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DA/605: Chancen und Risiken von Tarifverträgen


DA - Direkte Aktion Nr. 230 - Juli/August 2015
anarchosyndikalistische Zeitung der Freien ArbeiterInnen Union (FAU-IAA)

Wer sich nicht ins Feuer begibt kommt darin um
Oder: Chancen und Risiken von Tarifverträgen

von Rudolf Mühland (FAU Düsseldorf)


2010 führte die FAU Berlin einen langanhaltenden Kampf im Kino Babylo(h)n[1] um einen Haustarifvertrag. Aktuell befindet sich die FAU Frankfurt in einem Konflikt mit der Lebenshilfe um einen Haustarifvertrag.[2] Und eine Betriebsgruppe der FAU Berlin hat unlängst einen Haustarifvertrag abgeschlossen.[3] Allerdings gibt es keine offizielle Position der FAU zu der Frage ob überhaupt Tarifverträge abgeschlossen werden sollen, nach welchen Regeln sie ggf. zustande kommen können und wie diese insgesamt im Spannungsverhältnis von Kapital und Arbeit zu sehen sind. Mit diesem Beitrag wollen wir versuchen, wie unter anderem schon die FAU Bremen im Jahr 2005, eine notwendige Debatte anzustoßen.


Die rechtlichen Grundlagen laut Tarifvertragsgesetz (TVG)

Wer darf einen Tarifvertrag (TV) abschließen?

Das TVG erlaubt auf Seiten der ArbeiterInnen einzig und alleine Gewerkschaften Tarifverträge abzuschließen.[4] Das hat weitreichende Konsequenzen: Zum einen legt das Betriebsverfassungsgesetz fest, dass für Gewerkschaften die "Anerkennung des geltenden Tarifrechts" verbindlich ist, zum anderen verlangt das Bundesarbeitsgericht (BAG) "Mächtigkeit", also die Fähigkeit den Boss unter Druck setzen zu können. Faktisch wird damit zumeist die Streikfähigkeit gemeint. Aber die Gewerkschaft muss darüber hinaus nach Meinung des BAG schon vor Tarifverhandlungen in der Lage sein die wirtschaftliche Lage zu analysieren und nach Abschluss eines TV dessen Einhaltung auch zu überwachen. All dies könnte uns egal sein, wenn es nicht auch Dritten möglich wäre, die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft durch die Arbeitsgerichte überprüfen zu lassen. So haben zum Beispiel ver.di und DGB gegen die Tariffähigkeit der "Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften Zeitarbeit" CGZP geklagt (ArbGG §97)[5] und letztinstanzlich auch Recht bekommen. Begründet wurde die Tarifunfähigkeit der CGZP unter anderem durch die niedrige Anzahl abgeschlossener TV, Abweichungen - zum Beispiel beim Stundenlohn - nach unten und fehlende soziale Mächtigkeit (= Streikfähigkeit). Auf Seiten der Bosse können grundsätzlich sowohl Arbeitgeberverbände als auch einzelne Bosse mit den Gewerkschaften Tarifverträge abschließen.

Was darf man in einem Tarifvertrag regeln?

Laut TVG regelt ein Tarifvertrag "die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (obligatorischer Teil) und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können (normativer Teil)".[6] Im obligatorischen Teil werden also Dinge geregelt, die direkt das Verhältnis von Gewerkschaft auf der einen Seite und Arbeitgeber beziehungsweise Arbeitgeberverband auf der anderen Seite betreffen. Im normativen Teil werden all die Dinge geregelt, die ihre Wirkung für die einzelne Arbeiterin entfalten, wie zum Beispiel Fragen nach der Lohnhöhe, Kündigungsfristen, Urlaubstagen, Sonderzahlungen und vieles andere mehr.

Der Tarifvertrag muss schriftlich vorliegen und von den beiden Vertragsparteien unterzeichnet sein. Andere Schriftstücke, zum Beispiel die Protokolle der Verhandlungen oder Richtlinien zur Anwendung oder zum Verständnis und zur Auslegung des TV, sind nur dann Teil des TV, wenn in diesem ausdrücklich auf sie verwiesen wird.

