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DAS BLÄTTCHEN/1299: Auf der Suche nach der verlorenen Hegemonie...


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
16. Jahrgang | Nummer 13 | 24. Juni 2013

Auf der Suche nach der verlorenen Hegemonie...

von Jörn Schütrumpf



Wo man in Europa auch hinkommt zeihen Linke immer wieder - egal welcher Fasson - die Menschheit, dass sie zu stumpfsinnig für ihre hehren Gedanken sei. Ganz Kühne erbauen sich sogar - immer noch! - an dem Gedanken, eine sogenannte Hegemonie erringen zu können.

Verfügte die Linke überhaupt je in einer Gesellschaft über die Hegemonie? Bestenfalls 1793/94, auf dem Höhepunkt einer durchgekämpften Revolution. Das geschah aber nicht in Deutschland, das geschah in Frankreich - und endete auf der Guillotine; außerdem ist das mehr als 200 Jahre her. 1917 in Russland? Bestenfalls einen Wimpernschlag lang - als die Bolschewiki, um der Macht willen, ihr sozialistisches Agrarprogramm verrieten und die zuvor verteufelte Forderung der Sozialrevolutionäre nach einer Bodenreform für sich okkupierten (und später für den Ostblock zum Dogma erhoben). Das hielt allerdings nur kurz. Danach musste es die Macht der Gewehrläufe (und die der Folterkeller) richten. Und 1968? Lassen wir das besser...

All das ist außerdem unterdessen Geschichte. Die Werkstätten der Welt sind - einmal um den Globus westwärts - zurück in den ostasiatisch-pazifischen Raum gewandert, wo sie sich bis vor 500 Jahren schon einmal befanden. Dort entsteht eine frühkapitalistisch ausgebeutete Arbeiterschaft. Ob die zu einer eigenen Bewegung in der Lage sein wird, mag prognostizieren, wer will; die europäische Linke wird dabei jedenfalls keine Rolle spielen - und falls doch, sehr zurückhaltend formuliert, keine hilfreiche...

Bleiben wir in Europa. Wer hat hier die Hegemonie, wer führt? Die Gewinner dieser Gesellschaft? Wenn damit der (Alb-)Traum von einer persönlichen Absicherung durch Eigentum sowie die (oft zähneknirschend ertragene) Einsicht in eine angeblich unabänderliche Konkurrenz und - als Betäubung - ein privatim ausgelebter Hedonismus gemeint sind, dann zweifellos ja.

Doch was geschieht unter der Oberfläche - und ein wenig auch schon darüber? Südeuropa verelendet. Soweit dort Industrien vorhanden waren (vor allem in Italien), gehen sie den Weg alles Irdischen. Frankreichs Agrarwirtschaft, im Zentrum der Weinbau, wird durch Argentinien, Spanien, Südafrika, Australien, Neuseeland, Kalifornien niederkonkurriert; vieles der Industrie steht auf Abriss. Großbritannien, einst zu Wasser, zu Lande, in der Industrie und in den Finanzen Herr der Welt, sucht sein Heil in der Unterwelt der Finanzspekulationen. Skandinavien steckt in Abwehrkämpfen, Polen profitiert im Moment von der Schwäche der anderen, Tschechien laboriert, über alles, was östlich und südlich kommt: Im Glück lebten diese Regionen selten.

Bleibt Deutschland. Rückgrat ist eine hoch spezialisierte und innovative Industrie, hier wird das Geld erwirtschaftet - und vom Staat umverteilt. Niemand hat - außer Skandinavien im Augenblick noch - eine solch hohe Staatsquote. Die verbliebene Arbeiterschaft, vor allem im Südwesten und Süden des Landes beheimatet, partizipiert am Export - zumindest solange die anderen noch kaufen können; in der Sozialstruktur hat ihr Anteil den der subventionierten Bauernschaft (vor 200 Jahren mehr als 90, heute zwei Prozent) zwar noch nicht erreicht, aber die Tendenz ist erkennbar.

Offiziell umgibt sich Deutschland mit dem Euphemismus einer Dienstleistungsgesellschaft; ihr Preis: ungesicherte Arbeitsverhältnisse, Niedriglöhne, Zwangsarbeit für Arbeitslose und andere Schönheiten mehr; ein neues Lumpenproletariat wurde geschaffen. Da wir in einem zivilisierten Land leben, benutzen wir natürlich nicht solche despektierlichen Begriffe, wir reden von Prekariat - was natürlich etwas ganz anderes ist...

Egal, wie man es nennt, Tatsache bleibt, dass der Anteil derjenigen, die von bezahlter Arbeit nicht leben können, immer größer wird. Tatsache ist auch, dass ein kleiner Teil der Gesellschaft immer reicher wird - ohne Scham, ohne eigene Arbeit ohnehin.

