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DAS BLÄTTCHEN/1900: 100 Jahre Merz


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
22. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2019

100 Jahre Merz

von Manfred Orlick


Vor knapp 100 Jahren, zu Beginn des Jahres 1920, wunderten sich die Bürger von Hannover über große Plakate an den meisten Anschlagsäulen. "An Anna Blume!" prangte darauf, dazu merkwürdige Gedichtzeilen "O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe dir! Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir. - Wir? / Das gehört (beiläufig) nicht hierher. [...]" Die Hannoveraner standen kopfschüttelnd davor: "Der Mann ist verrückt!"

Wer war der "Verrückte"? Zur Jahreswende 1919/20 war im Hannoveraner Verlag Paul Steegemann Kurt Schwitters Band "Anna Blume. Dichtungen" erschienen, und der Verleger hatte zur Verkaufsförderung das meterhohe Plakat in der Stadt anbringen lassen. Der Verlag wurde mit bitterbösen Leserzuschriften überschüttet. Die originelle Werbeaktion war jedoch ein Erfolg, die Erstauflage ging weg wie die sprichwörtlichen "warmen Semmeln".

Doch wer war dieser Kurt Schwitters?

Am 20. Juni 1887 in Hannover geboren, studierte er von 1908 bis 1914 an der Kunstgewerbeschule in seiner Heimatstadt sowie an der Kunstakademie in Dresden. Mit dieser akademischen Ausbildung schien eine eher konventionelle Malerlaufbahn vorprogrammiert, doch dann kam er mit dem Expressionismus und der abstrakten Malerei in Berührung. Es entstanden erste Collagen, für die Schwitters Abfallprodukte wie Garderobennummern, Knöpfe, Drähte, angespülte Hölzer oder Gerümpel aus der Bodenkammer verwendete. 1918 dann eine erste Ausstellungsbeteiligung in der Galerie "Der Sturm", Berlin. Hier knüpfte Schwitters Kontakte zu den führenden Dadaisten Herwarth Walden, Hans Arp und Tristan Tzara, aber der Zutritt zu ihrem Berliner Club wurde ihm verweigert.

Daraufhin gründete Schwitters in Hannover eine eigene Dada-Sektion und nannte sie Merz. Wie Dada ein sinnfreies Wort, das zufällig bei einer Collage mit einem Papierschnipsel - "Commerzbank" - entstanden war. Innerhalb von zwei Jahren entwickelte sich Schwitters zu einem viel beachteten Dichter und Maler. Seine eigene Zeitschrift Merz (1923-1932) nutzte er zur Auseinandersetzung mit den modernen Kunstströmungen und zur Darlegung seines "Gesamtkunst-Konzeptes", in dem er als Maler, Grafiker, Schriftsteller, Verleger, Typograf und Werbefachmann tätig war. Sein Lebenswerk gipfelte im sogenannten Merz-Bau, einer Kunstkonstruktion mit Plastiken, Skulpturen, Fotos und Collagen, die sich allmählich über fast alle Etagen und Räume seiner Hannoverschen Wohnung ausbreitete. Damit verkörpert die phantastische Raumarchitektur zugleich den Anfang der Schaffung von Installations- und Raumkunstwerken im 20. Jahrhundert. Der Merz-Bau wurde bei alliierten Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg zerstört.

Obwohl Merz eine unpolitische Kunst war, wurde Schwitters' Lage in Deutschland ab 1933 immer unerträglicher. 1937 wanderte er nach Norwegen aus, wo er einen künstlerischen Neubeginn versuchte (unter anderem mit einem zweiten höhlenartigen Merz-Bau, der 1951 durch einen Brand zerstört wurde). Schließlich musste Schwitters 1940 vor den deutschen Truppen nach England flüchten. Zunächst in einem Internierungslager auf der Isle of Man untergebracht, lebte er bis 1945 in einem Londoner Vorort. Die letzten Lebensjahre verbrachte er in Ambleside im Lake District. Am 8. Januar 1948 starb Kurt Schwitters.

Sein dritter Merz-Bau, die Merz Barn (Scheune), blieb unvollendet und wird bis heute als wichtiges britisches Kulturerbe der Moderne angesehen. Ihr Fortbestand ist allerdings seit Jahren gefährdet.

Erst 1970 wurden die sterblichen Überreste von Kurt Schwitters in seine Heimatstadt Hannover überführt.

Das dortige Sprengel Museum, das seit 1983 eine Rekonstruktion des ersten Merz-Baus besitzt, feiert nun mit einer Ausstellung den 100. Geburtstag der Kunst des Multitalents Kurt Schwitters. Zum Jubiläum werden selten gezeigte Werke, Texte und Töne der umfangreichen Sammlungsbestände zu Schwitters und seinen internationalen Weggefährten präsentiert, ergänzt durch zahlreiche Leihgaben. Ein zweitägiges internationales Symposium im Juli dient dem wissenschaftlichen Austausch von aktuellen Forschungsergebnissen. Leider gibt es zu der Ausstellung, die eine willkommene Ergänzung zu "100 Jahre Bauhaus" darstellt, keinen Begleitkatalog.

"100 Jahre Merz. Kurt Schwitters. Crossmedia", 29.05.-06.10.2019, Sprengel Museum Hannover.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 11/2019 vom 27. Mai 2019, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2019

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