Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


DAS BLÄTTCHEN/1879: Programmierter Rüstungswettlauf - Hyperschallwaffen


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
22. Jahrgang | Nummer 5 | 4. März 2019

Programmierter Rüstungswettlauf:
Hyperschallwaffen

von Jerry Sommer


Die USA, Russland und China arbeiten schon seit Jahren daran, neue sogenannte Hyperschallwaffen zu entwickeln - Waffen, die mit einer Geschwindigkeit von über 6000 Kilometer pro Stunde fliegen. Das konnten bis vor kurzem nur ballistische Raketen, sie erreichen Geschwindigkeiten bis zu 25.000 Kilometer pro Stunde.

Russland hat im vergangenen Jahr einen neuen hyperschallschnellen Marschflugkörper namens "Kinschal" erprobt. Er wird von Flugzeugen gestartet, ist manövrierfähig, kann in geringer Höhe fliegen und hat eine Reichweite von etwa 2000 Kilometern. Im Dezember teilte die russische Führung mit, eine weitere Hyperschallwaffe sei erfolgreich getestet worden: die "Avangard". Eine Interkontinentalrakete befördert sie ins Weltall. Dort wird das Gleitfahrzeug abgesprengt, das einen nuklearen Sprengkopf tragen kann und mit vielfacher Schallgeschwindigkeit auf sein Ziel zurast. Das aerodynamische Gleitfahrzeug hat kleine Flügel und kann interkontinentale Reichweiten zurücklegen, also über 10.000 Kilometer weit fliegen. Die Besonderheit: Mit Hilfe eines kleinen Antriebs lässt es sich manövrieren. Während die Flugbahn des Sprengkopfs einer ballistischen Rakete berechnet werden kann, ist das bei Gleitern wie der "Avangard" nicht möglich. Das hat gravierende Folgen für jegliche Abwehrsysteme. "Wenn man einen manövrierfähige Flugkörper hat, der in der Eintrittsphase bis hin zum Ziel manövrierbar ist und plötzliche Bahnmanöver vollzieht - nach oben, unten, rechts, links -, dann ist es für die Raketenabwehr nicht mehr möglich, diese möglicherweise nuklearbestückten Sprengköpfe abzufangen", erklärt der Physiker und Konfliktforscher Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik.

Einzelheiten der "Avangard"-Testergebnisse sind nicht bekannt. So ist unklar, wie gut diese Hyperschallwaffe auch in der Zielphase manövrierbar ist. Allerdings gehen alle Experten - auch Fachleute des Pentagons - davon aus, dass die "Avangard" alle gegenwärtig vorhandenen Raketenabwehrsysteme der USA überwinden kann. Der Befehlshaber des Strategischen Kommandos der US-Streitkräfte, General John Hyten, sagte im vergangenen Jahr bei einer Anhörung im Senat: "Wir haben keinerlei Verteidigungssysteme gegen den Einsatz einer solchen Waffe. Deshalb würden wir mit unseren Abschreckungsmitteln antworten." Das heißt: Die USA würden Atomwaffen starten, nicht Raketenabwehrsysteme.

Allerdings ist kein Szenario vorstellbar, in dem Russland einen Angriff mit einem oder mehreren nuklearbestückten "Avangard" starten würde; denn anschließend müsste es mit der eigenen atomaren Vernichtung rechnen. Ohnehin ist Russland gegenwärtig jederzeit in der Lage, die Raketenabwehr der USA zu überwinden. Die ist nämlich zum einen nicht zuverlässig und zum anderen nur gedacht, um einen Angriff von einigen wenigen Sprengköpfen - zum Beispiel von Nordkorea - abzuwehren. Gegen einen massiveren Atomschlag Russlands wäre sie machtlos. Daran wird sich auch nach den neuen Leitlinien der Trump-Regierung - der sogenannten "Missile Defense Review" - auf absehbare Zeit nichts ändern. Das "Avangard"-Waffensystem sollte daher keine Auswirkungen auf das grundsätzliche Verhältnis zwischen den großen Atomwaffenstaaten haben.

"Die Russen als auch die Chinesen haben ohnehin genug Atomsprengköpfe auf ihren Langstreckenraketen, um unsere Raketenabwehr zu überwinden", glaubt George Nacouzi, der Raketenexperte der US-amerikanischen Denkfabrik RAND-Corporation. Nuklear bestückte Hyperschallwaffen seien deshalb im strategischen Sinne kein "Game-Changer".

Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter - dieses Prinzip gilt weiterhin, auch mit Hyperschallwaffen. - Doch braucht Russland keine "Avangard", um seine Zweitschlagfähigkeit zu erhalten. Und Moskau hat auch nicht vor, diese Waffe massenhaft zu produzieren. Denn normale Interkontinentalraketen seien effizienter, stellt der Nuklearexperte Andrei Baklitski vom Moskauer PIR-Center fest: "Eine Interkontinentalrakete kann höchstens ein oder zwei 'Avangard'-Gleiter ins All bringen. Aber sie kann sechs oder zehn Sprengköpfe sowie Attrappen tragen. Wahrscheinlich wird 'Avangard' deshalb eine Nischenwaffe, die beweist, wozu man technologisch fähig ist und dass man jede Raketenabwehr überwinden kann."