In der Praxis haben sich unterschiedliche Formen von TV herausgebildet: Da wäre zum einen der Manteltarifvertrag (MTV). Üblicherweise werden hier Fragen längerfristig geregelt; die Laufzeit beträgt üblicherweise drei Jahre. Dies sind oft Dinge wie Arbeitszeiten, Urlaub, Überstunden und anderes mehr. In Rahmentarifverträgen (RTV) werden üblicherweise die Lohngruppen festgelegt. Auch finden sich dort die Bestimmungen zur Eingruppierung. Auch sie haben zumeist eine Laufzeit von drei Jahren. In den Entgelttarifverträgen (ETV) wird eigentlich nur die Lohnhöhe festgelegt. Die Laufzeit ist zumeist deutlich kürzer als bei den anderen beiden Tarifformen.

Natürlich ist die Trennung in diese drei Vertragsarten keine totale. Es ist absolut erlaubt, Fragen, die üblicherweise separat in ETV, RTV und MTV geregelt werden, allesamt in einem einzigen TV zu regeln. Wichtig für ArbeiterInnen ist es aber zu wissen, dass es im Zweifel nicht reicht, nur einen von den drei ggf. für einen selbst wirksamen Tarifverträgen zu kennen. Ganz zu schweigen von weiteren denkbaren Verträgen.[7]

Für wen gilt der Tarifvertrag?

Zuerst einmal gilt ein TV unmittelbar und zwingend. Das bedeutet, dass ein Tarifvertrag sofort mit der Unterzeichnung gilt und dass weder der Boss noch die einzelnen ArbeiterInnen von den Regelungen "nach unten", also zuungunsten der ArbeiterInnen abweichen dürfen. In der Praxis geschieht dies nur allzu oft, aber dazu später mehr. Abweichungen "nach oben", also zugunsten der ArbeiterInnen sind jederzeit möglich. Die JuristInnen nennen dies Günstigkeitsprinzip. Der Tarifvertrag stellt in diesem Sinne also nichts weiter dar als das kollektivvertraglich geregelte Minimum, das den ArbeiterInnen auf jeden Fall zusteht. Es ist aber ausdrücklich erlaubt, in den Verhandlungen zum Arbeitsvertrag mehr Lohn, mehr Urlaub, kürze Arbeitszeiten, bessere Überstundenregelungen usw. durchzusetzen (das bedarf natürlich einer starken individuellen Verhandlungsposition). Allerdings gelten Tarifverträge nur für die Mitglieder der abschließenden Gewerkschaft unmittelbar und zwingend. Bist du kein Gewerkschaftsmitglied gilt der TV für dich prinzipiell erst einmal nicht. Bis vor einigen Jahren war das auch überhaupt kein Problem. In aller Regel haben die Arbeitgeber den jeweils gültigen TV einfach auf alle ArbeiterInnen angewandt. Zwei Dinge verändern diese Praxis langsam: Zum einen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes, dass es in einem Betrieb mehr als eine Gewerkschaft geben kann, die für ein und denselben Berufszweig entsprechende Tarifverträge abschließt. Dies zwingt die ArbeiterInnen in einigen Fällen dazu, bekanntzugeben, in welcher Gewerkschaft sie sind, damit auf sie die jeweiligen tariflichen Bestimmungen angewandt werden können. Zum anderen führen "Tarifflucht", also das Austreten einzelner Arbeitgeber aus den entsprechenden Arbeitgeberverbänden, und die wirtschaftliche Situation (mit einem Heer von Arbeitslosen einerseits und vollzeitarbeitenden Armen andererseits) dazu, dass Bosse untertariflich bezahlen und sich in anderen Bereichen (zum Beispiel Urlaub, Sonderzahlungen...) nur an die gesetzlichen Mindestregelungen halten. Laut TVG[8] können in unter bestimmten Umständen Tarifverträge auch für "allgemeinverbindlich" erklärt werden. Geschieht dies, so gilt der TV ausnahmslos für alle ArbeiterInnen eines bestimmten Branche in einer bestimmten Region oder gar bundesweit.

Wie kommt ein Tarifvertrag zustande?

Zwei Szenarien kommen in der Praxis am häufigsten vor. Zum einen der erstmalige Abschluss eines TV für eine Berufsgruppe/Branche oder ein Gebiet. Zum anderen der Anschlusstarifvertrag. Beides hält sich normalerweise an bestimmte sehr ritualisierte Wege und unterscheidet sich kaum.

Am Anfang steht in der Regel das Aufstellen einer gewerkschaftlichen Tarifkommission. Diese leistet wirtschaftliche Analyse, stellt einen Forderungskatalog auf und begibt sich in Verhandlungen mit dem einzelnen Boss oder dem entsprechenden Verband. Sollten die Verhandlungen scheitern, kann es eine Schlichtungsphase geben. Einige TV schreiben die Schlichtung zwingend vor. Während der Schlichtung sind in der Regel Arbeitskampfmaßnahmen untersagt. Falls sich beide Seiten auf eine Schlichtung verständigen oder diese gar im TV vorgeschrieben war und diese scheitert, führt dies zumeist zu Warnstreiks oder gar zur Urabstimmung über einen Streik.[9] Ziel des Streiks ist es den Boss oder den entsprechenden Verband dazu zu bewegen ein besseres Angebot vorzulegen und/oder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Am Ende steht dann in der Regel der neue TV.[10] Im Falle einer Kündigung des TV oder des Erreichens der vorher festgelegten Gültigkeitsfrist wirkt dieser nach. Nachwirkung bedeutet, dass alle Regelungen weiter gelten, allerdings können sie nun jederzeit auch durch arbeitsvertragliche Änderungen auch zuungunsten der ArbeiterInnen ersetzt werden.[11]

Wie wird der Tarifvertrag durchgesetzt?

Obwohl ein TV unmittelbar und zwingend gilt, ist es tägliche Erfahrung, dass sich die Bosse nicht an die tariflichen Mindeststandards halten. Aus Sicht der Bosses sind Tarifverträge vor allem ein Faktor, die die "Ware Arbeitskraft" nur unnötig verteuert. Grundvoraussetzung um die tariflichen Mindeststandards durchzusetzen ist, dass die ArbeiterInnen überhaupt von der Existenz und den konkreten Inhalten der Tarifverträge wissen. Theoretisch müssen die Bosse auf die für sie geltenden Tarifverträge hinweisen[12]. Laut TVG muss der TV[13] sogar an "geeigneter Stelle" ausgehangen/bekannt gemacht werden. Da es aber keine gesetzlichen Sanktionen gegen den Boss gibt, wenn er das nicht tut, bleibt uns oft nichts anderes übrig als (falls vorhanden) beim Betriebsrat oder besser gleich bei der zuständigen Gewerkschaft nachfragen.

Haben die ArbeiterInnen erst einmal Kenntnis, bleiben folgende Wege zur Durchsetzung:

1. Die individualrechtliche Durchsetzung, d.h. die einzelne Arbeiterin zieht vor das Arbeitsgericht.

2. Die Massen- oder Sammelklage. Wenn es sich um klare Verstöße handelt, rät es sich Sammelklage einzureichen. Das hat den Vorteil, dass nicht mehr eine einzelne Arbeiterin klagt und sich damit den Unmut des Bosses zuzieht.

3. Falls vorhanden, kann man sich auch an den Betriebsrat wenden. Dieser ist verpflichtet über die Einhaltung des TV zu wachen.[14] Allerdings hat er im Falle eines Falles nur das Recht mit dem Boss zu verhandeln und keine rechtlichen Möglichkeiten ihn zur Einhaltung des TV zu zwingen.

4. Die Gewerkschaft kann vom "Tarifpartner" verlangen, sich an den TV zu halten. Bei Firmentarifen ist das relativ einfach, denn im Zweifel kann sie die Einhaltung gerichtlich erzwingen. Handelt es sich um einen TV mit einem Verband, kann sie nur den Verband auffordern auf die Mitglieder des Verbandes einzuwirken. Eine Klage gegen den Verband wäre zwar möglich, ist aber nicht wirklich effektiv. Denn halten sich einzelne Bosse nicht an den TV, kann der Verband diese nur auffordern dies zu tun oder sie aus dem Verband ausschließen.

In der Zeit, in der der Boss sich nicht an den TV hält, könnten die betroffenen ArbeiterInnen theoretisch die Arbeit verweigern.[15] Dies wird aber sehr selten getan. Zum einen weil dies kaum ArbeiterInnen wissen und zum anderen weil es sehr darauf ankommt wie die KollegInnen so gestrickt sind, ob es (ökonomische) Unterstützung von außen gibt und vieles andere mehr.


