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DAS BLÄTTCHEN/1135: Schöne neue Bibliothekswelt


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
4. Jahrgang | Nummer 20 | 3. Oktober 2011

Schöne neue Bibliothekswelt

von Wolfgang Brauer


Am jeweiligen Stand des "technischen Fortschritts" messen moderne Industriegesellschaften ihren Zivilisationsgrad. Der technische Fortschritt - also das Überflüssigmachen menschlicher Arbeit, anderes ist nicht gemeint - macht auch vor Einrichtungen nicht halt, von denen man bislang nicht glaubte, dass Maschinen hier den Menschen ersetzen könnten. Aber auch in solchen Bereichen des öffentlichen Lebens kommt der technische Fortschritt leise, gleichsam auf Taubenfüßen: Von der Einführung der lehrer(innen)freien Schule wird in Berlin einstweilen aus Kostengründen noch Abstand genommen. Technisch wäre dies bereits heute machbar. Die bibliothekar(innen)freie Bibliothek steht uns dagegen ins Haus. RFID heißt das Zauberwort der schönen neuen Bibliothekswelt - Sie kennen das System von den Pfandflaschenrückgabe-Automaten der Supermärkte: In die Buchrücken wird entweder ein Mikrochip oder ein Strichcodeträger implantiert, dann kann es nicht geklaut werden, sie werden am Ausgang mit ihrem Buche automatisch registriert. Und zu jeder Tages- und Nachtzeit können Sie das MEDIUM (wer spricht heute schon noch von Büchern ...; im Verwaltungsdeutsch heißen die übrigens "Bestandseinheiten", auch ein hübscher Bestandteil des Dummdeutschen) durch eine Luke wieder zurückgeben. Klar werden damit Bibliothekarinnen - ich wechsele jetzt zur weiblichen Form, sind ja doch meist Frauen, weil schlecht bezahlt - "freigesetzt". Die Einführerin dieses Systems, die Senatskulturverwaltung, versprach vor Monaten hoch und heilig, diese Bibliothekarinnen stünden so für andere Aufgaben, für Beratungsgespräche mit Kindern zum Beispiel, zur Verfügung. Mit kultureller Bildung kann man momentan in Deutschland jeden Blödsinn entschuldigen. Das ist in etwa so, wie sich Marx den Kommunismus vorgestellt hatte ... Nun gehört das wunderschöne deutsche Wort "Versprechen" zu den Wörtern mit einem bösen Doppelsinn. Unterstellen wir der Kulturbehörde einmal eine gute Absicht, so hat sie die Rechung zumindest ohne den Wirt, in diesem Falle den Berliner Finanzsenator, gemacht. Der schickte dieser Tage an das Bezirksamt Spandau den dezenten Hinweis in Form einer Anweisung, es möge doch bitteschön die durch die RFID-Einführung frei gewordenen Personalmittel zur bezirklichen Schuldentilgung einsetzen ...

An das Licht der Öffentlichkeit geriet dieser - sich durchaus im üblichen Rahmen der Durchsetzung des technischen Fortschrittes bewegende - Vorgang im September im Rahmen eines Podiumsgespräches in der Berliner Stadtbibliothek zur Zukunft der Berliner Bibliotheken. Zeitgleich erreichte mich die Nachricht über einen Vorstoß eines sozialdemokratischen Lokalpolitikers, der die Bibliotheken seines Bezirkes durch Firmensponsoring retten möchte. Warum sollten Firmen das tun? Und in drei Teufels Namen, welche könnten das überhaupt? Besonders ein industrieller Bereich in Deutschland kann auf fette Wachstumsraten mit entsprechendem Gewinn nicht trotz, sondern gerade wegen der gegenwärtigen Krisenzeiten verweisen: Die Rüstungsbranche. Auch die macht zurzeit mal wieder einen auf technischen Fortschritt. Sie entwickelt gerade die entsprechenden Technologien zum Führen von Kriegen gegen Menschen ohne direkte menschliche Beteiligung. Von wegen automatische Maschinchen zum Schrubben von Kernreaktoren!

"Zivilisation", so sagte es einmal der Berliner Autor Christoph Hein, "ist der jeweils erreichte Stand der Waffentechnik samt ihrer zivilen Abfallprodukte (das wären die Reaktorenstaubsauger - WB) und den sich daraus ergebenden materiellen und sozialen Lebensbedingungen der staatsabhängigen Bürger." Einrichtungen wie RFID-betriebene Bibliotheken leisten das ihre zur Erhöhung des zivilisatorischen Grades unserer Gesellschaft. Sie bieten die Gewähr dafür, dass Ideen, wie sie der Autor Hein und andere zu Papier brachten, nur noch sehr zufällig die Leser erreichen. Was wiederum eine weitere psychologische Vorausssetzung für die Durchsetzung der lehrer(innen)freien Schule ist. Kinder sind vor solchen Bedrohungen durch Bücher in der Hauptstadt sowieso weitestgehend geschützt - Kinderbibliotheken gibt es kaum noch und die meisten Schulbibliotheken sind zugeschlossen. Da wurde das Personal schon ohne RFID gestrichen.


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 20/2011 vom 3. Oktober, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 14. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2011