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DIE ROTE HILFE/002: Zeitung der Roten Hilfe e.V. 1.2009


Die Rote Hilfe 1.2009
Zeitung der Roten Hilfe e.V.


INHALT

EDITORIAL

IN EIGENER SACHE
Geld her! Dafür brauchen wir euer Geld - ausgewählte Unterstützungsfälle
Miethaie zu Fischstäbchen
Christian Klar ist frei
"Der Berliner Boulevard hat die Jagdsaison auf Christian Klar eröffnet"
fuer christian ...

SCHWERPUNKT: MILITÄR IM INNEREN
Vernetzte Sicherheit? - Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren
Bundesregierung will Grundgesetz ändern, um Armee im Inneren einsetzen zu können
Die Landeskommandos - Vernetzung von Faschisten, Rechtskonservativen und Militaristen
Polizeistaat, Ausnahmezustand oder Kriegsrecht?
Soziale Bewegungen gegen die "globale Sicherheitsarchitektur"
"Hoffen wir, dass der Faschismus nicht wieder auflebt"
Make NATO history

REPRESSION
Ein Kammerspiel in 24 Akten
Geheimdienstliche Langzeit-Beobachtung nach 38 Jahren eingestellt
Gefährliche Entgrenzung
Wahlkampfmunition für Hamburgs Rechte
"Klettern gefährdet den Atomstaat"
Die zivile Todesstrafe
Der Preis der Freiheit
Folter: Nicht salon-, aber gerichtssaalfähig?
Früchte vom verbotenen Baum? Kolumne von Ulla Jelpke
Anzeigen gegen Bremer Polizisten
Warum wir Strafanzeigen gegen Polizisten unterstützen
Heiligabend mit der Hamburger Bischöfin

GET CONNECTED
Sicherheit in Zeiten des Spin
Brief von Daniel
Die Gefangenenbetreuung an der Basis organisieren!
Wie schreibe ich Gefangenen?

AZADI

INTERNATIONALES
Freiheit für Mumia Abu-Jamal - die letzte Phase hat begonnen
Rassismus - ein wesentlicher Bestandteil der US-Geschichte und des US-Rechtssystems
Jederzeit und überall: Fingerabdrücke von jedermann
Leserbrief: "Unwahr und sektiererisch"

REZENSION
Deutsche Karrieren - die Kontinuität der Verfolgung der Linken
Paolo Neri kommt in die BRD

Zum Titelbild

Wenn es nach den Regierenden geht, soll die Bundeswehr immer öfter im Inneren eingesetzt werden. Befremdlich nicht nur auf den ersten Blick, könnten Soldaten in nicht allzu ferner Zukunft zum Alltagsbild gehören - auf den Straßen, in den Gerichten, auf den Marktplätzen.

Raute

EDITORIAL

Liebe Genossinnen und Genossen, Liebe Leserinnen und Leser,

ihr haltet die neueste Ausgabe der Rote-Hilfe-Zeitung in Händen, der Schwerpunkt dieser Ausgabe beschäftigt sich mit der Militarisierung der Innenpolitik. Uns haben zu diesem Thema viele Artikel und Einschätzungen aus dem gesamten Spektrum der Linken erreicht. Vielen Dank! Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen ... und den einen oder anderen nachdenklichen Moment.

Dass wir nicht alle Meinungen und Analysen teilen müssen, um sie hier in der RHZ zu veröffentlichen, ist euch wohl bekannt. Dass Artikel des Öfteren auch für Unmut sorgen, könnt ihr zumindest ab und an vermuten. So veröffentlichen wir in dieser Ausgabe den Leserbrief von Florian aus Berlin, der uns seine Kritik am Artikel "Irlands republikanische Gefangene und der politische Status" aus der RHZ 04/08 wissen lässt. Und auch hier gilt, dass wir weder am Artikel der Wiener Genossinnen und Genossen, noch am Leserbrief von Florian alles richtig und wichtig finden. Ein wichtiges Kriterium für eine Veröffentlichung in der RHZ ist unserer Meinung nach auch, ob Artikel Diskussionen vorantreiben können. Und das, so stellen wir fest, gilt offensichtlich sowohl für den Artikel von Republican Sinn Fein aus Wien als auch für Florians Leserbrief.

Auch ein anderer Artikel sorgte für Verärgerung - "Die Kriminalisierung der Tierrechtsbewegung als Testfeld für Repression", veröffentlicht ebenfalls in der 04/08. Hier kritisierte uns allerdings die Autorin selbst: "Es geht vor allem um das Bildmaterial und die Bildunterschriften, die meinem Text beigefügt worden sind und die, wie ich meine, den ganzen Text ins Lächerliche ziehen. Es ging mir in diesem Artikel in keinem Fall um die Politik der Tierrechte im Allgemeinen noch die der ALF im Besonderen. Es ging mir darum darzustellen, mit welchen Mitteln der Staat diese Bewegung bekämpft und welche nachhaltigen Auswirkungen diese Kriminalisierung auch auf andere Bewegungen und weltweit hat." Wir teilen ihre Kritik zwar nicht in allen Teilen, sind aber für ihren Brief sehr dankbar - denn wie sollen wir die RHZ verbessern, wenn wir nicht wissen was ihr über uns denkt? Lasst uns eure Meinung wissen!

Entschuldigen möchten wir uns abschließend bei Uli und Traute - eine Bildunterschrift im Artikel "Gebirgsjäger vs. VVN/BdA" aus der RHZ 04/08 ist uns leider völlig missraten, deshalb ein ehrliches "Entschuldigung!" von hier!

Das Schwerpunktthema der nächsten Ausgabe heißt "Repression gegen migrantische Linke". Wir bitten auch hierzu um eure Artikel und Beiträge bis zum Redaktionsschluss am 11. April.

Rote, solidarische Grüße
euer Redaktionskollektiv


*


90 Jahre Revolution in Bayern

München, 16. Februar 1919: "Der Militarismus erwacht wieder - Nieder mit ihm! Eine Woche vor der Ermordung Kurt Eisners durch den Leutnant Graf Arco demonstrieren Tausende für die Revolution. Arco gehört zum Kreis der antisemitisch-nationalistischen Thule-Gesellschaft.

Im Mai 1919 wird die bayerische Räterepublik durch Freikorps- und Reichswehrverbände niedergeschlagen. Tausende Menschen fallen dem Weißen Terror zum Opfer.

Raute

IN EIGENER SACHE

Geld her!

Insgesamt wurden 19.061,08 Euro an Unterstützungsgeldern bewilligt.

Auf der letzten Sitzung des Bundesvorstandes wurden 41 Unterstützungsfälle behandelt. Bei 34 wurde der Regelsatz (50 Prozent auf die anfallenden Kosten) beschlossen, eine allgemeine Zusage auf Unterstützung gegeben oder ein Vorschuss gewährt. Drei wurden vertagt. In zwei Fällen wurde auf Antrag die Unterstützung auf 100 Prozent erhöht, drei Fälle wurden vertagt. Drei Fälle wurden abgelehnt. In einem Fall erfolgte eine Kürzung des Regelsatzes um 10 Prozent.

Immer wieder erreichen uns auch Dankesschreiben. Aus einem möchten wir hier einmal zitieren: "Hiermit möchte ich mich für eure finanzielle Unterstützung zu den Anwaltskosten und für das solidarische da sein (in wohl für jeden schweren Situationen) danken! Dass ich bei euch ein offenes Ohr für dieses Problem gefunden habe, zeigt mir, das ich nicht alleine mit so einer Sache gelassen werde und dass Solidarität nicht nur irgend ein Wort ist, sondern eine Losung, die Mensch noch lebt."

Hinweise zur Stellung eines Unterstützungsantrages und zu den Kriterien der Unterstützung findet ihr unter:

www.rote-hilfe.de/infos_hilfe/unterstuetzungsantrag

Raute

Antifaschismus

- Am 1. September 2006 sollen mehrere Personen einen Wahlkampfstand der "Republikaner" zur Berliner Abgeordnetenwahl demoliert und die Betreiber verletzt haben. Ein daraufhin wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung angeklagter Genosse wurde zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt. Daneben sind Anwalts- und Gerichtskosten entstanden, so dass sich die Summe insgesamt auf 2479,50 Euro beläuft. Die Rote Hilfe übernimmt die Hälfte der Kosten.

- Bei einer Gegendemo anlässlich des NPD-Aufmarsches vom 22. September 2007 in Düren gab es den Versuch, Polizeiabsperrungen zu überwinden, um den Nazi-Aufmarsch zu blockieren. In dieser Situation forderte ein Antifaschist vom Lautsprecherwagen aus die "Bullen" auf, "jede Provokation zu unterlassen". Aufgrund des Begriffs "Bulle" wurde er wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 900 Euro verurteilt, daneben entstanden Gerichts- und Anwaltskosten. Es wurde eine Unterstützung in Höhe von 50 Prozent beschlossen.

- In Bayreuth fand am 27. Juni 2008 eine Demo gegen eine geplante NPD-Kundgebung statt. Einem Gegendemonstranten wurde vorgeworfen, sich mittels Sonnenbrille, Kapuzenpulli und Mütze vermummt zu haben. Gegen den darauf ergangenen Strafbefehl wurde Einspruch eingelegt. Dadurch konnte die Strafe um zwei Drittel auf 150 Euro zuzüglich Gerichtskosten in Höhe von 67 Euro reduziert werden. Die Hälfte der Kosten wird von der Roten Hilfe übernommen.

- Gegen den Betreiber eines antifaschistischen Nachrichtenportals wurde wegen der Veröffentlichung von Kundendaten von Personen, die bei Naziversänden im Internet bestellen, ermittelt. Zwei Klagen aus dem Nazispektrum richteten sich gegen den Genossen. Nach langem Zögern der Staatsanwaltschaft wurden die Verfahren eingestellt. Die Rote Hilfe unterstützt den Antragsteller bei den entstandenen Anwaltskosten mit 181,58 Euro.

- Für den 2. Juni 2007 meldete die NPD in Schwerin einen Aufmarsch an, der sich gegen den G8-Gipfel richtete. Sowohl der Aufmarsch als auch eine antifaschistische Gegendemo wurden verboten. Erlaubt waren jedoch Versammlungen der SPD und eines Bürgerbündnisses. Der Betroffene wurde an jenem Tag auf dem Weg in die Innenstadt von Polizeibeamten kontrolliert. Weil er ein schwarzes Tuch um den Hals trug, wurde ein Verfahren wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz eingeleitet. Er habe auf dem Weg zu einer Versammlung "Gegenstände, die geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt sind, die Feststellung der Identität zu verhindern" mit sich geführt. Wegen dieser "Ordnungswidrigkeit" sollte er eine Geldbuße von 100 Euro zahlen. Sein Anwalt machte in einem Schreiben an die Ordnungsbehörde deutlich, dass es dafür gar keine Rechtsgrundlage gab: Da die antifaschistische Demonstration verboten war und gar nicht stattfand, konnte der Betroffene gar keinen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz begehen. Außerdem machte er deutlich, dass das Mitführen eines Halstuches allein ohne weitere Anhaltspunkte nicht ausreicht, den Tatbestand zu erfüllen. Es reiche nicht aus, dass ein Gegenstand dafür geeignet sei, sich zu vermummen, der Betroffene müsse diesen Gegenstand auch dazu bestimmt haben. Dass der Betroffene das Tuch um den Hals hatte und sich von den Polizeibeamten kontrollieren ließ und seinen Personalausweis vorzeigte mache deutlich, dass er das Halstuch offensichtlich nicht zum Zwecke der Verhinderung einer Identitätsfeststellung bei sich führte. Das Verfahren wurde schließlich eingestellt und die Rote Hilfe übernahm 50 Prozent der Anwaltsrechnung, die insgesamt 577,15 Euro betrug.


Antikapitalismus/Soziale "Freiräume"

- Im März 2007 wurde das autonome Jugendhaus "Ungdomshuset" in Kopenhagen geräumt. Auch ein benachbartes Wohnprojekt wurde "vorsorglich" geräumt. Gegen die sich im Gebäude aufhaltenden Personen wurden wahllos wegen verschiedener Straftaten ermittelt. Unter den Beschuldigten befand sich auch eine Genossin aus Hamburg, der Landfriedensbruch vorgeworfen wurde. Das Verfahren wurde eingestellt, die Rote Hilfe übernimmt 182,67 Euro der Verteidigerkosten.

- Am 7. Mai 2007 wurde das Berliner Hausprojekt "Köpi" versteigert. Dagegen wurde unter anderem mit einer Besetzung eines Grundstückes in der Nähe protestiert. Das Gelände wurde von der Polizei umstellt, die Anwesenden kontrolliert und abfotografiert. Gegen alle wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Hausfriedensbruch eingeleitet. Einer der Betroffenen wandte sich an die Rote Hilfe, da er zunächst einen Strafbefehl über 600 Euro erhalten hatte, gegen den er mit Hilfe seines Anwaltes Widerspruch einlegte. Daraufhin wurde das Verfahren sang- und klanglos eingestellt. Die Rote Hilfe überwies 74,38 Euro Zuschuss zu den Anwaltskosten von 148,75 Euro.


Antimilitarismus

Ein totaler Kriegsdienstverweigerer bekam nach 14 Jahren auf der Flucht nun sein Urteil. Der Antragsteller konnte dem Kreiswehrersatzamt nach seiner Musterung von 1994 bis 2000 durch das Fehlen eines festen Wohnsitzes entgehen. Nach Anmeldung eines Wohnsitzes kontaktierte ihn die Behörde zwar, ergriff jedoch keine weiteren Maßnahmen. Als der Totalverweigerer auf einer Demonstration in Belgien festgenommen wurde, wurde er unter Auflagen freigelassen: Er musste sich zwei Mal wöchentlich bei der Polizei melden und durfte die BRD nicht verlassen. Kurze Zeit später tauchte der Antragsteller wieder unter. Fünf Jahre später wurde er erneut festgenommen und wiederum unter Auflagen und gegen Kaution freigelassen. Statt erneut unterzutauchen erschien er zu seinem Prozess, wo er wegen "Fernbleiben von der Truppe" zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, die in Arbeitsstunden umgewandelt werden konnte. Die Rote Hilfe unterstützt den Antrag mit 720,02 Euro.


§ 129a/b

Für das Verfahren gegen Mustafa Atalay wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Organisation hat die Rote Hilfe einen Zuschuss von 3519,50 Euro für die Kosten des Kopierens beziehungsweise Einscannens der rund 240 Ordner mit Gerichtsakten bewilligt.

Raute

IN EIGENER SACHE

Miethaie zu Fischstäbchen!

Warum wir um Spenden für ein Rote-Hilfe-Haus bitten

Es ist in der Geschichte der Roten Hilfe zwar keine neue Frage, doch für die jüngere Historie einer Organisation, deren Basis sich nicht gerade in stolzen Eigenheimbesitzerinnen manifestiert, bleibt es provokant: Braucht die Rote Hilfe ein eigenes Haus? Ist es notwendig, Gelder der Roten Hilfe in ein solches Projekt zu investieren?

Nach langen Debatten in der Organisation und auf der Bundesdelegiertenkonferenz 2008 sind wir zum Ergebnis gekommen, dass wir dies gemeinsam anpacken möchten.

Zwei Hauptargumente seien genannt:

1. Mitgliedsbeiträge sollen nicht für hohe Mietzahlungen verwendet werden

Wir haben den Taschenrechner zur Hand genommen und festgestellt, dass es sich für eine Organisation wie die Rote Hilfe, die auch in 30 oder 50 Jahren noch existieren soll, durchaus lohnt, statt Miete zu zahlen in ein eigenes Haus zu investieren. So bleiben Mittel der Roten Hilfe durch die Immobilie erhalten, und nach vollständiger Finanzierung können bisherige Mietzahlungen nach Abzug der Instandhaltungskosten in politische Projekte gesteckt werden. Wir gewinnen dabei alle.