Aber der Klassengegensatz der einstigen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist trotzdem im Begriff, sich aufzulösen. Heute steht in Europa nicht mehr Kapital gegen Arbeit - Arbeit gegen Kapital sowieso nicht. Die kapitalistische Produktionsweise - ihr Ziel ist die Mehrwertproduktion, nicht die Bedürfnisbefriedigung - wird immer dysfunktionaler. Deshalb seit 30 Jahren das Ausweichen in einen Finanzkapitalismus, dessen Logik alles unterworfen wird; die Auswirkungen sind seit der Finanzkrise zwar zu besichtigen, aber in ihrem gesamten Umfang längt noch nicht absehbar. Nur eines ist klar: Sie sind jetzt schon katastrophal.

Ich habe schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass aufgrund der sich abschwächenden Möglichkeit, aus der kapitalistischen Produktionsweise Mehrwert zu erzielen, seit den achtziger Jahren ein vorkapitalistischer Ausbeutungstyp entwickelt wird. Die Infrastruktur, das durch die Gesellschaft als Ganzes zu unterhaltende Kapillarensystem aus Energieversorgung, Verkehr, Wasser- und Abwasserversorgung, sozialem Wohnungsbau, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Post wird in eine Art feudaler Lehen aufgespalten und privatisiert. Eine moderne Wegelagerei wird etabliert: Wer leben will, muss zahlen, unabhängig von seiner Stellung in der Produktion. Neben und zunehmend an die Stelle des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit tritt in Europa und Nordamerika der Konflikt zwischen einem Kapital, das seinen Gewinn nicht mehr hauptsächlich aus der Produktion zieht, sondern aus der Gewährleistung der einfachsten Lebensbedürfnisse - und dem "Rest der Welt". Eine kleine Schicht internationaler Lehensbesitzer holt aus den Bevölkerungen heraus, was herauszuholen ist.

Waren frühere politische Vereinigungen Ausdruck von Interessen einzelner Klassen und Schichten, zeigt nicht zuletzt der Kampf um die sogenannte Mitte, wie stark sich dieser Zusammenhang ausgedünnt hat. Wen vertritt heute CDU/CSU, wen vertritt die SPD - sieht man von den Interessen der großen Kapitalgruppen ab, die beide, wenn auch nicht offen, bedienen... An der Rändern buhlen die kleinen Parteien um eine Klientel. Die Grünen vertreten ein "neues städtisches Bürgertum" - wie lange noch, wird sich zeigen; schon heute werden immer größere Teile des Mittelstandes an den sozialen Rand gedrückt. Die LINKE hat sich zum Sprecher der aus dem Produktionsprozess Herausgeschleuderten erklärt. Man könnte sie das "alte Prekariat" nennen, während das "neue Prekariat" nie Zutritt zu diesem Produktionsprozess erlangte. Es wird von gut ausgebildeten, kreativen, aber für die Kapitalverwertung weitgehend unnützen jüngeren Schichten gebildet; die Piraten waren ihr erster Versuch, sich politisch zu artikulieren.

Allen gemeinsam ist, dass ihre Lebensgrundlagen - wo nicht zerstört - in Quellen für Gewinne Weniger verwandelt werden. Die einen erleiden das schon existentiell, andere können es im Moment noch widerspruchslos (er-)tragen. Trotzdem sind strategisch eine neue Konfrontationslinie und ein neuer Typ von Auseinandersetzungen im Entstehen. Diese Auseinandersetzungen werden kaum mit dem bisherigen Stellvertreter-Modell, nichts anderes ist der Parlamentarismus, zu führen sein - die längst wieder rückläufige Sozialforumsbewegung, Blockupy, Bürgerbegehren zur Rekommunalisierung und so weiter sind lediglich erste Vorboten dessen, was sich da formiert.

Immer mehr Menschen werden in eigenes selbständiges politisches Handeln hineingetrieben; sie benötigen keine Führer, keine Hegemonen, die ihnen sagen, was zu tun sei, erst recht keine elitären Glücksverheißer aus dem linken politischen Spektrum. Die politischen Exponenten aus dem parlamentarischen Raum haben jetzt schon stark an Bedeutung verloren, und sie werden sie noch mehr verlieren - ohne ganz zu verschwinden. Für diese Art von Politik bedarf es der Klarheit im eigenen Kopf, nicht irgendwelcher Stellvertreter.

Soweit Linke darauf hoffen, noch einmal in der Gesellschaft den Ton angeben zu können, stören sie die neuen Feudalkapitalisten nicht - weil sie deren Opfern nicht nützen. Statt sich über eine unwillige Menschheit zu beklagen, ist es an der Zeit, den eigenen Platz in den heraufdämmernden Konfrontationen zu bestimmen - die alten Kompen, neudeutsch sagt man wohl Kompasse, funktionieren schon lange nicht mehr...

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 13/2013 vom 24. Juni 2013, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2013