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DAS BLÄTTCHEN/1424: Piketty und die Verteilungsdebatte


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
17. Jahrgang | Nummer 19 | 15. September 2014

Piketty und die Verteilungsdebatte

von Ulrich Busch



Die Verteilung von Einkommen und Vermögen gehört zu den Themen, die sich unabhängig von Zeit und Raum großer Beliebtheit erfreuen und die deshalb immer wieder die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen. Dies ist offenbar darauf zurückzuführen, dass die Verteilungsproblematik im Schnittpunkt verschiedener Disziplinen angesiedelt ist, nämlich der Ökonomie, der Ethik und der Politik: Als Verteilungseffizienz und Moment der Reproduktion ist sie ein Thema der Ökonomie, als Verteilungsgerechtigkeit berührt sie Fragen der Ethik und der Moral und als Lohn-, Einkommens-, Zins-, Steuer- und Abgabenpolitik ist sie Gegenstand der Gesetzgebung und deren praktischer Ausgestaltung, eben der Politik. Fragt man nun aber, warum gerade jetzt Verteilungsfragen verstärkt diskutiert werden, warum sie momentan die Kolumnen der Zeitungen füllen und warum dazu eine empirische Studie nach der anderen vorgelegt wird, so stößt man unweigerlich auf den Namen Thomas Piketty und dessen Buch "Capital in the Twenty-First Century".

Dieses opulente, wirtschaftswissenschaftlich anspruchsvolle und mit Statistiken und Daten überladene Werk schlägt aber nur deshalb so hohe Wellen, weil es mit der Verteilungsproblematik eine überall ohnehin virulente Thematik aufgreift und weil viele glauben, hierin auf brennende Fragen der Gegenwart eine gültige Antwort zu finden. Dies ist aber mitnichten der Fall. Das Buch bildet nur ab, was die Statistiken der letzten Jahrzehnte hergeben und was sich kausal dazu auf der Basis der neoklassischen Volkswirtschaftstheorie erklären lässt. Interessanter aber als dieses Buch scheint das dem Hype um dasselbe zugrunde liegende und jetzt voll erwachende Problembewusstsein zu sein. Viele Menschen spüren heute ganz unmittelbar oder durch aufmerksames Hinsehen, dass sich in den zurückliegenden Jahrzehnten in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums etwas verschoben hat - und zwar grundlegend. Dies betrifft gleichermaßen die Einkommensverteilung wie die Verteilung der finanziellen und materiellen Vermögenswerte. Zuerst und an der Oberfläche zeigt sich dies in einer Zunahme der Verarmung bestimmter Bevölkerungsgruppen, im Pauperismus. Diese ist in Palermo oder Thessaloniki sicher auffälliger als in Paris, Berlin oder München. Sie hat aber auch hier zugenommen. Als Pendant dazu ist überall der Reichtum gewachsen, besonders betrifft dies die ganz großen Vermögen. Diese sieht man aber nicht, sie verstehen es, sich unsichtbar zu machen, auch in den offiziellen "Armuts- und Reichtumsberichten" und in den Statistiken.

Solange die hierin zum Ausdruck kommende ökonomische und soziale Differenzierung nur ein ästhetisches und moralisches Problem ist, wird sie von der Politik und von den Medien nur am Rande wahrgenommen, als Missstand wirtschaftlicher Marginalisierung und sozialer Polarisierung, als bedauerliches, aber unvermeidliches Produkt einer prosperierenden Markt-, Geld- und Leistungsgesellschaft. Dies ändert sich jedoch, wenn die Differenzierung ein bestimmtes Maß übersteigt und die soziale und politische Stabilität gefährdet oder wenn ihre Wirkung auf die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik kippt, das heißt negativ wird. Dann nämlich wird sie systemgefährdend und ruft die Politik auf den Plan. Ihre wissenschaftliche und publizistische Thematisierung und Skandalisierung, wie wir sie gegenwärtig in dem Rummel um Pikettys dickleibiges Buch erleben, sind Begleiterscheinungen der Sensibilisierung der Politik und Ausdruck von Machtkämpfen um eine systemstabilisierende Lösung. Und diese wird immer dringender angesichts einer sich zuspitzenden Polarisierung zwischen Reich und Arm und der zunehmend kontraproduktiven Auswirkungen dieser Differenzierung.

Der moderne Kapitalismus ist eine auf Kapitalverwertung basierende Leistungsgesellschaft; er bedarf daher kapital- wie leistungsbezogener ökonomischer und sozialer Unterschiede. Gerecht ist unter diesen Bedingungen nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit und Differenzierung. Alles andere ist leeres Geschwätz, Stoff für die Sonntagspredigt oder die Sozialausschüsse politischer Parteien. Mit dem Eintritt der bürgerlichen Gesellschaft in ihre finanzmarktkapitalistische Phase vor rund 40 Jahren begann sich diese Differenzierung jedoch zu verselbständigen. Das heißt sie vergrößerte sich nicht nur über alle Maßen, sondern es ging auch ihr Bezug zur Leistungserbringung verloren und, was noch problematischer ist, sie büßte ihre produktive Potenz weitgehend ein. Die von Piketty konstatierte Tatsache, dass sich die Relation zwischen Vermögen (Kapital) und Einkommen in den reichen Industrieländern seit 1970 in etwa verdoppelt hat, die Wachstumsrate der Produktivität aber gesunken ist, bedeutet mithin, dass die Vermögenden zwar deutlich reicher geworden sind, die ökonomische Dynamik dadurch aber keine zusätzlichen Impulse erhalten hat. Ganz im Gegenteil: der gewachsene Reichtum und seine extrem ungleiche Verteilung scheinen die ökonomische Entwicklung eher zu blockieren als zu fördern. Zudem sorgt diese Entwicklung für soziale Spannungen und Schieflagen, welche die Stabilität der Gesellschaft gefährden. Es ist also weder notwendig noch ökonomisch zweckmäßig, dass in Deutschland 10 Prozent der privaten Haushalte rund 60 Prozent des gesamten Nettovermögens besitzen und eine Mehrheit von 60 Prozent aller Haushalte nur 6,5 Prozent. Es muss auch kritisch hinterfragt werden, ob eine Steuerpolitik noch länger aufrechterhalten werden darf, die zu nichts weiter führt, als zu einer noch stärkeren Polarisierung der Vermögen. Es sollte zudem untersucht werden, ob eine so starke Vermögensdifferenzierung, wie sie gegenwärtig in Deutschland existiert, nicht zunehmend die zu den Grundwerten zu rechnende Chancengleichheit vollständig untergräbt. Eliteforscher glauben, dass dies längst der Fall sei. Die Politik zieht hieraus aber keine Konsequenzen. Und es ist auch zu hinterfragen, ob die regionalen Unterschiede bei den Einkommen, insbesondere zwischen Ost und West, irgendetwas zur wirtschaftlichen und sozialen Angleichung beigetragen haben oder ob sie nicht vielmehr Ausdruck und Konsequenz der fortbestehenden Unterschiede in den Vermögen sind, die im Zeitverlauf nicht, wie politisch prognostiziert, allmählich verschwinden, sondern die sich statt dessen immer weiter reproduzieren. Die Verhandlungen um die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs, die jetzt beginnen, werden für die Politik jedenfalls zur nächsten Nagelprobe in dieser Frage werden.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 19/2014 vom 15. September 2014, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 17. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†), Heinz Jakubowski
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2014