2. Mehr Freiheit in eigenen Gemäuern

Durch ein eigenes Gebäude sind viele Dinge auf einmal denkbar, die bisher als Wunschdenken bezeichnet werden konnten. Neben einer endlich größeren Geschäftsstelle und Übernachtungsräumen für Gäste, die dann im Unterschied zu jetzt auch mal duschen könnten, gibt es noch viele weitere Ideen. Vom Kneipenkollektiv über einen neuen Ort für das Archiv bis hin zu einer Kombination mit einem alternativen Wohnprojekt und Gruppenräumen für andere linke Projekte in Göttingen ist vieles vorstellbar. Zum Beispiel auch eine Nutzung der Hauswände für aktuelle politische Kampagnen der Roten Hilfe.

Wir möchten bei der Finanzierung dieser Idee eines deutlich klarstellen: Geld, das der Roten Hilfe gespendet oder durch Mitgliedsbeiträge eingenommen wird, ist für die Antirepressionsarbeit und politische Kampagnen bestimmt. Dies muss auch so bleiben, hier soll deswegen nicht gekürzt werden. Wir möchten mit diesem Spendenaufruf einen Auftakt zu einer längeren Solidaritätsaktion für einen Hauskauf setzen.

Wir möchten Euch hiermit aufrufen, die Idee eines Rote-Hilfe-Hauses zu unterstützen und Euch durch eine Spende daran zu beteiligen.

Natürlich muss das auch ein bisschen Spaß machen, daher haben wir uns etwas überlegt: Wir prämieren eine Spende ab gewisser Höhe mit kleinen Pflastersteinen.

• Wer 75 Euro spendet, erhält den bronzenen Pflasterstein samt Urkunde.
• Wer 150 Euro spendet, erhält den silbernen Pflasterstein samt Urkunde.
• Wer 500 Euro spendet, erhält den goldenen Pflasterstein samt Urkunde.

Es grüßt
die Rote Baukolonne


Spendenkonto der Roten Hilfe e.V.
Kto-Nr.: 1911 00462, BLZ: 440 100 46
Postbank Dortmund
Stichwort: "Miethaie zu Fischstäbchen"

Raute

IN EIGENER SACHE

Christian Klar ist frei

Am Freitag, den 19. Dezember 2008, wurde Christian Klar nach mehr als 26 Jahren Haft aus der Justizvollzugsanstalt Bruchsal entlassen. Er war nach jahrelanger Suche am 16. November 1982 festgenommen und seitdem "unter Verschluss" gehalten worden. 1992 wurde er unter anderem wegen angeblicher Beteiligung an den Morden an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, an Bankier Jürgen Ponto und an Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt, die aus sechs lebenslangen Einzelfreiheitsstrafen und so genannten zeitigen Freiheitsstrafen von 15, 14 und zwölf Jahren gebildet worden war.

Die Rote Hilfe hat seit vielen Jahren die längst überfällige Freilassung der verbliebenen Gefangenen aus der "Rote Armee Fraktion" (RAF) gefordert. Dass diese Forderung nicht durchsetzbar war, zeigt nicht nur eine Niederlage der Solidaritätsbewegung. Es offenbart auch die Tatsache, dass der Umgang mit den Gefangenen aus der RAF bis zum heutigen Tag, mehr als zehn Jahre nach ihrer Selbstauflösung, von einem staatlichen Rachebedürfnis geprägt ist. Insbesondere Christian Klar ist als Symbolfigur für den Aufbruch der Stadtguerillagruppen in den 1970er Jahren abgestraft worden, er war länger inhaftiert als irgendein anderer Gefangener aus der RAF.

Die rechtsstaatlichen Sonderbehandlungen, die den ehemaligen und vermeintlichen Mitgliedern der Roten Armee Fraktion zuteil wurden, dämpfen die Freude allerdings erheblich. Gekaufte KronzeugInnen, verschwundene, unter Verschluss gehaltene oder vernichtete Beweise und Dokumente, ausgehebelte VerteidigerInnenrechte und Sondergesetze machten und machen diese Verfahren zur offensichtlichen Farce. Der Terrorparagraph 129a erübrigte in den meisten Fällen jeden individuellen Tatnachweis. Allen Mitgliedern der RAF wurden regelmäßig sämtliche während ihrer Mitgliedschaft begangenen Taten zur Last gelegt. Den auf dem Gewaltmonopol beruhenden bürgerlichen Rechtsstaat wurmte es besonders, dass einige Angeklagte, darunter Christian Klar, nicht zu justizgefälligen Reuebekundungen bereit waren. Erst 2007 war Christian aufgrund antikapitalistischer Bekundungen auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz von Bundespräsident Köhler die Unterschrift unter ein so genanntes Gnadengesuch verweigert worden.

Die Rote Hilfe, nicht nur der Bundesvorstand, sondern alle Ortgruppen, Gremien und Mitglieder, wünschen Christian Klar einen guten Start ins Leben außerhalb der Knäste. Bedanken möchten wir uns bei seinem Anwalt Dr. Schneider für die unermüdliche Arbeit, die er geleistet hat, und bei all jenen, die sich jahrelang für die Freilassungsforderung eingesetzt haben und dabei sehr solidarisch miteinander umgegangen sind.

Der Kampf gegen die politische Justiz und für die Freiheit der politischen Gefangenen ist aber keineswegs überflüssig geworden. So sitzt mit Birgit Hogefeld ein weiteres Mitglied der RAF im Gefängnis, in Stammheim findet zurzeit ein absurdes 129b-Verfahren gegen türkische Exil-Linke statt und in Berlin müssen sich aktuell drei Genossen wegen einer vermuteten Mitgliedschaft in der "militanten gruppe" verantworten. Unsere Solidarität bleibt unteilbar:

Angeklagt sind wenige, gemeint sind wir alle!

Die Rote Hilfe e.V. fordert auch weiterhin:

Weg mit den Gesinnungsparagraphen 129a und 129b!
Freiheit für alle politischen Gefangenen!


*


"Der Berliner Boulevard hat die Jagdsaison auf Christian Klar eröffnet"

Wolfgang, Gefangenen Info

Nach 26 Jahren und einem Monat ist Christian Klar endlich seit Freitag, den 19. Dezember 2008 wieder auf freiem Fuß. Von hier aus wünschen wir Christian alles Gute!

Zur Presseerklärung der Roten Hilfe anlässlich seiner Freilassung ist noch zu sagen, dass wir den Begriff "Mord" lieber durch "Tötung" ersetzt hätten.

Christian war zwar von den RAF-Gefangenen mit 26 Jahren am längsten ohne Unterbrechung inhaftiert, aber Brigitte Mohnhaupt war neben den 24 Jahren auch schon in den siebziger Jahren über vier Jahre eingeknastet. Weggeschlossen war sie also seit insgesamt über 28 Jahren. Auf Christian hat der "Berliner Boulevard die Jagdsaison eröffnet", wie die junge Welt am 10. Januar schrieb: "Am Freitag, den 9.1. titelte BZ ganzseitig "Klar da! Ex-RAF-Terrorist Christian Klar ist in Berlin angekommen. Er besuchte das BE, das ihm ein Praktikum ermöglichen will". Das Springer-Blatt präsentierte dazu reißerisch "die ersten Fotos nach seiner Freilassung, ...", Bild und Co. legten in ihren Wochenendausgaben nach. Das Ziel ist klar: Klar soll auch nach einem Vierteljahrhundert Knast Gefangener bleiben. "Lebenslänglich unter Aufsicht, auch nach seiner Entlassung aus der JVA Bruchsal (...) soll der 56jährige keine Privatsphäre haben." Auf Grund dieser Hetze verzichtet er auf das Praktikum an dem Theater Berliner Ensemble.

Es ist weiterhin wichtig auf einige Artikel einzugehen, da sich dort weitere Linien von Repression und Widerstandsbekämpfung abzeichnen. In diesen herrschenden Diskurs reiht sich auch das Neue Deutschland (ND) ein, das bekanntlich der Linkspartei nahe steht. "Deutscher Herbst geht zu Ende" titelt das ND vom 25. November. Damit ist wohl gemeint, dass mit Christian das letzte Mitglied, das um 1977 in der RAF organisiert war, nach 26 Jahren endlich aus dem Knast herauskommt. Es wird aber unterschlagen, dass alle Gesetze aus dieser Zeit weiter in Kraft sind.

- Die Paragrafen zur Bekämpfung, Überwachung und Ausforschung des linken Widerstandes § 129 und § 129a sind um den § 129b (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland) erweitert und verschärft worden.

- Gegen radikale Linke gibt es zur Zeit zwei Gerichtsverfahren: Zum einen findet seit September in Berlin das Verfahren gegen drei Männer wegen "Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung mg" (§ 129) statt. Zum anderen wird seit dem Frühjahr gegen fünf türkische migrantische Linke wegen § 129b verhandelt.

- Die Isolationshaftbedingungen: Im ersten Stammheimer Verfahren kamen Gutachter 1975 zum Ergebnis, dass die vier RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe nach der jahrelangen Isolation nicht mehr verhandlungsfähig sind. Die Isolationsfolter wird auch weiße Folter genannt, weil sie keine sichtbaren physischen Spuren am Körper hinterlässt. Sie dient der sensorischen Deprivation und sozialen Isolation, die auf das Aushungern der Seh-, Hör-, Riech-, Geschmacks- und Tastorgane zielt und dadurch zu lebensgefährlichen Zuständen führen kann. Diese Haftbedingungen bestehen weiter und gehen auch heute an keinem der Gefangenen spurlos vorbei. Die Prozesse werden auf Kosten des Lebens von Gefangenen geführt. So findet zum Beispiel in Stammheim ein Prozess gegen den herzkranken und somit haftunfähigen Mustafa Atalay statt.

- Weiterhin sind Sondergerichte beziehungsweise Staatschutzgerichte mit besonders ausgewählten geschulten Richtern ausgestattet, die Verteidigung wird generell benachteiligt wie zum Beispiel durch vorenthaltene Akten, Einschüchterung und Behinderung der Öffentlichkeit durch drakonische Kontrollen.

Wie in fast allen Gazetten findet man im ND davon nichts, stattdessen wird in einem Kommentar die Freilassung als "Stärke des Rechtsstaats" bezeichnet.

Nicht nur die Bild vom 25. November befürchtet, "dass DER (so im Original!) zum Medienstar werden" dürfte. Christians Anwalt Jürgen Schneider hat das jüngst öffentlich dementiert. Aber dieser Angriff gegen Christian zielt gegen jegliche politische Betätigung, an einem Artikel aus dem selben Blatt wird es ein Tag später deutlicher: "Wird Terrorist Klar zur linken Galionsfigur?" Bosbach von der CDU ebenda: "Mir graut davor, (...) dass er demnächst (...) bei Chaotendemos mitmischt."

In Belgien wurde Bertrand Sassoye, ehemaliger Gefangener aus der Stadtguerillagruppe "Kämpfende Kommunistische Zellen" (CCC, Cellules Communistes Combattantes) für sieben Wochen inhaftiert, da er sich weiterhin politisch engagierte: Zum Beispiel als Mitglied für Secours Rouge International. Im Oktober wurde der Gefangene aus der französischen Stadtguerillagruppe Action Directe, Jean-Marc Rouillan, nach einem Interview mit der Zeitung L'Express zurück in den geschlossenen Vollzug verlegt, obwohl er sich schon im offenen Vollzug befand.

Gerade ein gemeinsames Agieren von jungen und alten Linken fürchten die Herrschenden, und das soll perspektivisch hier und europaweit unterbunden werden.

Der Tagesspiegel verlangt in seiner Ausgabe vom 25. November, "nun muss sich auch der Staat der Aufarbeitung stellen". Das hört sich erst einmal gut an, bleibt aber in einem kurzen Satz stecken: "Die BRD, deren Staatsorgane unter Eindruck der mörderischen RAF-Kampagne im Ausnahmezustand waren und bei der Fahndung zumindest zeitweise an den Grenzen der Rechtsstaatlichkeit operierten (...)." Dann geht es aber gleich um die Frage, wer den Generalbundesanwalt Buback erschoss.

Die Fragen, die wir als Linke der herrschenden Klasse stellen, sind natürlich nicht gemeint: Buback war für die Sondergerichte und die verschärften Isolationshaftbedingungen gegen die Gefangenen aus der RAF und anderen militanten Gruppen verantwortlich, die neun inhaftierte nicht überlebten. Hat seine Behörde das jeweils bedauert? Haben sich PolizistInnen von ihren Erschießungen distanziert? Haben sich die Führungsetagen der Dresdner Bank oder von Daimler für ihre Mitarbeit am deutschen Faschismus entschuldigt? Oder für ihre Verstrickungen mit dem damaligen Apartheidregime in Südafrika? Oder Schleyer für seine Teilhabe an der Arisierungspolitik in der besetzten CSR oder später in der BRD für die Aussperrungen streikender Arbeiter? Oder sind die Eliten und ihre Büttel für all ihre Taten angemessen verurteilt worden? Alles Fragen, die nur durch eine starke und emanzipatorische Linke gestellt und beantwortet werden können.


*


fuer christian ...

kein falsches zeugnis gib wider die tyrannen, die toten wie die lebenden. sprich aufrichtig auch gegen die handlanger, helfershelfer a la filbinger in einst schwarz-brauner robe, die unbelehrbar als tragender kitt eines jeden staates, oben schwimmen wie scheiße, uneinsichtig recht haben mit dicken pensionen. bei der leichenrede glaubt sich mancher nachfolger im geiste bedenkenlos plappernd wie immer im recht mittels der macht, der geliehenen, die wir ohnmaechtigen nicht immer wortlos ertrage ...

Roland Schwarzenberger de Aragon (JVA Bruchsal)

Raute

SCHWERPUNKT

Vernetzte Sicherheit? - Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren

Frank Brendle, Informationsstelle Militarisierung e.V.

Wolfgang Schäuble (CDU) ist scheinbar besessen: Seit Jahr und Tag predigt er den Inlandseinsatz der Bundeswehr, vom Objektschutz über die Bekämpfung von Demonstranten bis zum Abschuss "verdächtiger" Zivilflugzeuge. Doch der Bundesinnenminister ist nur der lauteste Vertreter einer Heimatschutz-Fraktion, die das Militär zum innenpolitischen Ordnungsfaktor machen will. Sie redet nicht nur, sondern handelt.

Davon, dass die deutsche Geschichte nur allzu viele und höchst abschreckende Beispiele von militärischen Inlandseinsätzen kennt, ist bemerkenswert wenig die Rede. Dabei war es im 19. Jahrhundert noch Alltag, das Militär als innenpolitisches Hilfsmittel der Herrschenden einzusetzen. "Militair- und Civilbediente sind vorzüglich bestimmt, die Sicherheit, die gute Ordnung, und den Wohlstand des Staats unterhalten und fördern zu helfen", hieß es in Paragraph 1 des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794. Soldaten wurden mangels einer flächendeckenden Polizei gar als Zwangsvollstrecker für simple Verwaltungs- und Gerichtsbeschlüsse verwendet, in Sachsen bis 1868 als Steuereintreiber, in Hessen-Nassau als Wildtreiber.

Im Deutschen Reich ist nach 1871 die Polizei ausgebaut worden, eine strikte Trennung zwischen Militär- und Polizeiaufgaben gab es jedoch nicht. Weiterhin agierten militärisch strukturierte Länder-Gendarmerien im Grenzbereich zwischen Militär und Polizei, und die in den Kolonien stationierten Kaiserlichen Schutztruppen waren für die gesamte Palette der "öffentlichen Sicherheit" zuständig.

Aber auch für die regulären Streitkräfte sah die bismarcksche Reichsverfassung Möglichkeiten zum inneren Einsatz vor. So zum Zwecke des "Staatsschutzes": Nach Artikel 68 konnte der Kaiser, "wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Teil desselben in Kriegszustand" erklären, was bis 1914 zwar nie vollzogen, aber mehrfach erwogen wurde, um gegen Streiks vorzugehen.

