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DAS BLÄTTCHEN/1913: Bedrohliche Sicherheit


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
22. Jahrgang | Nummer 14 | 8. Juli 2019

Bedrohliche Sicherheit

von Georg Rammer


SICHERHEIT wird großgeschrieben, Sicherheit nach außen wie nach innen; sie mutiert geradezu zu einem alles dominierenden Grundrecht. Parallel dazu entwickelt sich die Bedrohung zum zentralen Narrativ der Regierungspolitik. Glaubt man den staatlichen Erzählungen über die "hybride Bedrohung" aus Russland, muss Wladimir Putin angesichts einer 16-fachen Rüstungsüberlegenheit der NATO-Staaten, die sein Land geradezu umzingelt haben, ein Selbstmörder sein. Bekanntlich hat sich die NATO bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt und plant, auch die Ukraine und Georgien in die nordatlantische (!) Front einzubinden.

Wir, "der Westen", sind in Gefahr und müssen aufrüsten - oder totrüsten? Während die EU-Kommission Russland - ohne jeden Beweis - der Beeinflussung der EU-Wahl beschuldigt, deckt die New York Times einen US-Cyber-Angriff auf das russische Stromnetz auf. Auch die Bundeswehr bereitet sich auf die Führung eines umfassenden Cyberkrieges vor. Die EU stellt unter dem Titel "Connecting Europe" Milliarden für den Bau von Straßen nach Osten bereit, um die strategische Verkehrsinfrastruktur zu erweitern und für die militärische Mobilität tauglich zu machen. Die Zahl der Militärmanöver nahe der russischen Grenze nimmt zu. Einerseits werden Rüstungskontrollverträge gekündigt, andererseits gigantische Summen für Aufrüstung bereitgestellt.

Der militaristischen Strategie gegenüber Russland liegen lang gehegte Pläne zugrunde, die die der Berater verschiedener Präsidenten der USA, Zbigniew Brzezinski, bereits 1997 in seinem Buch "The Great Chessboard" ausgebreitet hatte. Im Sinne der geopolitischen Vorherrschaft der einzigen Weltmacht USA müsse Russland isoliert und destabilisiert werden, um ganz Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok in die unipolare Einflusssphäre einbeziehen zu können. Die Osterweiterung der EU müsse einhergehen mit der NATO-Ausdehnung, letztlich unter Einbeziehung der Ukraine und Georgiens. Wie wir wissen: Der Plan wurde weitgehend umgesetzt, an den letztgenannten Zielen wird mit großem Einsatz gearbeitet.

Bedeutet dieser geostrategisch motivierte Militarismus für die "einzige Weltmacht" und eine ökonomisch und militärisch aufstrebende EU wirklich ein Mehr an Sicherheit? Ganz im Gegenteil, wie wir an den Ergebnissen der Expansion fortwährend beobachten müssen - einer Expansion, die unter Missachtung von Völkerrecht und UN-Charta durchgesetzt wird. Auch der Nordatlantikvertrag ist Makulatur, in dessen Artikel 1 sich die Mitglieder verpflichten, jeden Streitfall so zu regeln, dass "Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit unter den Völkern nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeglicher Drohung oder Gewaltanwendung zu enthalten." Ist die Expansion im Interesse der Menschen? Welch naive Frage angesichts der Massen von Toten und der Zerstörungen, die sie in den angegriffenen Ländern anrichtet. Aber auch im eigenen Land hat der selbstherrliche imperiale Expansionismus fatale Folgen, denn eine Interessenpolitik, die Menschen primär unter dem Aspekt der Verwertbarkeit sieht, zerstört auch da die Menschlichkeit und den viel beschworenen sozialen Zusammenhalt.

Deshalb muss nicht nur nach außen, sondern auch im eigenen Land, gegen die eigene Bevölkerung aufgerüstet werden. Tatsächlich beobachten wir einen massiven Ausbau aller "Sicherheits"-Apparate. Ein hochgerüsteter deutscher Polizist wirkt in seiner Panzerung wie ein schwarzer Kampfroboter, der sich - bepackt mit Schlagstock, Pfefferspray, Taser, Schusswaffen verschiedener Art - nur schwerfällig bewegen kann. In fast allen Bundesländern haben die Regierungen der Polizei enorme zusätzliche gesetzliche Befugnisse (Onlinedurchsuchung, Präventivhaft, Bodycams et cetera) verschafft, die die Rechtsstaatlichkeit ebenso bedrohen wie die Bürger, die es noch wagen, gegen staatliche Politik zu protestieren. Während eine neoliberale Politik dafür sorgt, dass Wohnungen unbezahlbar werden, Renten nicht zum Leben reichen, Klima, Gesundheit und Umwelt wie alles andere auch dem Profit ausgeliefert werden, koordiniert die Innenministerkonferenz die Aufrüstung und Militarisierung der Polizei: "Während die Bundespolizei und einige Länderpolizeien neue Spezialeinheiten aufstellen, werden Streifenbeamte in paramilitärischen Schnellkursen geschult. Neues Material wie Maschinenpistolen und schwere Schutzausrüstung finden ihren Platz in den Streifenwagen", schreibt Martin Kirsch in der jungen Welt vom 12. Juni.

