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DAS BLÄTTCHEN/1541: Flüchtlinge retten! Nicht nur den Euro!


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
18. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2015

Flüchtlinge retten! Nicht nur den Euro!

von Heerke Hummel


Ein unabsehbarer Flüchtlingsstrom drängt nach Europa, vor allem in sein Zentrum Deutschland. Angesichts des Streits, wie man dem Problem beikommen, den Flüchtlingen helfen und ihre Aufnahme in geordnete Bahnen lenken kann, sprach der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras kürzlich vor dem Parlament von einer beschämenden Situation. Und die deutsche Bundeskanzlerin beklagt - nach ihrem Ja zu dem Griechenlands Volk gerade aufgezwungenen, desaströsen Spardiktat - mangelnde Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in Bezug auf die Flüchtlingsfrage!

Kann man europäische Solidarität in der Flüchtlingsfrage unter den heutigen systemischen Bedingungen in der EU aber wirklich erwarten? Wohl kaum, angesichts der gravierenden Ungleichgewichte und Widersprüche! Deutschland als Exportweltmeister hat im ökonomischen Wettbewerb seine europäischen Partner an die Wand gespielt, an den Krisen der letzten Jahre auf Kosten der anderen gewonnen, mit seinen Rüstungsexporten gut verdient und sich auch für die Flüchtlingsströme mitverantwortlich gemacht. Zum bevorzugten Ziel der Flüchtenden ist Deutschland durch deutsche Wirtschaftspolitik geworden.

Daraus folgt als Konsequenz: Die europäische Solidarität kann nur mit ökonomischen Mitteln erreicht werden, die es politisch im Rahmen der EU zu gestalten gilt. Und der Schlüssel dazu dürfte bei der Europäischen Zentralbank liegen. Diese Bank ist ein Ergebnis gravierender Veränderungen im System (nicht nur) der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft allgemein im Verlaufe des ganzen vorigen Jahrhunderts. Vollzogen haben sich die Veränderungen auf zwei Wegen: Im Westen Europas als mehr oder weniger kontinuierlicher, reformatorischer Prozess in der Funktionsweise der Wirtschaft als "Marktwirtschaft", im Osten auf der Basis politischer Gewalt und Gestaltung einer zentralen staatlichen Wirtschaftsplanung. Dem östlichen System mangelte es an Flexibilität bei der Durchsetzung des technischen Fortschritts. Und mit den Reformen des östlichen "Realsozialismus", der Rückkehr zur "Marktwirtschaft", sollten westliche Flexibilität und Leistungsfähigkeit erreicht werden. Allerdings wurden die qualitativen Veränderungen, welche das Wirtschaftssystem (dasjenige im Westen ebenso wie das im Osten) im Verlaufe von rund hundert Jahren erfahren hatte, von der Wirtschaftswissenschaft nicht in aller Konsequenz herausgearbeitet. Gemeint ist damit vor allem die Erkenntnis, dass sich ein grundlegender Wandel im Wesen Geldes vollzogen hat, dessen Kulminationspunkt 1971 mit der Abkopplung des US-Dollars und der an ihn gebundenen Währungen vom Goldstandard erreicht wurde. Mit der damaligen Notmaßnahme von US-Präsident R. Nixon wurden das Geld- und Finanzsystem revolutioniert und mit ihm die Gesellschaft in ihren ökonomischen Grundlagen umgestaltet. In anderen Veröffentlichungen habe ich dies ausführlich dargestellt.

Auch wenn sich damals wohl kaum jemand über die grundlegende politökonomische Bedeutung des amerikanischen Präsidentenerlasses im Klaren war und man Geld immer noch als Reichtum betrachtete statt als Arbeitsquittung und damit Anspruchsbescheinigung beziehungsweise Beleg für Teilhabe am sachlichen Reichtum der Gesellschaft, kam doch sehr schnell die Erkenntnis, dass das System seine Grenzen verloren hatte. Und gewiss nicht zufällig waren es zuerst amerikanische Banker, die mit viel Erfindergeist die offenen Grenzen des Geldes ganz pragmatisch für unbegrenzte Spekulationsgeschäfte zu nutzen verstanden. Ökonomischer Sinn und wirtschaftliche Vernunft spielen bei diesen Geschäften keine Rolle mehr. Warum? Weil Geld immer noch für das gehalten wird, was es vor hundert Jahren einmal war, und weil ein neues Denken mit neuer Zielsetzung für ökonomisches Handeln nicht auf dem Markt entsteht, weder auf dem Warenmarkt noch auf dem sogenannten Geld- und Finanzmarkt!