Zusätzlich konnten einzelne Länder den so genannten "kleinen Belagerungszustand" verhängen, der einzelne Grundrechte lokal und zeitlich begrenzt suspendierte, etwa in Fällen des Krieges oder des Aufruhrs. Auch damals nahm man es mit dem Gesetz nicht immer genau: Zur Verhängung des "großen" Belagerungszustandes beim Streik 1885 in Bielefeld war Preußen laut Reichsverfassung gar nicht befugt, dennoch wurde die Maßnahme vom preußischen Staatsministerium gebilligt.


Streikbekämpfung

Von größerer praktischer Bedeutung waren polizeiliche Verwendungen außerhalb des Staatsnotstandes. Den Anlass bildeten fast immer Streiks und Arbeiterproteste. So marschierten im Juni 1871 frisch von den französischen Schlachtfeldern kommende Ulanen nach Oberschlesien, um den Streik von 3000 Bergabeitern in Königshütte niederzuschlagen. Laut damaliger Presse haben sie "mit staunenswerter Gewandtheit und Bravour" die Straßen "gesäubert" und dabei sieben Arbeiter erschossen.

1872 fanden Streiks im Essener und Oberhausen-Mühlheimer Revier statt, mit denen unter anderem der Achtstundentag gefordert wurde - ein Fall fürs Militär. Im gleichen Jahr gab es in Berlin Proteste gegen die miserablen Wohnungsbedingungen, auch diese wurden mit Militär eingedämmt. 1876 gingen zwei Kompanien Infanterie und eine Kavallerie-Abteilung gegen demonstrierende Landarbeiter in Ostpreußen vor, 1885 wurde wegen "öffentlicher Zusammenrottungen" und "Widerstand" durch Arbeiter der Belagerungszustand über Bielefeld verhängt. 1887 marschierte Infanterie gegen Bergleute bei Osnabrück auf, 1889 erschoss das Militär mehrere Arbeiter an der Ruhr, wo sich an der bis dahin größten Streikbewegung im Deutschen Reich über 100.000 Arbeiter beteiligten, die Achtstundentag und Arbeiterausschüsse forderten. Eine Arbeiterdelegation wurde von Kaiser Wilhelm II. mit den Worten bedroht, er werde "alles über den Haufen schießen lassen", falls die Streikenden in Verbindung mit der SPD stünden. Unter dem Kommando des späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg marschierten Ende 1909 Soldaten bei einem Streik im Mansfelder Gebiet auf. Offiziell hieß es zur Begründung solcher Einsätze stets, das Militär wolle sich keinesfalls in Arbeitskämpfe einmischen, sondern lediglich Produktionsanlagen und Streikbrecher vor Gewalttätern "schützen".

Eine parlamentarische Kontrolle gab es weder für Militäreinsätze im In- noch im Ausland. Das Militärbudget wurde vom Reichstag beschlossen, aber dieses Kontrollmittel entschärfte er selbst, indem er es gleich für mehrere Jahre verabschiedete. Außerdem wurde die Zuständigkeit für das Militär weitgehend vom preußischen Kriegsminister auf den vom Kaiser kontrollierten Großen Generalstab übertragen. Damit gab es niemanden, der dem Reichstag Rede und Antwort stehen musste.


Polizeiaufgaben

Neben den eher außerordentlichen Anti-Streik-Einsätzen erfüllten Soldaten auch reguläre polizeiliche Aufgaben, solange die Polizei noch nicht flächendeckend aufgebaut war. Dazu gehörte Objektschutz, in Baden wurden beispielsweise die Paläste des Großherzogs, die Münzprägeanstalt, die Filialen der Reichsbank und auch Strafanstalten von Soldaten bewacht - also die Machtbasen der Obrigkeit (heute "kritische Infrastruktur" genannt).

In Städten, die über eine Militärgarnison verfügten, wachten Soldaten im Rahmen des Garnisonswachdienstes über die Sicherheit der ganzen Stadt. Das war an sich nicht verfassungsgemäß, weil Soldaten nur zeitweise auf konkrete Anforderung der zivilen Behörden solche Aufgaben erledigen durften, es wurde aber aus Zweckmäßigkeitsgründen einfach gemacht. Auch das muss man bis heute bedenken, wenn man über den Stellenwert juristischer Regelungen redet. Je mehr allerdings die zivile Polizei aufgebaut wurde, desto mehr erschien den Zeitgenossen diese Form des militärischen Regiments "befremdlich".

Die damals geübte Kritik war, ähnlich wie heute, sachbezogen: Soldaten, vor allem Wehrpflichtige, seien für Polizeiaufgaben nicht ausreichend qualifiziert. Offenbar haben sie vor allem bei der Bekämpfung der Prostitution versagt, und generell ist ein übermäßig hartes Vorgehen beklagt worden. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist die so genannte Zabern-Affäre Ende November 1913. In der elsässischen Stadt hatte ein Leutnant durch grobe Beleidigung elsässischer Rekruten heftige Proteste der Bevölkerung provoziert. Die Heeresgarnison besetzte daraufhin mehrere Tage lang gegen den Protest des Gemeinderates die Stadt und nahm Zivilisten fest. Dieses eigenmächtige Verhalten rief heftige Proteste in der Öffentlichkeit hervor. Der Kaiser bekräftigte daraufhin in einer "Allerhöchsten Dienstvorschrift über den Waffengebrauch des Militairs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen" vom März 1914, das Militär dürfe außer zur Eigensicherung nur eingreifen, wenn die Polizeikräfte nicht ausreichten und die Zivilbehörden den Militäreinsatz anforderten.


"Vorbereitung zum Bürgerkrieg"

Völlig neuartig in der deutschen Geschichte war es, dass das Grundgesetz der BRD Inlandseinsätze komplett untersagte. Selbst nachdem 1956 die Bundeswehr aufgestellt wurde, bestimmte der damalige Artikel 143: "Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Artikel 79 erfüllt", das heißt ein Gesetz, das seinerseits verfassungsändernd ist. Solange das fehlte, war jegliche obrigkeitliche Tätigkeit der Bundeswehr im Inland untersagt. Das zeugt vom damals herrschenden Misstrauen und der Furcht davor, das Militär könne zu einer Belastung "der demokratischen Entwicklung unseres Volkes werden", wie der CDU-Abgeordnete Georg Kliesing im Oktober 1955 ausführte.

Dennoch beauftragte der Hamburger Innensenator und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) während der Sturmflut im Jahr 1962 die Bundeswehr, gegen Plünderer vorzugehen und den Verkehr zu lenken. Schmidt erklärte später: "Wir waren damals durchaus in dem Bewusstsein, gegen Artikel 143 zu verstoßen". Dennoch gab es keine öffentliche Kritik.

Der Sprung zu den Regelungen, die heute noch gelten, geschah 1968. Im Rahmen der Notstandsgesetze beschloss die Große Koalition aus SPD und CDU/CSU eine Verfassungsänderung, die dem Militär Einsätze zur "Hilfe" bei Katastrophen erlaubte. Zu den heftigsten Kritikern gehörte damals der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Werner Kuhlmann, der vor dem Bundestags-Rechtsausschuss ausführte: "Die Gefahr steckt doch auch hier darin: Sobald es darum geht, Bundeswehreinheiten hoheitsrechtliche Aufgaben zu übertragen, taucht doch sofort die Frage der Bewaffnung auf. (...) Ich meine, wir sollten einen ganz klaren Trennstrich ziehen und dafür sorgen, dass in Fällen der Naturkatastrophen und bei schweren Unglücksfällen die Bundeswehr (...) durchaus eingesetzt werden kann, aber nicht mit Waffen und ohne hoheitsrechtliche Aufgaben." Kuhlmann verwies auf die Gefahr der Gewöhnung. Je mehr Inlandseinsätze es gebe, desto größer werde die Missbrauchsmöglichkeit und die Gefahr, dass "unter dem Deckmantel der Legalität" ein Staatsstreich unternommen werde. Deswegen müsse "jeder, auch jeder Soldat, (...) zweifelsfrei wissen, dass Bundeswehreinheiten, die in innere Angelegenheiten eingreifen, die Verfassung brechen."

Der Verfassungsrechtler Helmut Ridder warnte: "Die Zurüstung der Streitkräfte auf einen sogenannten Polizeieinsatz ist - wenn an den Repressiv-Polizeieinsatz gedacht ist - Vorbereitung zum Bürgerkrieg." Befürchtungen, allzu weite Befugnisse der Bundeswehr könnten das "demokratische Kräftegleichgewicht" stören, gab es bis hinein in die Regierungsparteien. Daher wurden die Militärkompetenzen relativ eng gehalten.

Zentral an den neuen Regelungen, die heute noch gelten, ist der Artikel 87a des Grundgesetzes, der Inlandseinsätze sowohl im Krieg als auch im Frieden zulässt. Im Spannungs- und Verteidigungsfall - die hier nur kurz gestreift werden - können Soldaten zivile Objekte bewachen, "soweit" dies zur Verteidigung notwendig ist. Wie auch schon im Kaiserreich und der Weimarer Republik soll das Militär bei Bedarf revolutionäre Bestrebungen niederschlagen (bei "Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Bundes"), jedoch nur subsidiär, das heißt wenn die Polizeikräfte nicht ausreichen (GG-Artikel 87a Absatz 3 und 4).

Ansonsten gilt kategorisch: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, sofern dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt" (Artikel 87a, Absatz 2). Es genügt mithin kein einfaches Gesetz und schon gar nicht eine schlichte Regierungsverordnung, sondern es wird explizit eine Verfassungsregelung verlangt - ein "Ausdruck der Besorgnis, die Bundeswehr könnte als innenpolitisches Machtinstrument missbraucht werden."

Eine solche Genehmigung enthält Artikel 35 Absatz 2. Die Bundeswehr kann zur "Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall" herangezogen werden und polizeiähnliche Maßnahmen durchführen, soweit es zur Erfüllung dieser Hilfe notwendig ist. Denkbar ist also, dass Soldaten den Verkehr lenken, Straßen absperren oder Platzverweise aussprechen, um Hilfsmaterial rasch ans Ziel bringen zu können - sofern die Polizei dazu nicht in der Lage ist (subsidiär). Ein Vorgehen gegen Plünderer wäre hiervon nicht gedeckt, außer wenn es unmittelbar darauf gerichtet ist, die Hilfe durchzuführen. Erforderlich ist in der Regel ein Hilfeersuchen des Bundeslandes, das, anders als im Kaiserreich, das Oberkommando behält. Rechtlich möglich, aber bisher nicht erfolgt, ist ein vom Bund angeordneter Einsatz, wenn mehrere Bundesländer gleichzeitig betroffen sind. Die in Artikel 35 Absatz 1 vorgesehene Amtshilfe, das heißt die technische und logistische Unterstützung anderer Behörden, verleiht der Bundeswehr hingegen keine polizeilichen Befugnisse.


Bundeswehr im Inneren

Anfang der 1990er Jahre hat die Bundeswehr mit den Auslandseinsätzen begonnen, und für Schäuble ist der Inlandseinsatz die logische Konsequenz. Ende 1993 stellte er in einem Brief an die CDU-Mitglieder die rhetorische Frage, "ob die Bundeswehr nicht unter streng zu definierenden Voraussetzungen auch bei größeren Sicherheitsbedrohungen im Innern - wie die Armeen aller anderen zivilisierten Staaten - notfalls zur Verfügung stehen sollte"; er dachte dabei an Castor-Transporte, Chaos-Tage und die Abwehr von Flüchtlingen.

Damals sind die Argumente entwickelt worden, die heute gang und gäbe sind: "Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit", sagte der damalige Verteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) am 14. Januar 1994 im Bundestag, und Johannes Gerster, Fraktions-Vize der Union, meinte, die Bundeswehr müsse das "Überschwappen" von Kriminellen und Terroristen verhindern. Konsensfähig war das damals noch nicht. Selbst in der Union gingen viele auf Distanz, und Rudolf Scharping von der SPD, der spätere Verteidigungsminister, verglich die Schäuble-Vorstellungen mit dem spanischen Franco-Regime. Doch Schäuble hatte sein Thema gefunden und prophezeite: "Das Thema wird so lange auf der Tagesordnung bleiben, bis es in dem Sinne gelöst wird, den ich vorgeschlagen habe."

Schon der Begriff "Krieg gegen den Terrorismus" als solcher zeigt eine ungeheure Ausdehnung des Bereichs, für den Militär zuständig sein soll. Terrorismusbekämpfung ist klassischerweise eine Aufgabe der Polizei und nicht des Militärs, und sie wird mit den Vorgaben der Polizeigesetze und der Strafprozessordnung erfüllt. Dabei gelten, jedenfalls rechtstheoretisch, die Unschuldsvermutung, das Verhältnismäßigkeitsgebot und so weiter. Einen "Krieg" hingegen führt normalerweise eine Armee gegen eine andere Armee oder gegen Aufständische.

Doch solche Trennungen sollen nicht mehr gelten. Die Trennung zwischen Militär und Polizei, zwischen innerer und äußerer Sicherheit, auch die zwischen Polizei und Geheimdiensten - all das wird mit Hilfe des neu eingeführten Stichworts von der Vernetzten Sicherheit über den Haufen geworfen. Dieser Schlüsselbegriff taucht mittlerweile in praktisch allen strategischen Papieren auf und soll dazu dienen, die Aufrüstung der Staatsmacht zu legitimieren. Gemeint ist damit: Sicherheit zu gewährleisten ist nicht Sache voneinander strikt getrennter Institutionen, sondern eine gesamtgesellschaftliche, ja globalisierte Aufgabe, die ressortübergreifend, also unter Inanspruchnahme sowohl militärischer als auch ziviler Mittel erfüllt werden muss. Das schließt es aus, Staats- oder andere Grenzen als Zuständigkeitsgrenzen zu akzeptieren.

Im Weißbuch der Bundeswehr heißt es unter "Vernetzte Sicherheit": Sicherheit könne "weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz (...) in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen". Diese Strukturen umfassen, so heißt es weiter, "neben den klassischen Feldern der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik unter anderem die Bereiche Wirtschaft, Umwelt, Finanz-, Bildungs- und Sozialpolitik." Man kann das kürzer ausdrücken: Praktisch alle Politikbereiche, alle Ressorts sollen ihren Beitrag zur Sicherheit leisten und dabei mit dem Militär kooperieren. So wie es in Kriegszeiten immer schon war.


Von der Verteidigung zum Schutz

Was auffällt, ist zunächst, dass der Begriff "Sicherheit" ganz offensichtlich den Begriff der Verteidigung abgelöst hat. Das Weißbuch bestätigt eindrücklich, dass es um Verteidigung gar nicht mehr geht; es wirft implizit all jenen, die das Militär auf Territorialverteidigung reduziert wissen wollen vor, nicht die aktuellen Erfordernisse zu verstehen.

Eine der Zeitschriften, in der diese Erfordernisse erklärt, um nicht zu sagen, geschaffen werden, ist die "Europäische Sicherheit". Sie ist ein halboffizielles Blatt, das qua Impressum mit der bundeswehreigenen Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) kooperiert und in dem regelmäßig hochrangige Ministeriumsvertreter schreiben. Diese Monatszeitschrift hat sich zur Aufgabe gestellt, "unsere Sicherheitspolitik, die nicht allein als Verteidigung mit Streitkräften zu verstehen ist, in sämtlichen komplexen und komplizierten Zusammenhängen zu beschreiben". Sicherheitspolitik ist nicht allein Verteidigung mit Streitkräften, sondern eben eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das muss geradezu darauf hinauslaufen, der Bundeswehr ein Mitspracherecht in ausnahmslos allen gesellschaftlichen Bereichen zu geben.