Friedenspflicht und Sinn von Tarifverträgen

Aus staatlicher Sicht entlastet das TVG den Staat, da er sich in der Regel nicht mehr um die üblicherweise durch TV geregelten Dinge kümmern muss. Dass dieses Konzept aus den verschiedensten Gründen nicht immer auf Dauer aufgeht, sehen wir zum Beispiel am Mindestlohngesetz. Eigentlich fällt die Frage nach Mindestlöhnen, nichts anderes sind ja die tarifvertraglich geregelten Einkommen, in die Verhandlungsautonomie von Gewerkschaften einerseits und Bossen andererseits. Das offensichtliche Versagen der Gewerkschaften, einen flächendeckenden, für alle Branchen geltenden (Armuts-)Lohn durchzusetzen, führte schon vor Jahren zu einer DGB-Kampagne zur Einführung eines Mindestlohnes.[16]

Wichtiger als diese Entlastung ist für den Staat und natürlich auch für die Bosse die dadurch erreichte Stabilisierung der bestehenden Ordnung. Dies wird unter anderem dadurch erreicht dass auf Seiten der ArbeiterInnen laut TVG nur Gewerkschaften gestattet wird, Tarifverträge abzuschließen. Gleichzeitig verlangt das Betriebsverfassungsgesetz von Gewerkschaften die verbindliche Anerkennung des TVG. Flankiert wird das Ganze noch durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Dieses geht zum Beispiel von einer relativen Friedenspflicht aus.

Das bedeutet, dass das BAG den Gewerkschaften untersagt, während der Laufzeit eines Tarifvertrages Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen um die im TV geregelten Dinge weiter zu verbessern. Die Gewerkschaft ist ggf. schadensersatzpflichtig, was ihr durchaus ökonomisch das Rückgrat brechen kann. Bedenkt man nun, dass laut Richterrecht in Deutschland auch nur Gewerkschaften gestattet ist zu streiken, wird schnell klar, dass diese während der Laufzeit alles daran setzen werden "wilde" Streiks zu verhindern. Allerdings ist die Friedenspflicht nur relativ, das bedeutet, dass für alle Fragen, die nach TVG durch einen Tarifvertrag geregelt werden können aber noch nicht in einem bestehenden TV geregelt sind, durchaus gestreikt werden darf.

Die Friedenspflicht kann übrigens selbst zum Gegenstand eines TV werden. Allerdings bisher nur in der Art, dass die Friedenspflicht auf Zeiten jenseits der Laufzeit ausgeweitet werden kann. Eine Einschränkung oder gar Aufhebung der Friedenspflicht durch eine tarifvertragliche Regelung ist bisher nicht erlaubt. Interessanterweise kommen Staaten wie zum Beispiel Frankreich oder Italien bisher ohne die Rechtsidee der "Friedenspflicht" aus.[17]


Blick zurück nach vorne

Otto Rühle (Rätekommunist)

...analysierte schon 1924: "Der Vergleich - nicht der Sieg - bildete in der Regel den Abschluß von Lohnbewegungen oder Arbeitszeitkonflikten. So vollzog sich mit der Zeit auf der ganzen Linie eine Änderung der Taktik, der Kampfmethode. [...] Auf der Grundlage von Verabredungen und Vereinbarungen wurden Tarifverträge abgeschlossen [...] Der Unternehmer gewann durch den Abschluß von Tarifverträgen bedeutsame Vorteile: er konnte sichere Geschäftskalkulationen für die Dauer des Vertrages aufstellen, konnte auf Einhaltung der Vertragsbestimmungen bei bürgerlichen Gerichten klagen, konnte mit einer gewissen Stabilität seiner Geschäftsführung und Profitquote rechnen, konnte vor allen Dingen in größter Ruhe jahrelang seine Kräfte konzentrieren für einen um so stärkeren Druck auf die Arbeiterschaft beim Abschluß des nächsten Tarifvertrages. Im Gegensatz zum Unternehmer hatte der Arbeiter vom Tarifvertrag nur Nachteile: er konnte, an den Vertrag auf lange Zeit gebunden, aufkommende günstige Konjunkturen nicht zu Verbesserungen seiner Lage ausnutzen, wurde in seinem Klassenbewußtsein und Kampfwillen mit der Länge der Zeit eingeschläfert und zur Inaktivität erzogen, geriet damit immer mehr in die für den Klassenkampf verderbliche Atmosphäre der 'Harmonie zwischen Kapital und Arbeit' und 'Gemeinsamkeit der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer'".

