feministische Bewegung und die LGBTI in Venezuela eine komplett andere Stossrichtung, doch solche «KronzeugInnen» beruhigen das Gewissen der «humanitären» TäterInnen. Natürlich sind die «wichtigen» Organisationen wie AI nicht die, die an der Menschenrechtsfront stehen. Das sind andere, die in ihren Ländern kämpfen. Aber die vielen ehrlich Engagierten in AI werden Gewissensqualen nicht ausweichen können.


Anmerkungen:

(1) diariodecaracas.com/politica/machado-lopez-convocan-movilizaciones-en-todo-el-pais

(2) Albaciudad.org: Conozca los 41 fallecidos...

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 180, 4. Februar 2015, S. 12-15
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2015

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