In der August-Ausgabe 2007 hat ein Angehöriger der Bundeswehr-Akademie für Information und Kommunikation (AIK) einen Artikel publiziert, der schon fast idealtypisch zusammenfasst, was denn die neuen Aufgaben und der neue Stellenwert der Bundeswehr sein solle. (Es sei kurz darauf hingewiesen, dass das Al K die Nachfolgerin der Akademie für Psychologische Verteidigung ist. Dementsprechend ist ihre wichtigste Aufgabe, in der Bevölkerung "Informationsarbeit" zu leisten, sprich: Begründungen für die Militärpolitik zu liefern.) Der Autor Stephan Böckenförde spricht von einem "sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel von Verteidigung zu Schutz". Er bestätigt, dass die Gefahren heute nicht mehr in einer möglichen Verletzung der Staatsgrenzen durch einen militärischen Gegner bestehen. Stattdessen hätten wir es mit neuen Gegnern zu tun, die sich die "Verletzlichkeit" unserer technisierten und globalisierten Gesellschaft zunutze machen wollten.

Aus diesem Denkansatz ergeben sich folgende Konsequenzen: Erstens gibt es keine festgelegten bzw. begrenzenden Orte mehr - Landesgrenzen sind irrelevant. Vielmehr sollen "Bedrohungen" dort bekämpft werden, wo sie vermutet werden oder wo sie entstehen könnten. Hierzu hat BAKS-Präsident Rudolf Adam in einer Rede ausgeführt: "Deutschland ist aufgrund seiner intensiven internationalen Verflechtungen verwundbarer als die meisten anderen Länder vergleichbarer Größe. Wer Deutschland verwunden will, muss nicht in Deutschland selbst zuschlagen. Es sind nicht nur Botschaften - wie in Stockholm; - deutsche Soldaten deutsche Investitionen, deutsche Touristen - wie in Algerien, deutsche Facharbeiter - wie neulich im Irak - können Ziel von Anschlägen werden. Verkehrsrouten können blockiert, Flugzeuge entführt werden. Und der Zugang zu lebenswichtigen Rohstoffen - wie etwa Erdöl oder Erdgas - kann wegbrechen, weil Produzenten nicht mehr lieferfähig oder lieferwillig sind." So flexibel und grenzenlos wie die Gefahren soll dann auch die deutsche Sicherheitspolitik sein. So wird die Hälfte aller Schifffahrtsrouten zum konkreten und die ganze Welt zum potentiellen Einsatzgebiet erklärt.

Zweitens gibt es keine festgelegten Zeiten mehr. "Es geht längst nicht mehr darum, punktuell auf Krisen zu reagieren. Wir müssen langfristig Krisenprävention und Krisennachsorge betreiben", erklärt der Akademiechef Adam. Böckenförde, der all das teilt, beklagt sich: Gewaltmaßnahmen seien leider "höchst umstritten, was die Frage der militärischen Prävention so schwierig macht".

Keine Orte, keine Zeiten und drittens auch keinen klaren Gegner: Es geht nicht darum, wer an der Landesgrenze eine Bedrohung darstellen könnte, sondern wer mit welchen Fähigkeiten schädliche Wirkungen anrichten könne. Paradebeispiel ist wiederum der 11. September. Auch hier gibt es deutliche Parallelen zu innenpolitischen Debatten, man denke an den Besuch von "Terrorcamps", wo keineswegs konkrete Anschläge vorbereitet, aber Kenntnisse erlangt werden, die potentiell zur Bedrohung werden könnten. Ins Blickfeld soll aber schlechthin jede nur denkbare Bedrohung fallen: Reduziert man sich ausschließlich auf den "Schutz vor" und die "Wirkung von Gefährdungen" - also egal, was man eigentlich über denjenigen weiß, von dem sie (vielleicht) ausgehen - dann, so Böckenförde, "öffnet sich der Blick für die Bedrohungen allgemein bis hin zu Natur- und Umweltkatastrophen".

Wer für all diese Bedrohungen verantwortlich sein könnte - wer weiß. Böckenförde spricht von einem neuen Sicherheitsbewusstsein, dass auch solche Bedrohungen beinhaltet, die "indirekt, mittelbar durch Folgeeffekte und zeitverzögert eine Bedrohung für die eigene Sicherheit darstellen könnten". Das klingt ungefähr genauso allgemein wie die Vorschriften, wer alles in der Anti-Terror-Datei zu speichern sei. Im Zweifel herrscht der Generalverdacht. Insgesamt, so Böckenförde, müsste ein "funktionales Denken" in der Sicherheitspolitik Einzug halten. "Funktional" muss hier als Gegensatz zu "rechtlich begrenzt" gelesen werden. Und selbstverständlich sei es vor dem Hintergrund all der diffusen Bedrohungen "sicherheitspolitisch unsinnig, die Streitkräfte exklusiv von der Erfüllung bestimmter Aufgaben" im Inneren fernzuhalten.


Heimatschutz

In dieser Logik liegt das von der Union geforderte "Gesamtkonzept Sicherheit". Ein Beschluss der CDU/CSU-Fraktion vom März 2004 sieht "eine starke Heimatschutzkomponente" aus 25.000 Soldaten vor, als Teil der "Vorsorge gegen asymmetrische und terroristische Bedrohungen". Die Union will dafür bis zu 50 "Regionalbasen" mit jeweils bis zu 500 Soldaten bereithalten, die mit Reservisten auf bis zu 5000 Soldaten "aufwachsen" können. Als Aufgaben dieser Heimatschutzverbände nennt das Fraktionspapier unter anderem die "Bereitstellung personeller Ressourcen für Bewachung, Kontrolle und Sicherung im Fall besonderer Gefahrenlagen" und "im Rahmen der Abschreckung die Bewachung von Liegenschaften und kritischer Infrastruktur", also klassische Polizeiaufgaben.

Der Begriff "kritische Infrastruktur" umfasst alles, was den Kapitalismus ausmacht: Kraftwerke, Banken, Kommunikationsanlagen, Verkehrswege, Staudämme und so weiter. Im Ausland schießt die Bundeswehr den Zugang zu Ressourcen frei, und im Inland stellt sie sich vor die Einrichtungen, die zur Profit bringenden Verarbeitung dieser Ressourcen notwendig sind. Die Union argumentiert, dies seien "allesamt Fähigkeiten, die die Bundeswehr im Spannungs- und Verteidigungsfall in großem Umfang leisten müsste" und im Ausland tatsächlich schon leiste. Wer darauf beharrt, es mache einen Unterschied, ob nach Besatzungsrecht serbische Klöster im Kosovo bewacht werden oder mitten im Frieden der Hauptbahnhof in Berlin, dem ruft die Union entgegen: "Es muss endlich Schluss sein mit ideologischen Blockaden".

Einige der Unions-Forderungen sind bereits umgesetzt: in Form der so genannten Zivil-Militärischen Zusammenarbeit/Inland (ZMZ/I), die Teil des "Heimatschutzes" ist. Es werden zwar nicht 25.000 Heimatschützer aufgestellt, aber im vorigen Jahr sind Dienstposten für immerhin 5500 Reservisten geschaffen worden. Die Bundeswehr hat sich an die zivilen Verwaltungsstrukturen angeglichen und das ganze Land mit Kommandos überzogen. Auf der unteren Ebene - Landkreise und kreisfreie Städte - agieren 426 Kreisverbindungskommandos, in den Regierungsbezirken 31 Bezirksverbindungskommandos. Sie bestehen aus jeweils zwölf Reservisten (angestrebt: vier Stabsoffiziere, drei Offiziere und drei Feldwebel), an ihrer Spitze jeweils ein "Beauftragter der Bundeswehr für ZMZ". Dieser hat die Aufgabe, bereits im "Grundbetrieb" den engen Kontakt mit den örtlichen zivilen Katastrophenschutzstäben zu pflegen und ein Büro in der entsprechenden Behörde (Rathaus, Landratsamt, Regierungspräsidium) zu beziehen. Bei Bedarf werden dann die anderen elf Reservisten aktiviert. Sie werden unterstützt durch 32 mobile Regionale Planungs- und Unterstützungstrupps, die zu Beginn von Einsätzen eine Art Starthilfe leisten sollen.

Auf Landesebene sind Landeskommandos in den Hauptstädten der 16 Bundesländer installiert worden, in denen bis zu 90 Soldaten arbeiten. Die Oberhoheit hat das Streitkräfteunterstützungskommando in Köln. Bis zum Jahr 2010 sollen noch 16 ZMZ-Stützpunkte mit besonderen Kapazitäten in den Bereichen Pionierwesen, Sanitätsdienst und ABC-Abwehr hinzukommen, wofür weitere 5000 Reservistendienstposten vorgesehen sind.


Bundesweite Militär-Zivil-Kommandos

Diese Entwicklung läuft auf einen zentralisierten Katastrophenschutz-Apparat unter militärischem Oberkommando hinaus. "Führung aus einer Hand durch die erprobte Struktur der Bundeswehr" fordert das Konzept der Unionsfraktion. Der erste Schritt zur Zentralisierung ist bereits mit dem vor drei Jahren gegründeten Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) erfolgt, das zur zentralen Regulierungsstelle werden soll. Es arbeitet eng mit der Bundeswehr zusammen, in seiner Vierteljahreszeitschrift Homeland Security" räsonieren regelmäßig Generäle über "Sicherheits"-Fragen und Grundgesetzänderungen. Das Amt bietet gemeinsame Schulungen für ziviles und militärisches Personal und führt die länderübergreifende Katastrophenschutzübungen LÜKEX durch. Im vorigen November wurde eine Grippe-Pandemie simuliert. Diese Übung, so freute sich Schäuble in der abschließenden Presseerklärung, sei ein wichtiger "Beitrag zur Weiterentwicklung der gesamtstaatlichen Schutzmaßnahmen" gewesen, natürlich unter Beteiligung der ZMZ-Kommandos.

Die Länder treiben die Militarisierung des Katastrophenschutzes voran. Dabei droht die Subsidiarität auf der Strecke zu bleiben. Denn wenn die Bundeswehrpermanent in die Arbeit der Zivilbehörden eingebunden ist, steigt unwillkürlich ihr Einfluss. Zivilbehörden neigen bereits jetzt dazu - schon aus Kostengründen - sich zu sehr aufs Militär zu verlassen. Im Bericht eines Arbeitskreises der Innenministerkonferenz vom April 2005 wird gefordert, die Bundeswehr solle ihr gesamtes Potential "für den Schutz der eigenen Bevölkerung im Inland" einsetzen, und zwar dauerhaft und eigenverantwortlich. Und die Bundesrats-AG "Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung" forderte im März 2006, zwecks "Planungssicherheit" dürfe die Unterstützung des Heimatschutzes "nicht nur 'subsidiär' erfolgen, sie muss vielmehr zu einer originären Aufgabe der Bundeswehr werden."

Nun nutzt die Bundeswehr gerne die Möglichkeit zum Imagegewinn, wenn sie sich als professioneller Akteur auf allen Ebenen in Szene setzen kann. Doch derart festlegen wie von den Ländern gefordert will sie sich nicht und erklärt: Für Katastrophenschutz im Inland stehen nur jene Kapazitäten zur Verfügung, "die nicht im Auslandseinsatz gebunden sind." Das zeigt, wie riskant der Kurs der Bundesländer ist, beim Katastrophenschutz aufs Militär zu bauen und die warnenden Stimmen aus Feuerwehr und anderen Hilfsorganisationen zu ignorieren.


"Lineare Eskalation" zum Staatsnotstand

Dass Katastrophenschutzleistungen das Ende der Fahnenstange sein werden, sollte man nicht annehmen. Die ZMZ-Beauftragten der Bundeswehr erhalten regelmäßige Fortbildungen an der Schule für Feldjäger und Stabsdienst der Bundeswehr, unter anderem im Bereich "Alarmierung und Mobilmachung". Es werden jetzt Strukturen geschaffen, die ausbaufähig sind, um von Hilfseinsätzen zur Repression überzugehen - ähnlich wie bei den Auslandseinsätzen, die mit vorgeschobenen "Hilfs"-Argumenten begannen und bald schon in völkerrechtswidrige Angriffskriege umschlugen.

Der eigentliche Sinn von Grundgesetz-Artikel 87a war, das Einnisten des Militärs in zivile Strukturen zu verhindern. Aber diese alten Regelungen entsprechen offenbar nicht mehr den Bedürfnissen eines Krieg führenden Staates. Wohin die Reise beim Heimatschutz geht, wird vom ehemaligen Bundeswehrjuristen Roman Schmidt-Radefeldt in den "Unterrichtsblättern für die Bundeswehrverwaltung" folgendermaßen beschrieben: Das Konzept umfasse "einen Schnittmengenbereich zwischen militärischer Verteidigung, zivilem Katastrophenschutz, polizeilicher Gefahrenabwehr und - in einer linearen Eskalation - dem inneren Staatsnotstand".

Geht es nach Schäuble und Jung, dann wird dieser Staatsnotstand künftig infolge von Terroranschlägen erklärt. Die Union will den Verteidigungsfall in der Verfassung neu definieren. Das Vorhaben geht zurück auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das im Februar 2006 das Luftsicherheitsgesetz verworfen hatte, weit der Abschuss eines "verdächtigen" Zivilflugzeuges die Menschenwürde der Passagiere verletzen würde. Das will die Union mit der Änderung des Artikel 87a Grundgesetz ändern: Nicht mehr nur bei einem kriegerischen Angriff, sondern bereits bei "sonstigen Angriffen auf die Grundlagen des Gemeinwesens" soll der Verteidigungsfall erklärt werden. In diesem Zusammenhang hat Schäuble von einem "Quasi-Verteidigungsfall" gesprochen. Dieser erlaubt es seiner Logik nach, auch Zivilisten gezielt zu töten. Wie sehr "funktionales" Denken darauf hinausläuft, zentrale Grundwerte in Frage zu stellen, zeigt Schäubles Behauptung: "Ob völkerrechtlicher Angriff oder innerstaatliches Verbrechen, ob Kombattant oder Krimineller, ob Krieg oder Frieden: Die überkommenen Begriffe verlieren ihre Trennschärfe und damit ihre Relevanz." Da ist es nur konsequent, dass Kriegsminister Jung im vorigen September ankündigte, im Zweifelsfall auch ohne Rechtsgrundlage seinen "Alarmrotten" den Abschussbefehl zu erteilen.

Der SPD gehen diese Notstandspläne zu weit. Sie möchte es lieber dabei belassen, das polizeiliche Instrumentarium um militärische Komponenten zu erweitern. Der Hebel soll eine Änderung der Katastrophenhilfe-Bestimmungen des Artikel 35 sein, welcher der Bundeswehr künftig den Einsatz spezifisch militärischer Mittel - also etwa Jagdflugzeuge - erlauben soll. Das wäre ein kleinerer Schritt, aber in die gleiche Richtung.


Amtshilfe und Einsatz

Eine Ahnung vom anvisierten Staatsnotstand vermittelte der Polizei- und Bundeswehreinsatz in Heiligendamm. Wie im "kleinen Belagerungszustand" des Kaiserreiches waren Grundrechte ausgesetzt und die Bundeswehr nahm teils direkte, teils indirekte Polizeimaßnahmen wahr. Die Regierung beharrt indes darauf, die Truppe habe nur technisch-logistische Amtshilfe geleistet, aber keinen "Einsatz" im Sinne des Artikel 87a. Damit steht die Frage im Raum: Was eigentlich unterscheidet einen "Einsatz" von "Amtshilfe"? Im Grundgesetz fehlen Definitionen, aber es gibt wichtige Hinweise in der Fachliteratur.