Russland behauptet, die "Avangard" könne schon im nächsten Jahr in Dienst gestellt werden. Selbst wenn das nicht klappen sollte, hat das Land bei dieser Technologie vermutlich einen Vorsprung gegenüber China und den USA. Die US-Streitkräfte werden voraussichtlich erst in rund fünf Jahren Hyperschallwaffen stationieren. Entsprechende Verträge im Wert von 1,5 Milliarden Dollar wurden vor einigen Monaten mit Rüstungskonzernen abgeschlossen.

Die Regierung der USA möchte indes auch die Abwehr von Hyperschallwaffen erforschen. Denn hierfür gibt es noch keine Konzepte. Im Sommer will das Pentagon Machbarkeitsstudien vorlegen. Auch alte, längst zu den Akten gelegte Pläne aus der Zeit von Ronald Reagans "Weltraum-Schild" sollen geprüft werden. Denn technisch sei es grundsätzlich möglich, Raketenabwehrwaffen auch gegen Hyperschallwaffen zu entwickeln, glaubt George Nacouzi: "Man bräuchte schnellere und vor allem schnell manövrierfähige Abfangraketen. Zuerst werden die wohl bodengestützt sein. Aber auch im Weltraum stationierte Abfangwaffen könnten funktionieren. Ob die USA sich aber dafür entscheiden würden, ein globales System von weltraumgestützten Abfangwaffen aufzustellen, das weltweit Hyperschallwaffen abwehren kann - das ist eine ganz andere Frage."

Der Raketenexperte Hans Kristensen von der rüstungskritischen Federation of American Scientists bezweifelt allerdings, dass es technisch möglich sein wird, manövrierbare Hyperschallwaffen abzufangen - von den Kosten ganz zu schweigen. Nicht einmal die gegenwärtigen Raketenabwehrsysteme der USA seien verlässlich. Ob man zum Beispiel irgendwann mit Laserwaffen Raketen abschießen könne, sei überhaupt nicht absehbar. Auch politisch würde eine Stationierung von Abfangwaffen im Weltraum auf Widerstand stoßen, glaubt Kristensen: "Der Kongress würde die Stationierung von Abfangwaffen im Weltraum niemals akzeptieren. Denn das würde einen ganz neuen Schauplatz für einen Rüstungswettlauf eröffnen."

Wahrscheinlich ist jedoch, dass die USA ein neues weltraumgestütztes Satellitensystem aufbauen werden, mit dem alle Raketenstarts und Flugkörper aus dem All besser entdeckt und verfolgt werden können.

Generell ist die Entwicklung von Hyperschallwaffen wohl nicht mehr aufzuhalten - und damit ist ein Rüstungswettlauf vor allem zwischen China, Russland und den USA in diesem Bereich programmiert. Einige rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen wären trotzdem möglich und wünschenswert. So fordert George Nacouzi: "Wir müssen erreichen, dass diese Waffen sich nicht über die drei Länder hinaus verbreiten. Wenn solche Waffen in die Hände von Staaten geraten, die diese Systeme für destabilisierende Dinge nutzen, könnte das regional wie international riskant werden."

Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik schlägt vor, die Bewaffnung von Hyperschallwaffen einzuschränken: "Hyperschallflugkörper sind eine dramatische Bedrohung, wenn sie nuklear bestückt sind. Also wäre eine Logik, einfach zu verbieten, dass man solche Hyperschallflugkörper mit Nuklearwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen ausstattet."

Im gerade gekündigten INF-Vertrag sind die USA und Russland einen anderen Weg gegangen: Auch weil die Kontrolle von auf Raketen montierten Gefechtsköpfen schwierig ist, hatten sich beide Seiten geeinigt, alle landgestützten Mittelstreckenraketen zu verbieten - ob konventionell oder nuklear bestückt. Mit dem Ende des INF-Vertrages wäre auch die Stationierung von landgestützten Mittelstreckenraketen mit Hyperschallgleitfahrzeugen möglich.

Der New START-Vertrag erlaubt den USA und Russland jeweils 700 Trägersysteme interkontinentaler Reichweite - ob boden-, luft- oder seegestützt. Darunter fallen auch strategische Raketen oder Flugzeuge, mit denen Hyperschallwaffen gestartet werden können. Der Vertrag läuft allerdings 2021 aus - und die USA haben auf die russische Initiative, jetzt über eine Verlängerung des Abkommens zu verhandeln, bisher nicht reagiert. - Die Gefahren von Hyperschallwaffen könnten zwar durch bestehende oder neue Rüstungskontrollverträge begrenzt werden. Doch die Chancen dafür stehen schlecht - erst recht nach der Kündigung des INF-Vertrages.

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag des Autors für die Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" (NDR-Info, 9.2.2019).

*

Quelle:
Das Blättchen Nr. 5/2019 vom 4. März 2019, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang