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DAS BLÄTTCHEN/1183: Atomkraft? - Na gut, wenn es sein muss!


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
15.‍ ‍Jahrgang | Nummer 7 | 2. April 2012

Atomkraft?: Na gut, wenn es sein muss!

von Katarzyna Grajner



Die Atomenergie in Deutschland wird laut und öffentlich verpönt. Die Bürger scheinen solide über sämtliche Kurz- und Langzeitrisiken der Kernkraftenergie informiert zu sein. Nicht nur die Nachteile, sondern auch die mäßige Effektivität der Atomenergie, die mit den erneuerbaren Energien langfristig nicht konkurrieren kann, werden breit thematisiert und nun als selbstverständlich wahrgenommen. Wer gegen den Atomausstieg ist, wird als Ignorant oder als einer, der durch die Atomlobby manipuliert wurde, dargestellt. Ja, der öffentliche Dialog in Deutschland geht eindeutig und sehr selbstsicher in eine Richtung: "Atomkraft: Nein danke!". Die Grünen haben ihre Arbeit gut gemacht. Nach den Ereignissen in Japan schien sogar die Kanzlerin die gesellschaftliche Ablehnung akzeptiert zu haben und traf die Entscheidung über die Schließung aller 17 Atomkraftwerke bis zum Jahr 2022.

Doch unmittelbar bevor das letzte, deutsche Atomkraftwerk geschlossen wird, beginnt in Polen das erste seine Arbeit.

Polnische Wirtschaft boomt und das Land entwickelt sich prächtig. Dementsprechend wächst auch der polnische Energiebedarf. Schätzungen zur Folge wird Polen im Jahr 2030 circa 57 Prozent mehr Energie verbrauchen. Die Hauptenergiequelle in Polen ist derzeit die Kohle (94 Prozent), doch der Abbau von Braunkohle wird immer teurer. Die Reglementierung der CO2-Emissionen, die durch die EU verordnet wurde, führt zum Anstieg der Energiepreise - im schlimmsten Fall bis zu 90 nProzent. Kein anderes europäisches Land hatte nach der Einführung der EU-Regelungen eine derart schlechte Perspektive. Die erneuerbaren Energien stecken in Polen noch in ihren Anfängen. Sie wurden zwar in der "Energetischen Strategie Polens 2030" platziert, doch deren Anteil am allgemeinen Energieverbrauch wird für das Jahr 2030 auf lediglich 20 Prozent geschätzt.

Nun steht Polen vor dem Problem einer enormen Energieknappheit, die schwere Folgen für die weitere Entwicklung des Landes haben kann. Die Lösung des Problems wird in der Atomenergie gesucht. Vor allem die Industrie und die Regierung setzen auf die Kernkraft und erhoffen sich, dadurch die Energieversorgung des Landes in den Griff zu bekommen.

Im Jahr 2020 ist die Eröffnung des ersten polnischen Kernkraftwerkes geplant, das zweite soll möglichst schnell folgen. Aus der deutschen "Anti-Atom-Perspektive" stellt sich nun die Frage: "Warum?" Warum will Polen diesen "Fehler" begehen? Warum will man gerade das haben, was hier mit großer Mühe gerade abgeschafft wird? Die wirtschaftlichen Argumente genügen der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr, und die Entwicklungen im Nachbarland wecken Proteste und Beunruhigung.

Antworten und Meinungen dazu gibt es auf der polnischen Seite durchaus differenzierte. Es wird sowohl dafür als auch dagegen argumentiert, doch die Öffentlichkeit scheint sich mit dem Thema, im Vergleich zu Deutschland, nur wenig zu befassen.

Insgesamt ist die Diskussion eher dürftig, und man gewinnt den Eindruck, dass mehr aneinander vorbei als miteinander geredet wird. Überhaupt ist die ganze Problematik selten auf der Agenda und wird pragmatisch, nicht ideologisch und schon gar nicht moralisch behandelt.

Beispielhaft für die Argumentationsweise der Befürworter ist die Aussage des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, der zum Thema Atomenergie in Polen Folgendes sagte: "Alle, die sich die Atomenergie leisten können, investieren in sie, und deswegen darf Polen nicht zu einem Ort werden, der die Energie ausschließlich kauft. Wir müssen zu einem Land werden, das Energie auch produziert." Die Entschlossenheit der Aussage wird einem umso deutlicher, wenn man auf das Datum des Interviews blickt - 24. März 2011 - 13 Tage nach dem Erdbeben in Japan und der Katastrophe von Fukushima.