Die meisten Juristen unterscheiden zwischen einer so genannten "schlichten Verwendung" (Amtshilfe) und dem Ausüben einer "obrigkeitlichen" Tätigkeit (Einsatz). Sobald Soldaten Aufgaben erfüllen, die sonst Polizisten vorbehalten sind, sie also gegenüber zivilen Bürgern Zwang anwenden, Leisten sie einen Einsatz. Sandsäcke zum Deich bringen ist eine "schlichte Verwendung", werden jedoch Passanten daran gehindert, den Deich zu betreten, handelt es sich um einen Einsatz. Oder: Aufklärungstornados nach vermissten Kindern suchen zu lassen, ist erlaubt, die Beteiligung der Bundeswehr an der Suche nach Straftätern aber nicht, weil Festnahmen nur die Polizei vornehmen darf.

Nicht nur, wenn die Bundeswehr selbst in Bürgerrechte eingreift, ist sie im Einsatz, sondern bereits dann, wenn sie die Polizei in einer Form unterstützt, die es dieser erst möglich macht, obrigkeitlich zu handeln.

Diese Einsicht ist nicht neu. Bereits in den 80er Jahren lösten Berichte über ein "Amtshilfeabkommen" zwischen Bundeswehr und bayerischer Polizei betreffend der Demonstrationen an der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf heftige Kritik aus. Die Völkerrechtler Ralf Jahn und Norbert K. Riedel hielten fest: "Eindeutig Einsatzqualität besitzt die Zurverfügungsstellung von militärischem Gerät einschließlich der sie bedienenden Soldaten, wie z. B. Aufklärungsflüge von Bundeswehrhubschraubern bei Demonstrationen. Hier wird militärisches 'know-how' in Anspruch genommen, das seinem Zweck nach innenpolitisch nicht neutral ist." Auch in der Zeitschrift "Bundeswehrverwaltung" ist damals die Unterstützung "durch militärtypische Mittel, wie z. B. Hubschrauber, Mannschaftswagen, Spezialfahrzeuge usw." für verfassungswidrig erklärt worden. Die Bundeswehr müsse sich aus inneren Konflikten heraushalten, um nicht "die von ihr erwartete innenpolitische Neutralität dem ganzen Volk gegenüber" zu verlieren. In einer neueren Arbeit bestätigt der Jurist Jan-Peter Fiebig, ein Einsatz sei "gegeben, wenn Soldaten Fahrzeuge, insbesondere Luftfahrzeuge, der Streitkräfte (...) zur optischen Überwachung von Großveranstaltungen und deren Umgebung verwenden und etwaige Aufklärungsergebnisse an die für unmittelbar obrigkeitliches Vorgehen vorgesehenen" Polizeistellen weitergeben.

Das lässt sich mühelos auf den G8-Gipfel übertragen. 14 mal stiegen die Aufklärungs-Tornados auf, die Polizei konnte sich aus dem Bildmaterial frei bedienen und hat nach offiziellen Angaben 101 Bilder mitgenommen, die meisten von den Protestcamps. Neun Spähpanzer "Fennek" überwachten vor allem nachts mögliche Anfahrtsrouten von Demonstranten und machten bei Verdacht sofort die Polizei aufmerksam. Das macht die Bundeswehr-Tätigkeiten zum Einsatz, für den es - mangels einer Katastrophe - keine Verfassungsgrundlage gab.

Hinzu kommt der Aspekt des so genannten "show of force", also der demonstrativen Präsenz des Militärs. Wenn Soldaten in großen Gruppen auftreten, ist aus Bürgersicht "kein anderer Schluss möglich, als derjenige, dass diese Soldaten dort als Ordnungskräfte eingesetzt sind und zur Aufrechterhaltung der Ordnung (...) notfalls Gewalt und eben auch Waffengewalt anwenden werden", schreibt Fiebig. Das stelle "aufgrund des Eindrucks, der bei den Anwesenden erzeugt wird", die "Ausübung von Zwang" dar.

Ein Blick zurück auf Heiligendamm: Bis zu 640 Feldjäger mit Pistolen oder dem Maschinengewehr G36 waren in der ganzen Region unterwegs, mehrfach in der Nähe der Protestcamps. Dass sich Demonstranten hiervon nichts Gutes versprachen und annehmen mussten, die Feldjäger würden einschreiten, wenn man - trotz Demonstrationsverbot - demonstrieren ginge, liegt auf der Hand, weswegen auch hier ein verfassungswidriger "Einsatz" vorliegt.


Reaktion rüstet sich

Tatsächlich nehmen, wie von der Union behauptet, Soldaten im Ausland bereits Polizeiaufgaben wahr. Feldjägereinheiten üben beharrlich "Crowd and Riot Control", sprich Aufstandsbekämpfung beziehungsweise die Niederschlagung von Demonstrationen. Dazu erhalten sie auch die entsprechende Ausrüstung - Abwehrschilde, Pfefferspray. In Afghanistan sind Feldjäger gar als Ausbilder für afghanische Polizisten tätig.

Den umgekehrten Weg gibt es auch: Polizisten verstärkt in Kriegs- und Krisengebiete zu schicken. Die EU hat schon vor Langem die Schaffung eines 5000 Mann starken gemeinsamen Pools aus Polizeibeamten beschlossen, aus dem bei Bedarf rekrutiert wird, um militärische Einsätze zu flankieren. Parallel dazu wurde die European Gendarmerie Force gegründet, ein Verbund aus paramilitärischen Einheiten, der explizit solche Operationen durchführt, die irgendwo zwischen Kriegs- und Polizeieinsätzen liegen. Deutsche Polizisten beschränken sich bislang noch überwiegend darauf, Ausbildungsmaßnahmen und sonstige beratende Tätigkeiten auszuführen, aber auch dabei zeichnen sich Änderungen ab. Die Bundespolizei baut Hundertschaften für Auslandseinsätze auf, der Chef der Gewerkschaft der Polizei hat angeregt, dafür auch schwere MGs anzuschaffen, und in der Bundesregierung wird überlegt, Bundespolizisten künftig zum Auslandseinsatz verpflichten zu können, statt wie bisher nur auf Freiwillige setzen zu müssen.

Seit mindestens fünf Jahren stellt die deutsche Militärdoktrin Inlandseinsätze in Aussicht - "im Rahmen der geltenden Gesetze", den die Regierungsparteien erweitern wollen. Bis sie soweit sind, laborieren Innen- und Verteidigungsminister am Rand der Verfassung beziehungsweise übertreten ihn, wie in Heiligendamm. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren ein rasanter Anstieg der "Amtshilfeleistungen" zu verzeichnen: Von einem pro Jahr auf zehn, wie die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Ulla Jelpke (LINKE) mitteilte. Wenn auch die parlamentarische Kontrolle heute besser ausgeprägt ist als im Kaiserreich und der Weimarer Republik, effektiv kann man sie kaum nennen. Beim G8-Gipfel wurde der Bundestag nach Strich und Faden getäuscht, und "Amtshilfe"-Einsätze sind weder zustimmungs- noch berichtspflichtig.

Wozu das Ganze? Bangen die Herrschenden tatsächlich um ihre Macht? Die Frage ist müßig. Als 1968 die Notstandsgesetze eingeführt wurden, sprachen die Konservativen ständig von möglichen Aufständen und Revolutionen. Sie gaben zu, dass es keinerlei Anzeichen dafür gebe, aber man könne ja nie wissen und müsse stets vorbereitet sein. Auch heute ist eine Revolution nicht in Sicht, doch die Hetztiraden, denen wochenlang die Lokführer der GDL ausgesetzt waren, erinnern daran, dass Militäreinsätze in Deutschland immer schon im Dienste der Reaktion standen.

Die Linken hatten 1968 vor allem Sorge vor einem möglichen Putsch der Bundeswehr. Heute geht die größte Gefahr für die Demokratie wohl von Regierungspolitikern aus, die bei jeder Gelegenheit zentrale Grundrechte in Frage stellen und sich auf eine Generalität stützen können, die Befehle völlig kritiklos ausführt.

Schließlich sei die Bundeskanzlerin zitiert, die einige Monate vor ihrem Amtsantritt, auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2005, klare Worte gesagt hat: "Die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen zunehmend. Internationale Einsätze unter Beteiligung Deutschlands und Heimatschutz sowie Einsatz der Bundeswehr im Innern sind deshalb zwei Seiten ein und derselben Medaille."

Raute

SCHWERPUNKT

Bundesregierung will Grundgesetz ändern, um Armee im Inneren einsetzen zu können

www.german-foreign-policy.com

Die Bundesregierung legalisiert den "Einsatz militärischer Mittel" im Inland. Wie das Innen- und das Justizministerium am 6. Oktober 2008 übereinstimmend mitteilten, haben sich die Regierungsparteien in Berlin auf eine entsprechende Änderung von Artikel 35 des Grundgesetzes geeinigt. Demnach wird die Bundeswehr künftig im Falle nicht näher definierter "besonders schwerer Unglücksfälle" auf deutschem Territorium operieren dürfen - zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Die Intervention kann vom Bundeskabinett, bei "Eile" vom Verteidigungsminister allein angeordnet werden. Damit treibt Berlin die Entgrenzung militärischer, polizeilicher und geheimdienstlicher Aktivitäten voran, die bislang vor allem bei Polizeien und Geheimdiensten forciert worden sind. Erst Ende September enthüllten Berichte die Dimension, welche die Zusammenarbeit von Bundeskriminalamt (BKA), Bundespolizei sowie Inlands- und Auslandsgeheimdienst inzwischen erreicht. Auch das BKA-Gesetz, das kürzlich im Bundesrat gescheitert ist, wird wegen Verstoßes gegen das Trennungsgebot scharf kritisiert. Kooperation und umfassende Verschmelzung sämtlicher deutscher Repressionsapparate im In- und Ausland bilden die Grundlage für eine flexible Bekämpfung von Unruhepotenzialen in aller Welt.

Die Bundesregierung bereitet zur Legalisierung von Militäreinsätzen im Inland eine Änderung von Artikel 35 des Grundgesetzes vor. Demnach soll der Artikel, der die Amts- und Katastrophenhilfe regelt, um zwei Absätze ergänzt werden. "Reichen zur Abwehr eines besonders schweren Unglücksfalls polizeiliche Mittel nicht aus, kann die Bundesregierung den Einsatz von Streitkräften mit militärischen Mitteln anordnen", heißt es in dem Gesetzentwurf. Dabei ist Berlin gegenüber den Bundesländern weisungsbefugt. Bei "Gefahr im Verzug" kann der Verteidigungsminister allein über die Militärintervention entscheiden. Berichten zufolge muss der "Unglücksfall" nicht eingetreten sein oder unmittelbar bevorstehen; es genügt, wenn "Indizien" für einen Anschlag vorliegen. Eine Einschränkung der "militärischen Mittel" wird offenbar nicht vorgenommen. Demnach können bei Bedarf sämtliche Waffengattungen, über die die Bundeswehr verfügt, im Inland eingesetzt werden. Ein Parlamentsbeschluss ist nicht nötig.

Mit der Öffnung des deutschen Hoheitsgebietes für Operationen der deutschen Streitkräfte treibt Berlin die Entgrenzung von militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Aktivitäten voran. Die Trennung zwischen innerer und äußerer Repression sei "von gestern", hatte Bundeskanzlerin Merkel bereits im Juli 2007 erklärt. Abgesehen vom Luftsicherheitsgesetz, dessen Bundeswehr-Paragraphen (§ 14 Absatz 3) das Bundesverfassungsgericht vor über zwei Jahren kassierte, kam es in diesem Zusammenhang vor allem zur Kompetenzerweiterung bei den Polizeien. Jüngstes Beispiel ist das BKA-Gesetz, das in Kürze verabschiedet werden soll. Es verleiht dem schon lange auch im Ausland tätigen BKA präventive Kompetenzen, mit denen es "dem Verfassungsschutz ins Gehege kommen kann", warnt der Publizist Dieter Schenk. Zudem hebelt es de facto die Polizeihoheit der Bundesländer aus - mittels weitreichender Rechte bei der sogenannten Gefahrenabwehr (1). Der entstehende Inlands-Repressionsapparat sei deshalb in mehrfacher Hinsicht "verfassungswidrig", kritisieren Abgeordnete der Opposition.

In die zunehmende Entgrenzung polizeilicher und geheimdienstlicher Aktivitäten ist auch die deutsche Auslandsspionage einbezogen. Dies belegt ein Bericht von Report Mainz vom 29. September 2008 über das "Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration" (GASIM). Die Einrichtung, die vor zwei Jahren ihre Tätigkeit aufgenommen hat, dient offiziell der Abwehr unerwünschter Einwanderer. In ihr kooperieren Mitarbeiter von Bundespolizei und BKA mit geheimdienstlichem Personal (Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst). Interne Dokumente sowie Aussagen von Insidern lassen erkennen, wie dort Spionage und Polizeitätigkeit ineinanderfließen. Demnach werden etwa BND-Hinweise "einfach auf den Schreibtischen der Polizei abgelegt", Polizisten recherchieren dann "in den eigenen Datensystemen zu diesen Personen". Selbst "auf vage Verdächtigungen hin", heißt es, "werden auch Deutsche (...) von allen beteiligten Behörden durchleuchtet". Die Kooperation erstreckt sich auch auf operative Maßnahmen. "Das heißt", berichtet ein GASIM-Insider über die gemeinsame Arbeit von Polizei und Diensten, "dort werden Informationen angereichert, Ermittlungsverfahren vorbereitet, teilweise sogar begleitet und mit Polizeidienststellen weitere Ermittlungsschritte geplant."

Der Insider-Bericht über das GASIM verstärkt Befürchtungen, laut denen die polizeilich-geheimdienstliche Kooperation auch im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ, Berlin-Treptow) gegen das Trennungsgebot verstößt. Zudem geraten auch die Grenzen zwischen dem BKA, das im Rahmen von GASIM und GTAZ offiziell mit Inlands- und Auslandsspionage zusammenarbeitet, und dem Militär ins Schwimmen. Der Publizist Dieter Schenk, der mit mehreren kritischen Analysen über das BKA hervorgetreten ist, spricht in seiner jüngsten Publikation von einer "Vereinheitlichung polizeilich-militärischer Ressourcen". Wie Schenk berichtet, hat das BKA im Juni2005 eine Kooperation mit dem Zentrum für Transformation der Bundeswehr vereinbart - um "interdisziplinär vernetzte Analysen über die Ursachen, Ausprägungen, Konsequenzen sowie Bekämpfungsmöglichkeiten von Bedrohungen" zu erstellen. Dabei geht es unter anderem um Aufklärungsbilder von Spionagesatelliten der Bundeswehr, die das BKA "zur Erstellung von Gefährdungsanalysen oder für polizeiliche Überwachungsmaßnahmen" nutzen will.

Während dies offenkundig der Repression im Inland dient, hat der BKA-Präsident auch die Zusammenarbeit mit dem Militär in von Deutschland besetzten Gebieten im Blick. Demnach könnten Polizeikräfte dort die Besatzungstätigkeit der Bundeswehr unterstützen und dabei "Teile der Infrastruktur der Bundeswehr, wie Kommunikationsmittel, Schutzwesten, Transportlogistik nutzen". Insgesamt müssten laut Schenk "polizeiliche und militärische Ressourcen auf dem Feld der strategischen Planung gezielt aufeinander abgestimmt werden". Ähnliches hatte bereits Christian Schmidt (CSU), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesministerium der Verteidigung, verlangt. "Eine betonierte Trennung von äußerer und innerer Sicherheit ist nicht mehr aufrechtzuerhalten", hatte Schmidt schon vor Jahren erklärt; die Polizei müsse bereit sein, künftig "typische Militäraufgaben in Auslandseinsätzen, zum Beispiel auf dem Balkan, wahrzunehmen".

