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DAS BLÄTTCHEN/1532: Merkel, die Flüchtlinge und die Folgen


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
18. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2015

Merkel, die Flüchtlinge und die Folgen

von Stephan Wohanka


Kanzlerin Merkels "Yes we can" lautet "Ja, wir schaffen es". Es ist zu früh, um darüber zu urteilen, ob Merkel scheitert - jedenfalls in beträchtlichem Umfang, wie Obama gescheitert ist - ... oder aber reüssiert. Gelingt der zaudernden Merkel, die in den letzten Tagen eine erstaunliche Metamorphose hin zur tatkräftigen Politikerin demonstriert hat, diese Operation, dann gleicht sie ihrem Ziehvater Kohl; auch ihm hat zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1982 niemand zugetraut, er könne der Mann werden, der die Geschicke des Landes durch sein beherztes Greifen nach dem "Zipfel des wehenden Mantels der Geschichte" vulgo die deutsche Wiedervereinigung entscheidend prägen würde.

Klar ist, dass Merkel dem Land beinahe Ungeheuerliches zumutet! Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass der Zustrom und die nachfolgende Integration Hunderttausender nicht nur Deutschland, sondern auch Europa verändert. Die Gestaltung eines nationalen oder auch übernationalen Kollektivs unter Einbezug von Gruppierungen, die andere religiöse, politische und zivilisatorische Werte und Haltungen vertreten, die sie im Integrationsprozess allenfalls teilweise ablegen werden - das ist so bei Integration, darüber Hinausgehendes wäre Assimilation -, ist ohne Wandel auch der Ursprungsgemeinschaft nicht zu haben.

Eine Frage, die im Blättchen schon debattiert wurde, ist daher die zum Verhältnis von Nation und Zuwanderung, denn die Bevölkerung muss für die neue Aufgaben Flüchtlingshilfe und Integration in den jetzt anstehenden Größenordnungen gewonnen werden. Es ist dabei unstrittig, dass ein Land, das integrieren will, neben materiellen Ressourcen über kulturelle, geistige und normative sowie Identität stiftende Kräfte verfügen muss, um diesen Prozess bewerkstelligen zu können.

Da und dort wird räsoniert, dass Deutschland gegenwärtig nicht (ausreichend) über ebendiese ideellen Kräfte verfüge; die (Kultur)Nation Deutschland befände sich in einer Schwächephase. Der Hintergrund dieser vermeintlichen Schwäche ist die durchaus risikoreiche Auflösung traditioneller Lebens- und Identitätsformen und insofern also nichts Neues.

Doch die zu integrierenden Menschen sind bereits hier. Uns bleibt folglich gar keine Zeit, um erst wieder "Kräfte zu sammeln" und Scharten am deutschen Selbstbild auszuwetzen. Der Reparaturvorgang muss vielmehr teilweise "übersprungen", respektive mit dem Integrationsprozess selbst verschränkt werden und zu einer neuen, anderen Ebene des Bewusstseins beziehungsweise des Selbstverständnisses als Nation führen. Die Macht des Faktischen zwingt uns, über das uns heute geläufige Nationenverständnis hinaus zu denken (und handeln); und das dann auch noch über den nationalen Rahmen hinaus hin zu einer europäischen Dimension. Nicht der Blick - ich überzeichne bewusst - bis auf den Grund unserer "religiösen und protopolitischen Initiation" (Botho Strauß) ist jetzt das Gebot der Stunde.

Andererseits: Interessiert die aus diverser Herren Länder stammenden Menschen - die, die schon hier leben, und die, die jetzt hierher kommen -, die Frage nach den Ursprungsmythen deutscher Identität überhaupt? Kann der gewaltige Druck, den die Integration Hunderttausender mit sich bringt, durch Bindung an eine ideelle Gemeinschaft - die Nation - "abgelassen" werden? Das muss sich zeigen. Zuwanderung wird jedenfalls weiter stattfinden; die Flüchtlinge werden durch ihr "Dazukommen" das Land wenn nicht bereichern, so doch verändern. Übrigens, die Flüchtlinge bezahlen letztlich ihre Integration selbst - über ihre nachfolgende Teilhabe am wirtschaftlichen und sozialen Leben hierzulande; sie werden arbeiten, Steuern und Sozialabgaben zahlen, zur notwendigen Loyalität finden und die Altersstruktur positiv verändern.

Es gibt zugleich gute Gründe danach zu fragen, wie die Menschen mit dem zu erwartenden Umbruch zurechtkommen werden, wie es ihnen gelingen kann, neue gemeinsame Lebensmodelle zu entwerfen, zu erproben und zu leben. Bis hin zu eminent praktischen Problemen; ein Beispiel: In den Ballungszentren Deutschlands fehlen schon jetzt 770.000 Wohnungen. Wie will man da noch Unterkünfte für Hunderttausende Flüchtlinge bereitstellen, die allein dieses Jahres erwartet werden? Mit der Verfasstheit der bestehenden Bauindustrie und den bisher bereit grestellten, völlig unzureichenden öffentlichen Mitteln werden wir weder für die Einheimischen, noch für die Zugewanderten jemals bezahlbaren Wohnraum schaffen können. Überdies herrschen Lobbyismus, Vorteilsdenken, Inkompetenz sowie marktorientiertes Planen und Bauen. Hinzu kommen teilweise bizarre Auflagen, Vorschriften und Normen; allein 3.200 Regelwerke, 500 Gesetze und Verordnungen und nochmals 800 technische Vorschriften und Regeln. Nutzen wir den entstehenden Druck, um diesen Nonsens zu beenden! Und nicht nur das: "In Städten denken", wie Planer und Architekten fordern. Nicht Dach und Wärme allein machen Wohnen aus, sondern erst Nachbarschaft, soziale Kommunikation und Mischung, Netzwerke, soziale sowie technische Infrastruktur bilden Wohnen und Stadt ab. Visionen dieser Art sind nicht neu; nur umgesetzt werden müssen sie endlich.

Die Realisierung derartiger Vorstellungen würden Deutschland und auch Europa umformen, beide neu definieren; Blaupausen dafür gibt es keine. Wir müssen experimentieren - wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Wir sind zwar schon lange eine Risikogesellschaft, aber jetzt tritt zum Risiko die Chance auf etwas Neues, Anderes. Und egal, ob die Integration letztlich gelingt oder nicht - Deutschland und auch Europa werden in wenigen Jahren andere sein als noch jetzt. Viktor Orbans Credo "wir wollen uns nicht ändern" wird so oder so nicht aufgehen.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 21/2015 vom 12. Oktober 2015, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 18. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2015

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