Die Aufrüstungsspirale wäre unvollständig ohne die Erweiterung der Befugnisse der Geheimdienste zu exzessiver Überwachung, die Grundrechte nach und nach einschränkt. In dieser Aufrüstungsspirale von Militär, Polizei und Geheimdiensten gibt es nie ein Zurück oder auch nur eine Überprüfung der Notwendigkeit und Wirksamkeit der Beschlüsse der Innenminister. Zwar verdichten sich Indizien, dass bei den NSU-Morden, dem tödlichen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt oder dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke Geheimdienste nicht nur versagt, sondern Aufklärung behindert und die Taten begünstigt haben, ist die Konsequenz mitnichten ein kritisches Hinterfragen der Geheimdienste und ihrer unkontrollierten, staatlich geschützten Machenschaften. Stattdessen erleben wir: Vorratsdatenspeicherung, mehr Geld und mehr Kompetenzen für den Verfassungsschutz, neue Sicherheitsgesetze, Erweiterung der Kompetenzen des Bundesnachrichtendienstes, Aufbau einer Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich für Spähsoftware, Einsatz von Trojanern, Speicherung von Fluggastdaten, Datenzugriff für BND, Bundesamt für Verfassungsschutz und MAD - und weitere sind geplant.

Kennen Sie Alexa? Während sich der "Smart Speaker und sprachgesteuerte, internetbasierte intelligente persönliche Assistent" (Wikipedia) in private Wohnungen einnistet und intimste Bereiche auszuforschen vermag, will Bundesinnenminister Horst Seehofer die Daten den Geheimdiensten zugänglich machen und verwerten. Dazu passt der "Bericht über die Umsetzung des Aktionsplanes gegen Desinformation", den die EU-Kommission vorgelegt hat. Damit entsteht laut dem Journalisten und Verleger Hannes Hofbauer eine EU-weit aktive Zensurbehörde, die den Feind natürlich im Osten verortet. Es gehe primär um die Durchsetzung der EU-Sicht auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und die rechtzeitige Ausschaltung kritischer Meinungen.

Es ist offenkundig: Der Anspruch der wankenden Vormacht des Westens auf Weltherrschaft und die imperialen Ambitionen einer innerlich zerrissenen EU, die wirtschaftliche Interessen (billige Rohstoffe, Absatzmärkte, Handelswege) mit militärischer Macht durchzusetzen gedenkt, machen die Welt unsicher. Sie zerstören ungeheuer viel an materiellen Gütern, an sozialen Werten des Zusammenlebens, an seelischen Kräften und Gefühlen wie Empathie und Mitgefühl. Weil die Normverletzung international die Regel geworden ist, Menschenrechte missachtet werden und die NATO das Völkerrecht ersetzen soll, herrschen sie mit Angst, Drohungen, Krieg und Terror. Wenn die USA Iran mit Auslöschung droht, denken da die Verantwortlichen eigentlich daran, dass dort 80 Millionen Menschen leben?

Der Machtelite ist es gelungen, "Sicherheit" auf Militär, Polizei und Geheimdienste zu reduzieren. Dabei gehören zu Sicherheit im Alltag der Menschen auch die soziale Sicherheit, das Gefühl von Vertrauen und Wertschätzung, die Freiheit von Ausbeutung und Unterdrückung. Die Erzählung von mehr Sicherheit soll den Kern der imperialen Macht verhüllen: die Herrschaft über Mensch und Natur. "Vernetzte Sicherheit" ist seit 2006 das Leitbild deutscher Sicherheitspolitik. Danach sind alle militärischen, polizeilichen und politischen Bemühungen zu bündeln. Für welche Ziele? Wer soll vor wem geschützt werden? Wenn es kritischen, selbstbewussten und empathischen Menschen nicht gelingt, die Spirale der Aufrüstung zu durchbrechen und Alternativen lebbar zu machen, droht die Eskalation der Gewalt und des Schreckens.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 14/2019 vom 8. Juli 2019, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2019

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