Die Entgrenzung militärischer, polizeilicher und geheimdienstlicher Tätigkeiten, die in den deutschen Besatzungsgebieten erkennbar fortschreitet, schlägt mit dem BKA-Gesetz und mit der Legalisierung militärischer Gewalt im Inland auf deutsches Hoheitsgebiet zurück. Damit wird künftig auch innerhalb Deutschlands möglich, was bislang in Südosteuropa und Afghanistan mit wechselndem Erfolg praktiziert wird: Die flexible Bekämpfung unterschiedlichster Unruhepotenziale auf der Basis geheimdienstlicher Erkenntnisse mit den jeweils adäquat erscheinenden Mitteln - von polizeilichen Instrumenten bis zu schwerem Militärgerät.

Fußnoten:
(1) "Das Bundeskriminalamt kann die Aufgabe der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus wahrnehmen, in denen eine länderübergreifende Gefahr vorliegt." (§ 4a, Absatz 1 BKA-Gesetz).

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SCHWERPUNKT

Die Landeskommandos - Vernetzung von Faschisten,
Rechtskonservativen und Militaristen

ver.di-Arbeitskreis "Aktiv gegen rechts", München

Bereits am 18. April 2007 wurde das Bayerische "Landeskommando für zivilmilitärische Zusammenarbeit" vom damaligen bayerischen Innenminister Günther Beckstein und dem Befehlshaber des Streitkräfte-Unterstützungskommandos, Generalleutnant Kersten Lahl, in der Münchner Residenz feierlich in Dienst gestellt. Wenig später wurden die Landeskommandos in Sachsen-Anhalt, Bremen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Hamburg in Dienst gestellt. Hintergrund ist das Weißbuch der Bundesregierung und die ausführende Initiative des Bundesministeriums für Verteidigung, bis Juni 2007 flächendeckend in allen Bundesländern derartige Kommandogliederungen einzurichten. Diese beispiellose Militarisierung des ganzen Landes sollte bis 30. Juni 2007 installiert sein.

An der Spitze dieser Kommandos stehen "Beauftragte für die Zivil-Militärische Zusammenarbeit" (BeaBwZMZ), denen die Kooperation zwischen zivilen Organisationen und den Streitkräften obliegt. Zudem sollen insgesamt 429 Verbindungskommandos zu Landkreisen und kreisfreien Städten sowie 34 dieser Kommandos auf Bezirksebene eingerichtet werden. Bisher war nur ein so genannter "Beauftragter für regionale Angelegenheiten" in 27 Bezirken und 50 Kreisen für die Zusammenarbeit mit zivilen Stellen wie Polizei, Technischem Hilfswerk (THW) oder Rotem Kreuz abgestellt.

Die neuen Landeskommandos sind ständige Mitglieder der lokalen Krisenstäbe. Auch und gerade Reservisten sollen durch diese gezielt herangezogen werden, damit sie ihre Qualifikationen und Erkenntnisse ihrer zivilen Tätigkeiten einbringen. Neben der Militarisierung der Zivilpersonen zielt die Bundesregierung auf eine Durchdringung ziviler Strukturen (z. B. Krankenhäuser, Forschungseinrichtungen) durch die Bundeswehr. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung strebt eine weitgehende Verschmelzung kriegstechnischer Vorhaben mit Projekten der zivilen Sicherheitstechnik an. Das vom Bundeskabinett verabschiedete "Programm zur zivilen Sicherheitsforschung" stellt bis 2010 zusätzliche Fördergelder in Höhe von 123 Millionen Euro zur Verfügung, im Gegenzug verlangt die Regierung die unmittelbare Bereitstellung ziviler Forschungsergebnisse für die Bundeswehr. Notwendig sei eine "interdisziplinäre Erforschung von Sicherheitslösungen" - so wird in besagtem Programm die beabsichtigte Optimierung militärischer Forschungsvorhaben beschrieben, um vermeintlich notwendige Verbesserungen des Zivilschutzes, die Folgen von Terrorismus, Großunfällen und Naturkatastrophen zu erreichen.

Durch die Einrichtung der "Landeskommandos" soll den Militärs ein "flächendeckendes Beziehungsgeflecht auf- und zwischen allen Führungsebenen" zur Verfügung gestellt werden. In den unteren Ebenen der "Landeskommandos" ist der Einsatz von Bundeswehrreservisten vorgesehen. Ihr zivil erworbenes "Knowhow" nimmt das deutsche Militär bereits bei Auslandseinsätzen in Anspruch: Reservisten bearbeiten mit sechs bis acht Prozent aller eingesetzten Kräfte zivil-militärische Aufgaben. Im Jahr 2006 zum Beispiel haben rund 1.700 Reservisten an besonderen Auslandseinsätzen teilgenommen. "Ihre oftmals zivil erworbenen Qualifikationen sind für die logistische, infrastrukturelle oder administrative Unterstützung unserer Einsatzkontingente von besonderem Wert", erklärte Vizeadmiral Wolfram Küh in einem Interview zur Indienststellung des bayerischen Landeskommandos.

"Beim Inlands-Einsatz der Reservisten in den flächendeckenden zivil-militärischen Kommandos sollen ihre beruflichen Positionen und ihre persönlichen Kontakte genutzt werden", schreibt das Internet-Nachrichtenmagazin German Foreign Policy. Beabsichtigt sei eine regionale Rekrutierung, so dass den militärischen Leitungsstäben detaillierte, örtlich gewonnene Erkenntnisse aus den Operationszonen zukünftiger Notstandsgebiete angeboten werden können: "Man setzt auf Personal, welches in der jeweiligen Region verwurzelt und beheimatet ist." Und: "Gepaart mit militärischer Ausbildung entsteht so ein wertvolles Bindeglied zwischen ziviler Verwaltung und Bundeswehr". Die enge, auch persönliche Bindung der zivilen und militärischen Verantwortlichen gilt den Beteiligten als wichtigstes Element der Zusammenarbeit.

Einen Vorgeschmack darauf, welche "Bindungen" da letztendlich gefestigt werden, gibt das Beispiel des Landeskommandos in Frankfurt/Main. Dessen Führer, Bundeswehr-Oberst Wilhelm F. Hundsdörfer war am 9. November (!) 2006 bei der schlagenden Studentenverbindung "Burschenschaft Arminia" als Referent zum Thema "Neue Wege der Bundeswehr in der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit" zu Gast. Dass Burschenschaften nationalistische, den Militarismus verherrlichende antiemanzipatorische Männerbünde sind, mit teils direkten, teils mittelbaren Kontakten zur Nazi-Szene, wird seit Jahrzehnten von StudierendenvertreterInnen landauf und landab kritisiert.

Die Reservistenszene in Bayern ist sehr heterogen, geriet in der Vergangenheit aber immer wieder in den Fokus antifaschistischer Recherchearbeiten, zum Beispiel die Wehrsportgruppe Süd. Inwiefern direkte oder mittelbare Kontakte zur organisierten Faschistenszene wie NPD, Freien Kameradschaften oder Burschenschaften bestehen, müssen die Recherchen zeigen, wenn klar ist, welche Reservistenverbände in welcher Form in die Kommandogliederung des BmVg eingegliedert werden. Fakt ist, dass die Strategie der Faschisten, sich auf kommunaler Ebene zu verankern, letztendlich die bestehende Tendenz unterstützen wird, dass sich Faschisten, Rechtskonservative und Militaristen mit staatlicher Hilfe besser vernetzen und organisieren können.

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SCHWERPUNKT

Polizeistaat, Ausnahmezustand oder Kriegsrecht?

Im Folgenden die Einleitung der Studie "Polizeistaat, Ausnahmezustand oder Kriegsrecht? - Eine Diskursanalyse zum Einsatz der Bundeswehr im Innern von 2001 bis 2006" der Informationsstelle Militarisierung e.V. Die Studie stammt vom Juni 2007, ist aber nach wie vor aktuell.

Michael Haid, Informationsstelle Militarisierung e.V.


"Innenpolitisch sind die Streitkräfte ein klassisches Instrument der Substituierung und Beendigung politischer Prozesse durch Gewalt" (Kommentar zum Grundgesetz 1989: Art. 87a Rn. 24).

Diese Erkenntnis stammte aus den Erfahrungen des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Sie führte 1968 - als trotzdem die Bundeswehr 1956 aufgestellt worden war - zu einem besonderen Anspruch des Grundgesetzes: Soldaten durften im Innern nur unter ganz bestimmten Umständen tätig werden, ein generelles Verbot existierte allerdings nicht mehr. Diese Regelung ist im Vergleich der EU-15 (bis auf Spanien) einmalig.

Der Bundeswehreinsatz im Innern ist nach den Vorgaben der Rechtsprechung nur im Ausnahmefall zulässig und begründet die Verpflichtung, den Einsatz auf das Äußerste zu begrenzen und beim Wegfall der Erforderlichkeit unverzüglich abzubrechen. Im Zweifel sind die Einsatzmöglichkeiten der Armee außerhalb des Verteidigungsauftrags eng auszulegen und nur als "ultima ratio" anzusehen. Ferner besitzt die Bundeswehr keinesfalls eigenständige Kompetenzen (außer im Spannungs- oder Verteidigungsfall), sondern ist den zivilen Behörden zu- und untergeordnet. Die nachfolgenden Geschehnisse suggerieren ein anderes Bild.

Der Ex-General und brandenburgische CDU-Innenminister Jörg Schönbohm spricht öffentlich von einem "terroristischen Spannungsfall" (2006), in dem sich die Bundesrepublik seit den Anschlägen des 11. Septembers 2001 in New York und Washington befinde. Er skizzierte auf dem europäischen Polizeikongress 2006 das Szenario, dass bei den 1. Mai-Krawallen in Berlin die Bundeswehr eingreifen solle, wenn die Polizei "erschöpft" sei. Nach Gesetzesplänen seines Ministeriums, die Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble erstmals in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung Anfang Januar 2007 vorstellte, vertrat der Minister die Ansicht, die Entführung eines Flugzeugs durch Terroristen löse einen "Quasi-Verteidigungsfall" neben dem "richtigen" Verteidigungsfall (!) aus, der die Anwendung von Kriegsrecht und damit den Einsatz der Bundeswehr im Inland erfordere. Der Berliner Juraprofessor Martin Kutscha befürchtet daher, dass die Bundesrepublik in einen "verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand" und einen "extrakonstitutionellen Kriegszustand" gerate. Das Bundesverfassungsgericht hatte erst im Februar 2006 das so genannte Luftsicherheitsgesetz, mit dem der Abschuss von mutmaßlich durch Terroristen entführten Passagiermaschinen durch die Luftwaffe legalisiert worden war, für verfassungswidrig erklärt.

Diese Ausschnitte aus dem politischen Geschehen wirken zutiefst verstörend, steht doch in Artikel 87a Abs.1 Satz 1 Grundgesetz: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." Dadurch wird die Armee also für die Wahrung der Äußeren und nicht der Inneren Sicherheit für zuständig erklärt. Selbst in einem Reformpapier der Bundeswehr vom Mai 2000 steht noch der Satz zu lesen: "Die Abwehr grenzüberschreitender terroristischer Aktionen und organisierter Kriminalität bleibt in Deutschland auch künftig eine polizeiliche Aufgabe."

Es entsteht ein Bild der politischen Verhältnisse, in denen es anscheinend zur Normalität gehört, militärische Gewalt zur Lösung von innenpolitischen Problemen nicht nur politisch zu fordern (Schönbohm), sondern auch tatsächlich zu realisieren (Schäuble, Luftsicherheitsgesetz). Augenscheinlich lässtsich ein Wandel in der politischen Kultur von einer Tabuisierung des Einsatzes militärischer Gewalt im Innern zu einer Legitimierung beobachten. Unter politischer Kultur ist die Summe der politisch relevanten Einstellungen, Meinungen und Wertorientierungen innerhalb einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen und bezeichnet enger gefasst die in einem Kollektiv feststellbare Verteilung individueller Orientierungen auf politische Objekte.

Die bisherige gesellschaftliche Werteorientierung tabuisierte Bundeswehreinsätze im Inland. Dabeinahm das Argument der schrecklichen Erfahrung in der Vergangenheit mit dem preußischen Militär, der Reichswehr und der Wehrmacht, einen besonderen Stellenwert ein (dieses historische Argument wird in einem gesonderten Abschnitt dieser Arbeit ausführlich behandelt). Der Einsatz der Bundeswehr im Innern wurde "aufgrund historischer Erfahrungen besonders restriktiv geregelt". Diese verfassungsrechtliche Sicherheitsmaßnahme wurde angewandt, da ein Machtzuwachs der Bundeswehr durch (Teil-)Übertragungen des innerstaatlichen Gewaltmonopols als "riskant" galten, "weil er für das Kräftegleichgewicht in der Demokratie als besonders gefährlich angesehen wurde".


Die gesamte Studie kann im Internet heruntergeladen werden unter
http://www.imi-online.de/download/MH-Studie-Kriegszustand.pdf

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SCHWERPUNKT

Soziale Bewegungen gegen die "globale Sicherheitsarchitektur"!

Eine Kritik der Militarisierung sozialer Konflikte

Gipfelsoli

Weltweit nehmen gesellschaftliche Konflikte zu. Jüngste Unruhen wegen Nahrungsmittelpreisen, Proteste gegen steigende Energiepreise, die Klimakrise und eine zunehmende Sorge um Knappheit von Rohstoffen, aber auch immer weniger regulierbare und krisenhafte Finanzmärkte sorgen für ein Gefühl von Unsicherheit. Die G8-Staaten wollen diese Konflikte und die offenkundige Akkumulationskrise der globalen Weltwirtschaft durch marktorientierte Lösungen in den Griff bekommen, um das Wirtschaftswachstum wieder auf Kurs zu bringen. Unter Beschwörung der "Bekämpfung des Terrorismus" wird eine fortschreitende Militarisierung vieler Lebensbereiche vollzogen. Mit neuen Kriegen öffnet sich der Kapitalismus Märkte, sichert Rohstoffe und ihre Transportwege. Kapitalismus und Krieg bedingen einander; wer oder was nicht eingebunden und profitabel gemacht werden kann, wird bekämpft.

Für 2009 kündigen sich sicherheitspolitische Veränderungen an, deren Folgen derzeit kaum abzuschätzen sind. Mit "zivilmilitärischer Zusammenarbeit" verschmelzen innere und äußere Sicherheit zur "gesamtstaatlichen Sicherheitsarchitektur". Sicherheitsbehörden forcieren dafür den Begriff der "Homeland Security", der sich am gleichnamigen Ministerium in den USA, gegründet nach dem 11. September 2001, orientiert. "Homeland Security" (im deutschen Diskurs zum "Nationalen Sicherheitsrat" plädiert die CDU für "vernetzten Heimatschutz") organisiert sich aus Staat, Wirtschaft und Wissenschaft. "Homeland Security" leistet damit einen Beitrag zu einer "globalen Sicherheitsarchitektur" der Industrieländer, in die supranationale Institutionen und multilaterale Bündnisse eingebunden sind.

Anfang April trifft sich die NATO zur Frühjahrstagung in Strasbourg und Kehl. Vom NATO-Gipfel in Bukarest 2008 wurden mehrere Diskussionen auf 2009 vertagt, um dort endgültige Entscheidungen über eine strategische Neuausrichtung der Allianz von gegenwärtig 26 Staaten zu treffen. Ehemalige Stabschefs der NATO (1) haben im April das Diskussionspapier "Towards a Grand Strategy for an Uncertain World" verfaßt, in dem eine umfassende Transformation der NATO befürwortet wird: "Die wichtigste Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, auf das vorbereitet zu sein was sich nicht vorhersagen lässt. (...) Den westlichen Alliierten steht eine lange, andauernde und präventiv zu führende Verteidigung ihrer Gesellschaften und ihrer Lebensart ("way of life") bevor. Deshalb müssen sie Risiken auf Distanz halten, während sie ihre Heimatländer beschützen."