Zu Rühles Lebzeiten sahen die radikalen ArbeiterIinnen sicher auch in den sozialdemokratischen Gewerkschaften noch ein revolutionäres Potential. Sie hatten noch die Hoffnung, dass diese der Keim einer neuen, einer sozialistischen Gesellschaft werden könnten. In diesem Sinne fokussierten sie ihre Analyse auf die sozialdemokratischen Gewerkschaften. Bei ihnen merkten sie, das die Ideen und die spontane Praxis der "Direkten Aktion" durch die Gewerkschaftsfunktionäre durch die Konzentration auf neue Tarifpolitik immer weiter ins Hintertreffen geriet. Gleichzeitig konstatiert Rühle den ordnungspolitischen Charakter der Tarifpolitik und die wirtschaftliche Nützlichkeit, die sich durch die Aufrechterhaltung einer gewissen Ruhe und Ordnung einstellt. Ausgehend von der Vorstellung einer starken und autonomen Arbeiterbewegung, deren Mitglieder jederzeit bereit und fähig sind in den Streik zu treten, ist seine Ablehnung des Tarifsystems nur folgerichtig.

Augustin Souchy[18] (FAUD/AS)

...veröffentlichte mehrere Artikel in der "Internationale", dem Theorieorgan der FAUD, zur Stellung der Syndikalisten zu Tarifverträgen. Eine Umfrage in der IAA über die "Einstellung der einzelnen syndikalistischen Landesorganisationen zu den Kollektivverträgen." ergab erstaunliche Übereinstimmungen. Verträge mit sehr kurzen Laufzeiten, um sich flexibel auf verändernde Situationen einstellen zu können wurden von vielen akzeptiert. Das staatliche Schlichtungswesen wurde dagegen rundheraus abgelehnt. "Haben sie die Macht und allein zu bestimmen, dann lehnen sie Kollektivverträge für bestimmte Zeit mit festen Bindungen ab. Ist ihre organisatorische Macht nicht ausreichend, dann versuchen sie das herauszuschlagen, was im Bereich der Möglichkeit liegt unter Beibehaltung ihres grundsätzlichen Standpunktes. [...] Werden durch einen Vertrag offensichtliche Verbesserungen, die durch einen Kampf errungen wurden, festgelegt, und hat die Organisation auch die Möglichkeit und Kraft, darüber zu wachen, dass diese Verbesserungen während der Vertragsperiode beibehalten werden, dann kann kein revolutionärer Arbeiter etwas dagegen einwenden. Man könnte allerdings sagen, dass ein Vertrag überhaupt nicht notwendig sei, wenn die die Gewerkschaften jederzeit in der Lage sind, über die Errungenschaften zu wachen. Das würde aber nur dann zutreffen, wenn der Syndikalismus die Gesamtarbeiterschaft eines Landes hinter sich hätte. Solange die Mehrzahl der Arbeiterschaft zentralgewerkschaftlich organisiert ist, werden Verträge nicht zu umgehen sein."

Anders jedoch Fritz Linow[19] (FAUD/AS)

...der 1929 ausführte: "historisch gesehen ist der Kollektivvertrag eine höhere Form des Arbeitsvertrages als der Individualvertrag. Kein sozialistisch denkender Arbeiter will zum Individualvertrag zurück [...] Der Anarchosyndikalismus wendet sich [...] gegen die den Kollektivvertrag von außen her aufgezwungenen bzw. angehängten rechtlichen Konsequenzen. [...] Rein taktisch gesehen ist es [...] das Streben des Anarchosyndikalismus, das kollektive Zusammenwirken der Arbeiter gerade auf ökonomischen Gebiet zu forcieren. [...] Der Kollektivvertrag bedeutet vom Standpunkt des revolutionären Klassenkampfes aus ständiges Abschließen von Waffenstillständen [...] Aus diesen Waffenstillständen leitet nun das geltende Arbeitsrecht [...] nach herrschender Meinung Einstellung der beiderseitigen Feindseligkeiten für die Lauffrist des Vertrages [ab]. Trotzdem darf nicht verkannt werden, dass der Kollektivvertrag als zwangsläufige Folge des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses ein bloßes Hilfsmittel im Kampf der Arbeiter um die Beteiligung an den Erfolgen der Produktion ist. Und weiter darf nicht einmal behauptet werden, dass es ein gutes, sicheres, unfehlbares Hilfsmittel für den gewerkschaftlichen Klassenkampf der Arbeiter darstellt. Dem Kollektivvertrag, den die Gewerkschaft abschließt, kann man schwerlich mit himmelstürmenden Enthusiasmus gegenüberstehen. Er ist eine Kompromisslösung, die sich aus den weitgesteckten Zielen und Forderungen der Arbeiter nach A enderung der wirtschaftlichen Grundlagen, des Charakters der Wirtschaft, ihres Wesens und ihrer Eigenart ergibt. So wenig wie man sich für den Kollektivvertrag begeistern kann, muß doch gesagt werden, dass er eine aus den Verhältnissen der kapitalistischen Welt sich ergebende Konsequenz ist. Man kann diesen Kollektivvertrag nicht von heute auf morgen beseitigen. Er wird überhaupt erst mit der kapitalistischen Produktionsweise verschwinden, aber bis dahin ein wesentlicher Bestandteil der Gewerkschaftspolitik sein.

"Souchy, Linow und viele andere sahen sich Ende der 1920er Jahre mit einer Arbeiterbewegung konfrontiert die fest in sozialdemokratischer Hand war. Die FAUD selbst war auf wenige tausend Mitglieder geschrumpft und eigenständige Kämpfe nur noch in wenigen Branchen überhaupt möglich. Das abschließen von Tarifverträgen war unter anderem auch unter dem Blickpunkt der Mitgliederbindung eine Notwendigkeit geworden. Trotzdem behielten sich die FAUD und andere syndikalistische Organisationen eine kritische Distanz zum Tarifwesen bei. Auf ihrem letzten Kongress (1932) nimmt die FAUD noch einmal offiziell Stellung zur Frage der Tarifpolitik:

"Die FAUD sieht in den Kollektivverträgen eine höhere Form der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen als im Individualvertrag. [...]

Sie unterstreicht das Zusammenwirken der Arbeiter, um den Arbeitsverhältnissen ein einheitlicheres Gepräge zu geben. Aus diesem Grunde schließt sie dort, wo die Bedingungen gegeben sind, Kollektivverträge ab. Sie sieht in solchen Abschlüssen eine unumgängliche Pflicht, um die Lohngestaltung und die Gestaltung der Arbeitsbedingungen dem Einfluß der reformistischen Gegner zu entziehen. Sie wendet sich aber gegen die sogenannte Tarifvertragspolitik, weil diese nicht nach dem Inhalt und nach der Interessenberücksichtigung der Arbeiter fragt, sondern dem Tarifvertrag an sich zum Ziel hat. Die FAUD ist der Meinung, daß die Arbeiter um den Inhalt ihrer Kollektivverträge kämpfen müssen. Nicht auf den Tarifvertrag kommt es an, sondern auf den Inhalt desselben.

Bei allen Kollektivvertragsabschlüssen ist deshalb oberster Grundsatz aller abschließenden Ortsgruppen der FAUD, daß diese Verträge sich von denen der reformistischen Gegner, sowohl der Form als auch dem Inhalt nach unterscheiden müssen. Dies gilt besonders für diejenigen Teile der Kollektivverträge, die auf die Schlichtung von Streitigkeiten Bezug nehmen. In allen Fällen ist um eine Ausschaltung der staatlichen Schlichtungseinrichtungen für Arbeitsstreitigkeiten zu drängen. Die Lauffristen der Kollektivverträge sind unbefristet zu gestalten und oder möglichst kurzfristig zu halten. Bei allen Kündigungsfristen müssen auf alle Fälle lange Fristen abgelehnt und die Kündigungstermine grundsätzlich in solche Zeiten verlegt werden, wo die wirtschaftliche Kraft der Arbeiter ausreicht, Änderungen in ihrem Interesse durchzusetzen.