In dieser Situation ist die Politik zu handeln gefordert. Sie hat dem ökonomischen System gesetzlich Grenzen zu setzen, die gewährleisten, dass es nicht kollabiert. Dabei kommt es vor allem darauf an, Wirtschaftsentwicklung als einheitliches, komplexes Problem sachlich-struktureller und finanzieller Entscheidungen zu verstehen und zu organisieren. Das heißt, Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen als unmittelbare Einheit betrachtet, organisiert und betrieben werden. Von zentraler Bedeutung in Europa ist in diesem Zusammenhang die Europäische Zentralbank. Deren Statut gilt es im Interesse einer harmonischen Entwicklung in der Europäischen Union den Erfordernissen anzupassen. Die EZB müsste in die Lage versetzt werden, mit ihrer Geldpolitik Wirtschaftspolitik zu betreiben. Sie müsste direkt zweckgebundene, zinslose Kredite für große europäische Investitionsvorhaben zur Verfügung stellen, um die eigentlichen Ursachen der gravierenden ökonomischen, sozialen und Haushaltsprobleme Europas zu lösen. Solche Vorschläge wurden auch schon von anderen öffentlich unterbreitet. Doch das entscheidende Problem besteht in der Notwendigkeit, das Statut der Europäischen Zentralbank den Erfordernissen anzupassen. Und gerade Deutschland hat sich in der Vergangenheit solchem neuen Denken vehement entgegen gestellt. Nun ist es dringend an der Zeit, diesen Kurs zu ändern, damit die Staatshaushalte in Europa saniert, die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung Europas gestoppt, die soziale und politische Spaltung Europas abgebaut und auf europäischer Ebene die Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziert werden können.

Politischer Wille und politische Macht müssen eine Kursänderung herbei führen. Und niemand verfügt zurzeit wohl über mehr Macht und Einfluss in Europa und auf die Politik der EU als die deutsche Kanzlerin. US-Präsident Nixon hatte 1971 den Mut, den (internationalen) Vertrag von Bretton Woods kurzerhand eigenmächtig zu brechen, um den Abfluss von rund 8.000 Tonnen Gold aus den USA zu stoppen. Für die wirtschaftswissenschaftlichen Eliten der Welt war so etwas undenkbar gewesen. Dennoch war es eine historische Tat, weil sie den Schlusspunkt einer schleichenden, mehr als hundertjährigen Evolution des Weltfinanzsystems setzte und einen qualitativen Sprung, eine Revolution bedeutete. EZB-Präsident Mario Dragi hatte den Mut, das Statut der Europäischen Zentralbank zu missachten, als er erklärte, jede Menge von Staatsanleihen aufkaufen zu wollen, die notwendig wäre, um den Euro zu retten. Wenn es der europäischen Politik nicht bald gelingt, eine Statutenänderung der EZB herbeizuführen, müsste die Führung der Europäischen Zentralbank zur Rettung der Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung eigentlich bereit sein, den Gründungsvertrag noch viel gravierender zu verletzen als bei der umstrittenen Dragi-Erklärung und eigenmächtig das Finanzsystem der EU schrittweise umzugestalten, damit sie die solidarische Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziell erzwingen und absichern und die ökonomischen und sozialen Ungleichgewichte in Europa ausgleichen kann. Denn: Wer den Euro und Banken retten konnte muss auch Millionen Flüchtlinge retten!

Heute ist es für Europas Eliten undenkbar, dass die EZB - demokratisch kontrolliert - Finanzpolitik und Wirtschaftspolitik betreibt. Darum bedarf es mutiger Entscheidungen - besonders von der Bundeskanzlerin!

Bei den Brüsseler Verhandlungen zur Lösung der Schuldenkrise schlug die Regierung Griechenlands ein Minimalprogramm vor, das die Architektur der Eurozone grundlegend umbauen würde. Es handelt sich um ein Programm mit realistischem Weitblick, das der aktuellen Situation Europas entspricht.. Auch mit deutschem Votum wurde dieses Minimalprogramm abgelehnt. Angesichts der inzwischen eingetretenen europäischen Dramatik sollte nun verantwortungsvolles politisches Denken und Handeln vielleicht auch darin bestehen, dass man sich auf die griechischen Vorschläge rückbesinnt. Immerhin spielt ja gerade Griechenland in territorialer Hinsicht eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 23/2015 vom 9. November 2015, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 18. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2015

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