Innere Sicherheit ("Homeland Security") und militärische Interventionen können nicht mehr als getrennt voneinander betrachtet werden und sollen "fusionieren". Einer der strategisch wichtigen Partner hierbei ist neben den USA die EU, die ihre Integration in die globale Marktwirtschaft und ihre offenen Grenzen ohne eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur nicht aufrecht erhalten kann. Das Strategiepapier behauptet eine grundlegende Veränderung von "Bedrohungen, Risiken und Gefahren". Angestrebt wird ein "Umfassender Ansatz" ("Comprehensive Approach"), der eine Koordination von Militär, Außenpolitik, "Homeland Security", Zivilschutz und Entwicklungshilfe vorsieht. Die NATO soll nicht mehr bloß auf Bedrohungen reagieren, sondern Risiken vorhersehen, präventiv militärisch begegnen oder in Eigeninitiative Erstschläge ausführen, um Gefährdungen erst gar nicht entstehen zu lassen.

In die gleiche Stoßrichtung zielen einige europäische InnenministerInnen mit ihren Vorschlägen zur Neugestaltung der EU-Innenpolitik. Die vom deutschen Innenminister Schäuble 2007 initiierte "Future Group" (2) fordert in dem Papier "Freedom, Security, Privacy - European Home Affairs in an Open World" einen gravierenden Kurswechsel europäischer Innenpolitik hin zu "Homeland Security" (obgleich der Begriff ausgespart bleibt). Europa soll "Vorreiter" in der Reaktion auf "Sicherheit, Migration und technologische Herausforderungen" werden. Das Papier setzt die Prioritäten: "Polizeikooperation, Kampf gegen den Terrorismus, Management von Missionen in Drittstaaten, Migration und Asyl sowie Border Management, Zivilschutz, neue Technologien und Informationsnetzwerke."

Alle fünf Jahre beschließt die EU neue Leitlinien für die "Innere Sicherheit" der Mitgliedsstaaten. Nach dem "Tampere-Programm" (1999-2004) und dem "Haager Programm" (2004-2009) sollen in der zweiten Jahreshälfte 2009 unter schwedischer Präsidentschaft mehrere Paradigmenwechsel vollzogen werden. Charakteristisch ist die "Strategische Früherkennung" beziehungsweise "Vorverlagerungsstrategie" als Vorbereitung auf "Bedrohungen", die zwar gegenwärtig nicht real, aber "vorstellbar" sind. Mittels "Risikoanalysen" werden Gefahren projiziert, die eine Aufrüstung innerer Sicherheit und ihre Verzahnung mit Militär, Forschung und Zivilschutz als einzigen Ausweg erscheinen lassen. Wie auch im NATO-Papier gefordert sollen Außen-, Innen-, Verteidigungs- und Entwicklungshilfeministerien zusammenarbeiten, um "Rechtsstaatlichkeit" in "Drittländern" zu sichern und Bedrohungen für Europa zu verhindern: "Das macht Außenbeziehungen zur Priorität für die zukünftige Ausgestaltung europäischer Innenpolitik."

Im Folgenden analysieren wir die Papiere der NATO und "Future Group", um einerseits den radikalen Kurswechsel gegenwärtiger "Sicherheitspolitik" zu erfassen und andererseits dringende gemeinsame Interventionsräume für soziale Bewegungen aufzuzeigen.


"Den Daten-Tsunami in Information verwandeln" - Das EU-Strategiepapier "Freedom, Security, Privacy - European Home Affairs in an open world"(3)

Die im letzten "Haager Programm" festgeschriebenen innenpolitischen Veränderungen sind bereits von vielen EU-Mitgliedsstaaten umgesetzt: Vereinheitlichung der Terrorismus-Gesetzgebung, Vorratsdatenspeicherung, Ausbau bestehender Datenbanken und gemeinsamer Zugriff darauf, grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit, zum Beispiel bei Sportereignissen oder politischen Massenprotesten, "Border Management", Fingerabdrücke bei Antrag auf EU-Visum, ab 2009 biometrische Identifikatoren in neuen Ausweispapieren, Ausbau der Sicherheitsforschung, Zusammenarbeit in Strafsachen, Polizei im Ausland etc. Auf EU-Ebene sind neue Institutionen gegründet bzw. bestehende mit erweiterter Verantwortung versehen worden.

Viele der beschriebenen Regelungen wurden nach dem 11. September 2001 als vorübergehende Maßnahmen im "Kampf gegen den Terrorismus" angekündigt. Heute ist dieser Ausnahmezustand zur Norm geworden und wird weiter verschärft. Als weitere Hauptbedrohung der Grundsätze des "Europäischen Modells" gelten in EU-Papieren Migration und "organisierte Kriminalität". In ihrem Papier "Freedom, Security, Privacy - European Home Affairs in an Open World" macht die "Future Group" drei "horizontale Herausforderungen" für die europäische Sicherheit aus und schlägt zur "Herausbildung von Europas Position in einer globalisierten Welt" vor:

"1. Aufrechterhalten des 'Europäischen Modells' im Bereich europäischer Innenpolitik durch das Balancieren von Mobilität,
  Sicherheit und Privatsphäre.

2. Bewältigen der zunehmenden Abhängigkeit zwischen innerer und äußerer Sicherheit.

3. Gewährleisten eines bestmöglichen Datenflusses innerhalb europaweiter Netzwerke."

Die Veränderungen europäischer Innenpolitik stehen im Zusammenhang der Diskussion um den Lissabon-Vertrag, der die Schaffung EU-übergreifender Organisationen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit vorsieht. Nach dem "Konvergenz-Prinzip" werden zwischenstaatliche Hürden und juristische "Hindernisse" abgebaut, Gesetze "harmonisiert" und "vereinfacht", Ausrüstung und Personal zusammengefasst ("pooling"), Ausbildung standardisiert und die "Interoperabilität" bestehender Systeme angestrebt. Wie auf vielen Ebenen innerhalb der EU sind die Entscheidungsstrukturen des Bereichs "Justiz und Inneres" ("Justice and Home Affairs") undurchsichtig. Als ihr Kernziel wurde im EU-Vertrag "die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" festgelegt.

Zuständig für diesen Bereich ist seit Frühjahr 2009 der "Kommissar für Freiheit, Sicherheit und Recht", Jaques Barrot. Er löste 2008 Franco Frattini ab, der in Italien unter dem neuen Kabinett von Berlusconi Außenminister für die "Forza Italia" wurde. Zusammen mit dem deutschen InnenministerInnen Schäuble hat Frattini eine zentrale Rolle bei der Verschärfung europäischer Sicherheitspolitik gespielt. Im Bereich der Inneren Sicherheit sollen die relativ jungen EU-Institutionen nun noch mehr operative Kompetenzen erhalten, um etwaige Unzufriedenheiten im Inneren unter Kontrolle zu behalten: Die europäische Polizeiakademie CEPOL, die Europäische Gendarmerietruppe EGF, die Polizeiagentur Europol, das "EU-Lage- und Analysezentrum" zur Auswertung nachrichtendienstlicher Informationen (SitCen) oder die Grenzschutzagentur Frontex. Sie sollen Zugriff auf "alle relevanten Informationen" erhalten. In den Mitgliedsstaaten sollen nach deutschem Vorbild "Anti-Terrorismus-Zentren" aufgebaut werden, die Polizei und Nachrichtendienste zusammenfassen und europaweit Informationen tauschen (soweit nationale Interessen durch die Weitergabe nachrichtendienstlicher Erkenntnisse nicht berührt werden). Für alle EU-Polizeibehörden soll ein übergreifendes "Komitee für innere Sicherheit" geschaffen werden. Damit dürfte die Idee eines gemeinsamen "EU-Innenministeriums" ein Stück näher rücken, das bisher mit der Einrichtung des "Fachausschusses COSI" betrieben wurde.

Die Koordination unter den EU-Sicherheitsbehörden wird durch so genannte "Verbindungsbeamte" ("Liaison Officers") abgewickelt, für die in jedem Mitgliedsland Anlaufstellen eingerichtet wurden und die bereits jetzt mit hohen Kompetenzen ausgestattet sind. Die "Future Group" rät, ihr Netzwerk weiter auszubauen und zu stärken. Gemäß der Ideologie von "Homeland Security" wird die innere Sicherheit nicht mehr nur als eine Angelegenheit von Innenpolitik, sondern als gemeinsame Anstrengung von Politik, Militär, Polizei, Zivilschutz, Sicherheitsindustrie, Forschung und Akademien verstanden. Ihre Grenzen "verwischen", "erodieren", seien "intrinsisch voneinander abhängig" und verlangten einen "umfassenden, globalen Ansatz" ("comprehensive global approach"). Dementsprechend verschränken sich die Politikbereiche unter dem Primat von Sicherheit: "Die Gruppe rät dringend, ein gesamtheitliches Konzept zu entwickeln, z. B. Aspekte abdeckend von Entwicklung, Migration, Sicherheit, Wirtschaft, Finanzen, Handel und Außenpolitik, um damit der Europäischen Union zu erlauben eine verantwortliche und glaubwürdige Rolle in internationalen Beziehungen zu spielen."

Als Beitrag zur "globalen Sicherheitsarchitektur" soll innere Sicherheit auch unter verschiedenen Staaten organisiert werden. Hauptaugenmerk liegt auf den USA, mit denen die EU bereits mehrere bilaterale Abkommen geschlossen hat: Datenaustausch Europol, Ausweisung, gegenseitige Hilfe, Passagierdaten, SWIFT-Transaktionen, Container-Sicherheit. "Im Feld von Freiheit, Sicherheit und Recht müssen Aktionen und Maßnahmen einer strikten geographischen Priorisierung und politischer Differenzierung folgen: die Europäische Union hat zuerst ihre grundlegenden strategischen Interessen zu definieren. (...) In einer zweiten Stufe muss die Europäische Union identifizieren, welche Drittländer von vitalem Interesse für eine Kooperation sind". Zu "geographischen Herausforderungen" zählen die "Kandidatenländer", West-Balkan, EU-Nachbarländer, Mittelmeer-Region, Russland, Afrika, Lateinamerika, Afghanistan, Irak und Nachbarstaaten, China und Indien. Die "Future Group" schlussfolgert, dass die "Verwischung der Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit" und eine "Internationalisierung von Konfliktlösung" ein Eingreifen außerhalb der EU "erforderlich" macht. Die aggressive Außenpolitik der EU ist zwar nichts Neues, doch dass InnenministerInnen sie zur Chefsache erheben, markiert eine neue Ära.

21 der 27 EU-Staaten sind Mitglied der NATO (und die meisten von ihnen in den Afghanistan-Krieg involviert). EU-Polizei ist in "Drittländern" zunehmend in militärische Missionen integriert. Die EU-Polizeimission EULEX übernimmt beispielsweise im Kosovo Aufgaben wie Aufstandsbekämpfung, Schutz von Eigentum oder Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Die gemeinsame "Europäische Gendarmerietruppe" (EGF) mit Sitz im italienischen Vicenza soll verstärkt in Auslandsmissionen eingebunden werden. Polizeieinsätze gelten dabei als "zivile Interventionen". Zukünftig sollen alle im Ausland operierenden Kräfte (Militär, Polizei, Diplomatie, Entwicklungshilfe, Zivilschutz, "Einrichtungen der Rechtsstaatlichkeit") bereits im Planungsstadium auf gegenseitige Erkenntnisse zurückgreifen, in gemeinsamen "Mission Situation Centres" operieren und ihre Informationen anderen EU-Behörden zur Verfügung stellen. Potentielle Einsatzgebiete sind zahlreich: "Institutionenbildung, Rechtsstaatlichkeits-Missionen, Wahlen, Demokratisierung, Zivilgesellschaft und humanitäre Hilfe. (...) Die unüberschaubare Bandbreite von Bedrohungen reicht von Kriegssituationen zu terroristischen Anschlägen, organisiertem Verbrechen, gewalttätigen Demonstrationen, natürlichen oder menschengemachten Katastrophen und gewöhnlichen Polizeiaufgaben."

In den Mitgliedsländern, aber auch auf EU-Ebene sollen neue dezentrale Kompetenzzentren" entstehen, um gemeinsame Aufgaben zu bündeln. Zur zunehmenden Verschränkung polizeilicher und geheimdienstlicher Arbeit sollen gemeinsame Überwachungszentren für sämtliche Abhörmaßnahmen der Telekommunikation aufgebaut werden. An den EU-Außengrenzen werden gemeinsame "Police and Customs Cooperation Centres" (PCCC) installiert.

Migration wird von den EU-InnenministerInnen als "inhärentes Phänomen unserer zunehmend globalisierten Gesellschaften und Wirtschaft" definiert. Der wirtschaftliche Aspekt steht dabei im Vordergrund. Demographische Entwicklungen werden besorgt registriert und ein Zuwachs an benötigter Arbeitsmigration prognostiziert. "Legale Migration" soll weiter gestärkt werden, um den Arbeitsmarkt der EU zu versorgen. In der Integrationspolitik sollen "legitime Anforderungen der empfangenden Gesellschaft" berücksichtigt werden. Das Verhältnis von "Angebot und Nachfrage" zwischen EU und Arbeitern aus "Drittländern" soll aber lediglich als Hintertürchen existieren und durch den Markt bestimmt werden: "Die Gruppe rät, dass Mitgliedsstaaten alle Möglichkeiten einer intra-europäischen Migration vollständig ausschöpft."

In "Drittstaaten" sollen EU-Migrationsbehörden installiert werden, "mit Verantwortung zur Erteilung von Visa und damit verbundenen Fragen sowie zur Rekrutierung von Immigranten".

Für die EU soll ein ähnliches "entry-exit"-System wie das ab 12. Januar 2009 in den USA vorgesehene Online-System ESTA ("Electronic System for Travel Authorization") eingesetzt werden, um eine Einreisegenehmigung zu beantragen. Das US-System richtet sich an Touristen und Geschäftsreisende. Mobilität stellt einen zentralen Punkt in Bezug auf Arbeitsmarktpolitik und Tourismus dar und hat damit auch eine sicherheitspolitische Dimension: "Wenn Bürger sich nicht sicher fühlen, ist es höchstwahrscheinlich dass sie überhaupt nicht mehr reisen wollen."

InhaberInnen eines EU-Reisedokumentes soll der Grenzübertritt erleichtert werden: "Ein 'one-stop approach', der alle Checks und Kontrollen die zu verschiedenen Zwecken ausgeführt werden integriert; das heißt: bezogen auf Personen, Güter, Veterinär- und Pflanzenschutz, Verschmutzung, Terrorismus und organisiertes Verbrechen." Hier sollen neue Technologien des "Border Management" zum Einsatz kommen (zum Beispiel biometrische Verfahren, Röntgentechnologie, RFID-Chips). Neben einer Vereinheitlichung der Asylgesetzgebung sollen weitere Anstrengungen im "Kampf gegen illegale Migration" unternommen werden, forciert wird eine "effektive europäische Rückkehrpolitik". Das "Europäische Grenzkontrollsystem" (EUROSUR) soll ausgebaut werden, damit "die Zahl der Drittstaatsangehörigen reduziert wird, die illegal in das Hoheitsgebiet der EU gelangen, indem ein größeres Situationsbewusstsein für die Lage an den Außengrenzen entwickelt und die Reaktionsfähigkeit der Nachrichtendienste und Grenzschutzbehörden verbessert wird". Hierzu sollen bestehende Institutionen und Programme stärker vernetzt werden. Im Mittelpunkt soll dabei die "Grenzschutzagentur Frontex" im Kampf gegen Migration, "organisiertes Verbrechen", Drogenhandel und Terrorismus stehen.