Wo die Voraussetzungen gegeben sind, schließt die FAUD auch Betriebsvereinbarungen ab. Dabei ist auf die Laufzeiten der sonstigen Verträge in anderen Betrieben oder im Gewerbe oder in der Industrie dergestalt Rücksicht zu nehmen, daß diese Vereinbarungen nicht über die Lauffristen der übrigen Verträge hinausreichen, um zu verhindern, daß die tariflich gebundenen Arbeiter bei Arbeitseinstellungen der übrigen Betriebe zu Streikbrechern werden."[20]


Und heute?

Das Betriebsverfassungsgesetz schreibt den Gewerkschaften vor, das Tarifvertragsgesetz anzuerkennen. Praktisch werden damit Gewerkschaften auf das Ziel TV festgelegt. Das TVG wiederum billigt nur Gewerkschaften zu Tarifverträge abzuschließen. Das Bundesarbeitsgericht schreibt die relative Friedenspflicht vor und verdonnert so die Gewerkschaftsapparate in diesem Sinne auf die ArbeiterIinnen einzuwirken, also für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Was Laufzeiten und Kündigungsfristen angeht, lässt das TVG den Gewerkschaften allerdings freie Hand. Bedenkt man also noch die Nachwirkung, wäre es ein Leichtes im Sinne des Beschlusses der FAUD von 1932 zu handeln. Die FAU Berlin ist das erste und bisher einzige Syndikat, das sich eine aktuelle Position zum Thema erarbeitet hat. Dabei stellt sie fest: "Die aktuelle Rechtsprechung ist stark an Zentralapparaten orientiert." Und formuliert eine Aufgabe, die zu erfüllen sicher nicht einfach, dafür aber umso notwendiger ist: "Wir verstehen uns [...] als Bahnbrecher neuer Tarifaktivitäten. Sie sind bei uns eng an die betriebliche Basis geknüpft. Offensive und nachhaltige Forderungen sind uns ebenso wichtig wie die Angleichung der Lohngruppen. Bestehende Standards dürfen niemals unterschritten werden. Zudem versuchen wir, Alternativen zum Tarifvertrag zu entwickeln, um flexibel zu bleiben."[21] Und den Tarifpolitischen Richtlinien kann man entnehmen, dass "eine Unterzeichnung [eines Tarifvertrages] nur erfolgen [darf], wenn das Ergebnis vergleichbare Tarifverträge nicht unterbietet". Auch das, in Anbetracht der numerischen Stärke der FAU sicher eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Die Vorlage der FAU Berlin ist sicher dazu angetan, auch auf einem Kongress der FAU für alle Syndikate verbindlich angenommen zu werden. Einerseits trägt sie nämlich der Tatsache Rechnung, das wir ganz aktuell (trotz der Streikaktivitäten bei Amazon, Post, Bahn, den Kitas oder in den Krankenhäusern) eine Arbeiterbewegung haben, die sich insgesamt nicht dadurch auszeichnet, gegen den Willen der sozialpartnerschaftlichen Verbände in autonome Kämpfe zu gehen (auch wenn es immer wieder schöne Beispiele gibt wo genau das passiert). Als FAU können wir uns also nicht auf die Position zurückziehen, dass es am besten ist, wenn die ArbeiterInnen, anstatt Tarifverträge abzuschließen, einfach bei jeder Gelegenheit in den Streik treten. Das wäre zwar wünschenswert, ist aber momentan nur ein Traum. Andererseits stilisiert sie den Umstand, dass wir Tarifverträge werden abschließen müssen, nicht hoch: Der Tarifvertrag an und für sich ist nicht das eigentliche Ziel. Im Zentrum stehen zwei Dinge:

Erstens: die enge Bindung an die Basis, die in den tarifpolitischen Richtlinien auch genauer geregelt ist und die Angleichung der Lohngruppen - Letzteres ist im Idealfall die egalitäre Aufhebung der Lohnunterschiede (das ist natürlich noch immer nicht die Überwindung des Kapitalismus - aber im Sinne eines mittelfristigen Zieles mit samt all seiner Implikationen ein sehr wichtiger Schritt).

