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DAS BLÄTTCHEN/1429: Imperialismus verstehen


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Imperialismus verstehen

von Erhard Crome



Zu den tatsächlich interessanten Fragen, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben, gehört die, ob wir wieder in einem Zeitalter des Imperialismus leben. Bei manch einem, hört er dieses Wort, tropft wie bei Pawlows Hund sofort der Zahn, und er denkt mit Grausen an sein einstiges SED-Parteilehrjahr mit all der damaligen Scholastik vom "faulenden und sterbenden Kapitalismus".

Am Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich die Welt unstrittig im Zeitalter des Imperialismus. Der Terminus "Imperialismus" war ursprünglich negativ besetzt; Meyers Lexikon von 1888 definierte ihn als politischen Zustand von Staaten, in denen nicht das Gesetz, sondern Willkür herrscht. In Großbritannien dagegen erlangte das Wort seit den 1870er Jahren eine positive Konnotation: "Imperialisten" nannten sich nun die Freunde des Empire, die gegen die Gleichgültigkeit der liberalen Freihandels-Politiker gegenüber den Kolonien protestierten. Der Historiker George W. F. Hallgarten erklärte diese Wendung mit der starken Position Großbritanniens in der Weltwirtschaft, das auf die Wirtschaftskrise Anfang der 1870er Jahre nicht mit Schutzzöllen und Kartellbildungen reagierte, wie die Staaten auf dem europäischen Kontinent, sondern mit einer Zunahme des Kapitalexports in "undurchkapitalisierte" Räume, vor allem auch in die britischen Kolonien. Großbritannien und vor allem der Finanzplatz London waren verstärkt vom Empire, den Kolonien abhängig. In diesem Sinne war es, wie der spätere Premierminister Disraeli 1872 betonte, Pflicht jeder britischen Regierung, das koloniale Weltreich zu stärken.

Das rief die Konkurrenz anderer Mächte hervor, einen Wettlauf um die Eroberung von Kolonien und um die "Durchkapitalisierung" zuvor unerschlossener Räume. Der Imperialismus war Moment der tiefgreifenden Veränderung der Welt, die mit dem Kapitalismus, der raschen Entwicklung der Produktivkräfte verbunden war. Ende des 19. Jahrhunderts setzte unter dem Eindruck des spanisch-amerikanischen Krieges, des Burenkrieges und der Invasion der europäischen Großmächte in China auch die theoretische Kritik am Imperialismus ein - zuerst in den USA und in Großbritannien, weil das Thema dort von innenpolitischer Relevanz war. Es folgte eine ausführliche marxistische Debatte, an der sich unter anderen Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und W. I. Lenin beteiligten.

Letzterer in der Erwartung eines baldigen Endes "des Kapitalismus". Mittlerweile ist die maßgeblich durch ihn initiierte Alternative dahingeschieden und der Kapitalismus scheint stärker und erfolgreicher denn je. Die Vorstellung vom "sterbenden Kapitalismus" hat sich als falsch erwiesen. Zugleich hatte Lenin fünf Merkmale des "Imperialismus" ausgemacht: (1) Konzentration der Produktion und des Kapitals, Bildung von Monopolen; (2) Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital zum Finanzkapital; (3) Kapitalexport gewinnt gegenüber dem Warenexport vorrangige Bedeutung; (4) Herausbildung internationaler Monopolistenverbände, die Einflusssphären und Märkte in der Welt unter sich aufteilen. Alle diese Entwicklungen sind auch heute zu verzeichnen. Mit Weltbank, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Welthandelsorganisation (WTO) sind internationale, weltweite Organisationen entstanden, die die "Spielregeln" der kapitalistischen Bewegung global festlegen und kontrollieren sollen. Die territoriale Aufteilung der Welt - Lenins 5. Merkmal - hatte sich mit der Entkolonialisierung erledigt. Das kapitalistische Weltsystem hat jedoch auch dies überstanden. Mit neuerlichen Kriegen zwischen den Zentren des internationalen Kapitalismus ist weder aus militärischen noch aus Profitgründen zu rechnen; an der Peripherie des Kapitalismus jedoch wurden Kriege wieder zu einem "normalen" Mittel der Politik. Und hinter der "Globalisierung" verbirgt sich eine erneute Re-Kolonialisierung der Welt außerhalb der kapitalistischen Zentren.

Vor diesem Hintergrund ist die Idee von Karl Kautsky, ebenfalls während des ersten Weltkrieges formuliert, neu zu bedenken, der Kapitalismus werde zu einem "Ultraimperialismus" führen, so dass an die Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital trete. Und das ist es ja wohl, womit es die Völker der Welt seit 1945 zu tun haben, nach dem Ende des Staatssozialismus nun tatsächlich in globalem Maßstab. Die USA und EU-Europa sind die Hauptkomponenten dieses "Ultraimperialismus", neben Japan, und ihr Verhältnis ist eines von Übereinstimmung der Interessen und Konkurrenz innerhalb des Gefüges. Ihnen stehen jedoch die neuen Mächte gegenüber.

Nach dem Ende des Kalten Krieges haben Herfried Münkler, Theorieprofessor an der Humboldt-Universität, und andere eine breite Debatte um Imperien als Ordnungsmodell geführt. Aus der Sicht der EU gehe es um die Stabilisierung der "Peripherie", und hier nicht nur um den überschaubaren Balkan, "sondern um einen Bogen, der von Weißrussland und der Ukraine über den Kaukasus in den Nahen und Mittleren Osten reicht und sich von da über die afrikanische Mittelmeerküste bis nach Marokko erstreckt". Es gelte, "die europäischen Außengrenzen stabil und elastisch zu machen". Das schließe "Einflussnahmen auf die Peripherie ein". Damit hätte sich die EU von den Prinzipien der souveränen Gleichheit der Staaten und der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten, von der UNO-Charta verabschiedet.

Gabor Steingart, damals "Spiegel"-Redakteur, veröffentlichte 2006 ein Buch über den kommenden "Weltkrieg um Wohlstand", in dem sich "Europa" vor allem gegenüber China und Indien entsprechend positionieren müsse. Alan Posener, Kommentarchef der "Welt am Sonntag", publizierte 2007 ein Werk des Sinnes, dass Europa Weltmacht werden müsse und das Imperium der Zukunft sei. Nationalstaaten europäischen Ausmaßes, auch die größeren, wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, sind zu klein, um in der Welt von heute machtpolitisch eine Rolle zu spielen.

Laut Parag Khanna, Politikwissenschaftler in den USA, haben wir es in der Welt von heute mit drei Imperien zu tun: USA, EU und China - und sie kämpfen miteinander um Einfluss und Macht. Entscheidend für den Ausgang dieses Kampfes sei die "Zweite Welt", wozu er auch Indien, Russland und Brasilien zählt. (Ob diese Einordnung Russlands zutrifft, wäre weiterer Debatte wert.) Auch wenn man die Weltsicht dieser Autoren nicht teilt, ist offensichtlich, dass nicht mehr national basierte imperiale Mächte mit einer entsprechenden Einfluss-Sphäre, wie vor einhundert Jahren, die Welt beeinflussen, sondern staatlich organisierte Großmächte, die zugleich geopolitisch Großräume sind und ebenso Groß-Volkswirtschaften, wie die USA, China, die EU, Indien, Russland und Brasilien. Und in diesem Sinne sind wir nach dem Kalten Krieg wieder in ein Zeitalter des Imperialismus eingetreten.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 20/2014 vom 29. September 2014, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 17. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†), Heinz Jakubowski
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2014