Flankiert wird die politische Entscheidung durch eine große, durchgeplante Marketingkampagne. Am guten Image der Atomenergie wird hart gearbeitet. Man kann viel über die saubere, billige, zuverlässige, unabhängige und sichere Atomenergie lesen und hören. Neue Investitionen, Arbeitsplätze, Umweltschutz und sogar die Aussicht auf neue Studiengänge runden das positive Profil der Atomenergie auf. Die offiziellen Internetseiten, die sich mit der Problematik befassen, versichern, dass die Atomenergie unvermeidlich ist, und die neue Technik ausgereift und risikofrei sei. Die Nachteile, wie die Atommülllagerung, werden unter "Fakten und Mythen" platziert und mit allgemeinen Floskeln bagatellisiert. Auch die erfolgreiche Nutzung der Atomkraft durch Nachbarländer wird gern thematisiert. Über den deutschen Atomausstieg wird geschwiegen.

Und noch ein andres Element wird in der Kampagne ausgelassen - der Dialog mit der Öffentlichkeit. Die Gesellschaft wird informiert, nicht gefragt. Das verwundert viele Beobachter, denn gerade an den gesellschaftlichen Protesten scheiterte der erste polnische Versuch eines Atomeinstiegs im Jahr 1990. Wie sich die Situation heute entwickeln wird, ist schwer vorauszusagen.

Der erste Volksentscheid zum möglichen Ort für den Bau des Reaktors fand am 12. Februar 2012 in der Gemeinde Mielno an der polnischen Ostseeküste statt. Das Ergebnis ist nicht bindend, aber mit 97 Prozent Gegenstimmen0 sehr bedeutend. Selbst die Investoren, die Polnische Energie Gruppe, haben nach dem Referendum einen Mangel an öffentlichem Dialog zugegeben und dies für ihr Scheitern verantwortlich gemacht.

Doch was sagt die Mehrheit der Gesellschaft zum Thema Atomenergie? Im Internet findet man viele Ergebnisse gesellschaftlicher Befragungsrunden, doch leider sind die Zahlen sehr widersprüchlich. Mal ist die Mehrheit der Polen dafür, mal dagegen, ein klares Bild ist daraus nicht zu ermitteln. Die unterschiedlichen Ergebnisse werden gern durch verschiedene Zielgruppen instrumentalisiert, die sich jeweils die passenden Zahlen herausgreifen und diese als die maßgeblichen deklarieren. Proteste in der Bevölkerung sind zwar vorhanden, aber eher sporadisch und nicht sehr wirksam. Mit der Anti-Atom-Stimmung in Deutschland sind sie nicht zu vergleichen, was man allerdings nachvollziehen kann. Die Anti-Atom-Bewegung in Polen ist noch vergleichsweise jung, und in der polnischen Öffentlichkeit sind keine Castor-Transporte oder kein Gorleben präsent. Auch die polnischen Grünen und andere ökologische Bewegungen werden anders wahrgenommen und bewertet, und ihr Protest ist insgesamt weniger wirksam.

Interessant ist der Blick in die Internetblogs, in denen etwas intensiver diskutiert wird. Daraus kann man wahrscheinlich den objektivsten Überblick über die gesellschaftliche Wahrnehmung der Problematik gewinnen. Demzufolge scheint das Thema tatsächlich umstritten zu sein - was die öffentlich-rechtlichen Medien nicht sonderlich kümmert. Die Meinungen und Beiträge, die im Internet erscheinen, zeigen viele Sichtweisen. Die Diskussion ist zum Teil sehr sachlich, zum Teil aber auch populistisch und realitätsfern. Es mangelt an einer unvoreingenommenen Aufklärung und an Kontinuität des Dialogs, positiv ist jedoch das allgemeine Interesse an dem Thema. Man könnte sogar die These wagen, dass das Interesse größer ist, als es sich die Regierung vorstellt und wünscht.

Alles in allem kann man anhand der Internetbeiträge eine Haltung erkennen, die aus dem polnischen Pragmatismus, um nicht zu sagen - Pessimismus, entspringt und zurzeit der allgemeinen Stimmung in der Gesellschaft entspricht: Die Atomenergie wird als ein notwendiges Übel angesehen. Die Polen halten intuitiv nicht viel davon, einen Kernkraftreaktor an ihrer Ostseeküste zu haben. Es wird allerdings nicht daran geglaubt, dass eine andere Lösung zur Überwindung der Energieknappheit gefunden wird, allein aus finanziellen Gründen. Nun ist man also dagegen, sieht aber die Notwendigkeit und verfolgt im Übrigen die NIMBY-Haltung, was soviel bedeutet wie: Ja - aber Not In My Backyard. Den Ort für den Bau des Kraftwerkes zu finden, wird also für die Regierung nicht einfach sein. Sollte der gesellschaftliche Dialog nicht intensiviert werden, scheint die Eskalation der Proteste so gut wie sicher.
Der Deutsche Anti-Atom-Nachbar muss sich also mit Geduld wappnen.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 7/2012 vom 2. April 2012, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2012