Zweitens: Die Selbstverpflichtung, bestehende Mindeststandards nicht zu unterschreiten und Alternativen zum Tarifvertrag (wie wir ihn kennen und wie er aus dem Zusammenspiel diverser Gesetze und der Rechtsprechung heute schlichte Realität ist) zu entwickeln.

Mit diesen selbst gesteckten Herausforderungen tritt die FAU in eine neue Phase ihrer Entwicklung ein. Wie schnell und wie erfolgreich sie sein wird ist kaum vorherzusagen. Sicher werden viele "Fehler" begangen werden. Das ist aber nicht weiter schlimm, wenn wir und alle interessierten ArbeiterInnen diese möglichst vorurteilsfrei zur Kenntnis nehmen und offen diskutieren.

Für die Syndikate der FAU stellt sich ganz praktisch die Frage, wo sie überhaupt so stark sind, offensiv in Konflikte gehen zu können, der als Zwischenergebnis eben einen Tarifvertrag, zum Beispiel nach den Bestimmungen der FAU Berlin, zum Ergebnis hat.


Anmerkungen:

[1] www.fau.org/soli/babylon

[2] faubetriebsgruppelebenshilfeffm.wordpress.com

[3] berlin.fau.org/news/fau-berlin-schliesst-haustarifvertrag-in-onlineversandhandel-ab

[4] §2 Abs. 1 TVG

[5] Arbeitsgerichtsgesetz

[6] Zitiert nach Däubler, Arbeitsrecht 10. Auflage 2014 | 82

[7] In den letzten Jahren wurden neben den genannten Tarifverträgen zum Beispiel auch zahlreiche Rationalisierungsschutzabkommen, betriebliche "Bündnisse für Arbeit", Tarifsozialpläne und anderes mehr abgeschlossen. Im Zweifel heißt es also gründlich recherchieren!

[8] § 5 TVG

[9] Streik kann viele Formen haben. Aktuell scheinen die sozialpartnerschaftlichen Verbände des DGB wieder auf den klassischen "Vollstreik", den sie auch bereit sind "unbefristet" zu führen, zu setzen.

[10] Dies ist eine vereinfachte Darstellung. Außerdem wurden hier nicht die "demokratischen" Mitwirkungsmöglichkeiten der einfachen Mitglieder erwähnt oder die Möglichkeiten Verhandlungskommissionen usw. zu Gründen.

[11] Für ArbeiterInnen die schon während der Gültigkeit des TV gearbeitet haben ändert sich in diesem Sinne nur etwas wenn sie eine Änderungskündigung unterschreiben. Für alle ArbeiterIinnen die nach Ablauf der Gültigkeit des TV, bzw. nach Kündigung des TV anfangen, ohne das es einen neuen TV gibt, gilt, das für sie nur noch die gesetzlichen Mindeststandards gelten, nicht mehr die des TV. Natürlich können sie immer versuchen individuell bessere Verträge zu bekommen. Dies wird aber nur in Ausnahmefällen überhaupt möglich sein.

[12] NachweisG § 2 Abs.1 Nr.10

[13] § 8 TVG

[14] § 80 BetrVG Abs.1 Nr.1

[15] § 273 BGB

[16] Zum Thema Mindestlohn siehe: Direkte Aktion 227 | Jan./Feb. 2015

[17] Zitiert nach Däubler, Arbeitsrecht 10. Auflage 2014 | 88

[18] FAU Bremen, Klassenkampf im Weltmaßstab. Aus der Reihe "Syndikalismus. Geschichte und Perspektiven." Bremen, 2006

[19] FAU Bremen, Klassenkampf im Weltmaßstab. Aus der Reihe "Syndikalismus. Geschichte und Perspektiven." Bremen, 2006

[20] FAU Bremen, Klassenkampf im Weltmaßstab. Aus der Reihe "Syndikalismus. Geschichte und Perspektiven." Bremen, 2006

[21] berlin.fau.org/strategie/tarifpolitik


URL des Beitrags:
http://www.direkteaktion.org/230/wer-sich-nicht-ins-feuer-begibt-kommt-darin-um

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Quelle:
DA - Direkte Aktion Nr. 230 - Juli/August 2015, S. 12-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2015

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