"Der Erfolg der Frontex-Missionen wird geschwächt durch das Fehlen präziser rechtlicher Maßnahmen, z. B. das System der Leitung von Frontex-Maßnahmen bezogen auf z. B. souveräne Aktionen ausgeführt von nationalen Schiffen, Flugzeugen und Verantwortlichkeiten für Flüchtlinge, Asylsuchende und Schiffbrüchige. Hierfür muss der Entwicklung solcher gemeinsamen Regelungen Priorität gegeben werden." Mitgliedsstaaten sollen größere Anstrengungen unternehmen, Frontex mehr Verantwortung bei kurzfristigen "Missionen" zu erlauben, regionale Abteilungen einzurichten oder Technik und Material zur Verfügung zu stellen. Frontex soll nicht nur nationale Grenzschutztruppen ausbilden, sondern sie inspizieren und evaluieren dürfen. Mehr Abschiebungen ("return flights") sollen unter autonomer "Initiative, Organisation und Koordination" von Frontex abgewickelt werden. Angestrebt wird eine gemeinsame "corporate identity" aller EU-Grenztruppen als "European Border Guards". EU-Grenztruppen sollen auch außerhalb der EU operieren, wie etwa zwischen Libyen und Niger beziehungsweise Tschad. Auf See soll ihre Verantwortung auf "territoriale Gewässer betroffener Länder" ausgedehnt werden.

Große Sorge bereitet den InnenministerInnen die Standardisierung von Sicherheitstechnik. Zivile und militärische Forschung wird wie im "European Security Research Programme" (ESRP) zusammengeführt (allein das ESRP hat für 2007-2013 ein Budget von 1,4 Milliarden Euro). Von deutscher Seite wurde das ESRP von Repräsentanten des BKA, der Fraunhofer Gesellschaft sowie den Rüstungskonzernen Siemens, Diehl und EADS auf den Weg gebracht.

Europäische Polizeibehörden ärgern sich über Datenschutz wie die zunehmende Nutzung von Verschlüsselungstechniken in der Telekommunikation (PGP, Skype). Zukünftig sollen Standards entwickelt werden, die den Schnüfflern Abhörmaßnahmen erleichtern sollen. Auch im Bereich Videoüberwachung sollen Systeme vereinheitlicht werden, um technische Probleme des gemeinsamen Zugriffs zum Beispiel auf die biometrischen Daten abzubauen. Geforscht werden soll auch zur Nutzung "unbemannter Systeme" in der Polizeiarbeit (so genannte "Unmanned Air Vehicles" UAV, "Drohnen", in Sichtweite ferngesteuert und mit Kameras ausgerüstet). Etliche Polizeien in Europa testen die Nutzung von UAV in der allgemeinen Polizeiarbeit. Auch Frontex unterhält dazu ein Forschungsprogramm. Der Einsatz von UAV hat in der Schweiz bereits zu Festnahmen von MigrantInnen an der "Grünen Grenze" geführt.

Datenbanken und neue technische Entwicklungen spielen eine zentrale Rolle in der Neugestaltung der EU-"Home Affairs". Sicherheit und individuelle Rechte können in dieser Logik nur in einer "Atmosphäre kollektiver Sicherheit" gedeihen, erklärt der frühere EU-Kommissar für "Home Affairs" Frattini. Seine Formulierung fand Eingang in das Strategiepapier. Neue Technologie und gemeinsame Datenbanken "können mehr Sicherheit für Bürger und gleichzeitig größeren Schutz des Rechts auf Privatsphäre sichern". Hier wird die Argumentation der Kritiker, dass der Zugang zu Hunderttausenden Angehörigen europäischer Sicherheitsbehörden auf Daten aller EU-Bürger enorme Sicherheitsrisiken produziert, auf absurdeste Weise umgedreht.

Die Verfolgungsbehörden stehen nicht mehr vor dem Problem, Zugang zu umfangreichen Datenbeständen zu erlangen: Meldebehörden, Finanzämter, Provider-Daten, Banken, NutzerInnenprofile im Internet (MySpace, Facebook, Second Life), E-Government, Reiseprofile, Telekommunikationsüberwachung, Videoüberwachung, GPS. Die gegenwärtige Aufrüstung "in Zeiten des Cyberspace" besteht darin, sie sinnvoll zu verwalten und in Beziehung zu setzen. Die Rede ist von "gewaltigen Informationsmengen, die für öffentliche Sicherheitsorganisationen nützlich sein können": "Information ist der Schlüssel, um die Öffentlichkeit in einer zunehmend vernetzten Welt zu beschützen, in der öffentliche Sicherheitsorganisationen Zugang zu fast grenzenlosen Mengen nützlicher Informationen haben. Das ist Herausforderung und Gelegenheit zugleich - öffentliche Sicherheitsorganisationen müssen ihre Arbeitsweise transformieren wenn sie den Daten-Tsunami meistern wollen und ihn in Information verwandeln, die sichere, offene und robuste Gemeinschaften produziert."

Für den europaweiten Datenaustausch haben sich die InnenministerInnen bereits auf sechs von 49 "Typen relevanter Information" geeinigt, die gegenseitig abgefragt werden können: DNA, Fingerabdrücke, Ballistik, Fahrzeugregistrierung, Telefonnummern und Meldedaten. Dieser Katalog soll 2009 auf eine "Top Ten"-Liste erweitert werden. Ein großes Problem sind unterschiedliche Standards der Mitgliedsländer im Bereich Hardware, Software, Format, aber auch Systematisierung der Daten. Die "Future Group" wünscht sich eine "European Union Information Management Strategy" (EU IMS), um Standards zu entwickeln und die Zusammenarbeit der Systeme zu fördern:

"Der Schlüssel zur Effektivität ist die Nutzung von Technologie, um die Fähigkeiten einer Gesamtheit von Mitgliedern (im Original: stakeholders) zu verbinden und sicherzustellen, dass die richtige Information die richtige Person erreicht."

Damit alle Polizeiorgane der Mitgliedsländer sowie der EU-Institutionen besser kommunizieren können, soll eine interoperable Plattform" aufgesetzt werden. Bereits vorhandene Datenbanken wie das Schengen-Fahndungssystem SIS II, das Frontex-Portal BorderTechNet, das Europol-Netzwerk European Information System (EIS) oder die biometrische Visums-Datenbank VIS sollen als "konvergente Netzwerke" miteinander verknüpft werden. Damit entstünde ein Überwachungsnetzwerk in bisher unvorstellbarer Dimension, dessen zentraler Knotenpunkt Europol als "Kompetenzzentrum für technische und koordinierende Unterstützung" würde. Europol soll auf lange Sicht eine "Sicherheitspartnerschaft" mit Interpol (der zweitgrößten internationalen Organisation nach den UN) und mit der Austauschplattform für Nachrichtendienste SitCen eingehen. Der Datenaustausch soll dazu auf "Drittstaaten" ausgeweitet werden. Im Fokus stehen dabei die USA, deren Bestimmungen ihrerseits die Weitergabe an andere Behörden und Länder erlauben. Bis 2014 soll über einen "euro-atlantischen Bereich der Kooperation" entschieden werden.

Eine große Rolle spielen Datenströme "in Echtzeit". Zum einen ist damit der Zugriff auf die großvolumigen Datenbestände der Behörden von jedem Ort Europas gemeint, also auch während eines Polizeieinsatzes. Hierfür werden breitbandige, mobile Netze aufgebaut. Andererseits erlauben Technologien wie RFID, WLAN oder Bluetooth die direkte Live-Protokollierung von Verhaltensmustern. "Spezialisierte Ermittlungstechniken sollten höher auf der Agenda platziert werden. (...) Mitgliedsstaaten sollen Investitionen in innovative Technologie priorisieren, die eine automatisierte Datenanalyse ermöglicht und Echtzeitzusammenarbeit verbessern. Forschung in diesem Bereich muß vorangetrieben werden, sicherstellend dass Ideen schnell aus dem Forschungskontext zur praktischen Implementierung bewegt werden."

Mittels Computern werden Daten von Personen, Objekten oder Delikten automatisiert, (als im Hintergrund arbeitende Prozesse) miteinander abgeglichen und als Risikoanalyse ausgegeben. Sie können auf Anfrage als Beziehungsdiagramm dargestellt werden. Die Software kann auch Audiodateien, etwa Telekommunikationsüberwachung oder Mitschnitte von Verhören verarbeiten. Im Ergebnis entsteht ein visualisiertes "Mapping" komplexer Beziehungsstrukturen. Werden mehrere solcher Ebenen übereinandergelegt, existiert ein dreidimensionales Bild in dem nach "Clustern", also Häufungen gesucht wird. Die Software kann Entscheidungshilfen" geben, die sich aus Daten früherer Vorgänge, aber auch Simulationen (wie zum Beispiel bei allen großen Polizeieinsätzen, Gipfeltreffen oder Sportereignissen) speist. In "Echtzeit" eingesetzt kann sie eine Häufung "verdächtiger Telefongespräche" oder, kombiniert mit biometrischen Verfahren, abweichendes Verhalten wie das Verlassen eines üblichen Weges oder Kleidungsmerkmale erkennen.

Solche "Risikoanalysen" markieren eine Verlagerung der Polizeiarbeit hin zu einem "Proactive Approach" (Eigeninitiative; im Kontext von Polizeiarbeit am besten übersetzt als "vorauseilende, anlassunabhängige Prävention"). Eine Bevölkerung oder bestimmte Gruppen werden unter Generalverdacht gestellt und von Maschinen untersucht. Damit wollen Polizei und Nachrichtendienste Straftaten vorhersehen. Hier findet ein weiterer, grundlegender Paradigmenwechsel klassischer Polizeiarbeit statt. Weil Polizei bisher in der Regel erst tätig werden darf, wenn Straftaten begangen werden beziehungsweise Anhaltspunkte dafür vorliegen, müssen Polizeigesetze geändert werden.

Das Strategiepapier der "Future Group" rät der EU, im Kampf gegen "terroristische Bedrohungen" sowohl "präventive und repressive" Mittel einzusetzen, darüber hinaus aber auch "proaktive" unter Zuhilfenahme der Zivilgesellschaft und Wirtschaft entwickeln. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Internet. Neben der Einrichtung von Überwachungszentren soll das Internet ebenfalls "proaktiv" mit einer "kulturellen Intelligenz" unter Berücksichtigung einer "Cyber-Language" zur "De-Radikalisierung" beitragen. Doch damit nicht genug Informationskrieg der cyber-sprechenden InnenministerInnen. Sie raten zu einer Medienstrategie, die "eine klare und überzeugende positive Botschaft an unterschiedliche Gemeinschaften in Europa und im Ausland entwickelt - möglichst auch in nicht-europäischen Sprachen, unter Bezug auf die europäischen grundlegenden Werte von guter Regierungsführung, Grundrechte und Sicherung von Frieden und Freiheit".

Datenschutz bleibt stark unterrepräsentiert im Strategiepapier. Das Kapitel dazu endet mit dem Wunsch an die Bevölkerung, mehr Überwachung und Kontrolle selbst zu wollen: "Die Sicherstellung eines größeren öffentlichen Verständnis der Vorteile des Datentauschs unter den Mitgliedsstaaten sollte Priorität haben. Die Strategie sollte die Zusage beinhalten, den Bürgern der Europäischen Union zu erklären, wie Information verarbeitet und geschützt wird, auf der Basis von Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit."

Die Neuauflage des Fünfjahresplans für "Home Affairs" wird von der "Future Group" mit einem besorgten Blick auf politische Veränderungen innerhalb der EU flankiert: Im Frühjahr wird der Kommissions-Präsident neu bestimmt, im Juni das Parlament neu gewählt. Die Veröffentlichung des Strategiepapiers "Freedom, Security, Privacy - European Home Affairs in an Open World" will helfen, damit das neue (vermutlich mehr nach rechts rückende) Parlament die gravierenden innenpolitischen Veränderungen zügig durchwinkt. Die Behauptung der InnenministerInnen, ihre Treffen seien informell, mag zutreffen. Ihre Schlussfolgerung, dass das Strategiepapier deshalb nur als "Reflektionen und Ideen" verstanden werden solle, kann getrost als Euphemismus ignoriert werden.


"A hungry man is an angry man" - Das NATO-Strategiepapier "Towards a Grand Strategy for an Uncertain World"(4)

Die NATO sieht ihrem 60. "Geburtstag" mit großen Plänen einer Transformation und einer Expansion des Einflussbereichs entgegen. 2009 soll die zunehmende Unsicherheit der Welt mit einer reformierten und aufgerüsteten NATO, neuen Mitgliedern, Aufgabenbereichen, Mitteln und vereinfachten Entscheidungsstrukturen beantwortet werden. Das bisher gültige Konsensprinzip soll aufgehoben werden, Enthaltungen einzelner Regierungen können keine Mission blockieren. Nur wer Krieg führt darf mitbestimmen (beziehungsweise nur wer bezahlt darf Krieg führen). Künftig sollen NATO-Einsätze ohne UN-Mandat möglich sein.

Als "transatlantisches Verteidigungsbündnis" europäischer Länder und Nordamerikas gegen die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, sucht die NATO seit Ende des Kalten Kriegs nach neuen Aufgaben in den veränderten geopolitischen und ökonomischen Koordinaten. Missionen wurden unter dem Oberbegriff "Human Security" als "Friedenserhaltungs-" und "humanitäre Interventionen", "Krisenmanagement" oder "Verhinderung von Bürgerkriegen" deklariert. Gegenwärtig operieren NATO-Truppen in Afghanistan, Irak, Darfur, Kosovo. Mindestens 240 Atomraketen sind allein in Europa stationiert (Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande, Türkei). "Der nukleare Erstschlag ('first use of nuclear weapons') muss als letzte Option im Köcher verbleiben, um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen und dadurch eine tatsächlich existentielle Bedrohung zu verhindern."

Die Überholung des bisherigen NATO-Strategiekonzepts ist auf die militärische Absicherung gegen neue Herausforderungen sozio-ökonomischer Konflikte gerichtet: Klimawandel, Energiekrisen, Nahrungsmittelkrisen, "unkontrollierte Migration", "Menschenhandel" und "Terrorismus". Neue Bedrohungsszenarien werden als Grundlage für die veränderte Ausrichtung der NATO herangezogen: Naturkatastrophen, Rohstoffkriege, "wütende hungrige Männer", die sich nicht mehr unter Kontrolle haben und somit aufständisch werden (NATO-Webseite), weibliche "Opfer" von Menschenhandel, die "gerettet" werden müssen, was für die Betroffenen oft den Verlust der Arbeit und Abschiebung bedeutet.

Das "Defensivbündnis" soll also zukünftig offensiv und gezielt auf "Sicherheitskrisen" der Mitgliedsstaaten reagieren, um gegen Herausforderungen einer neuen Ära der Unsicherheit handlungsfähig zu werden: "Die NATO muss sich zu einem effizienteren Instrument für die Analyse der sozio-ökonomischen Bedingungen entwickeln, die Sicherheitsproblemen zu Grunde liegen." Die "zivil-militärische Zusammenarbeit" soll ausgebaut, Aufgabenbereiche verschränkt werden. Der "Umfassende Ansatz" fordert den "gleichzeitigen Einsatz aller zur Verfügung stehenden zivilen und militärischen Elemente, um Feindseligkeiten zu beenden und die Ordnung wiederherzustellen". Als "zivile Elemente" gelten etwa Polizei, Nachrichtendienste, Forschung, Akademien, Zivilschutz, aber auch die private Sicherheitsindustrie. Die NATO möchte verstärkt auf die polizeiliche "Europäische Gendarmerietruppe" mit Sitz im italienischen Vicenza zurückgreifen.

Mit der "zivil-militärischen Zusammenarbeit" vollzieht sich eine Militarisierung polizeilicher Arbeit, unterfüttert durch innenpolitische Aufrüstung und Anti-Terror-Gesetze. Gemäß der Logik, dass der Terror nun "zuhause" angekommen sei, ist ein Einsatz des Militärs im Inland leicht zu vermitteln. Dieser "Umfassende Ansatz" der NATO findet sein Echo in Strategiepapieren der InnenministerInnen der NATO-Staaten, die ihrerseits an einer Verschmelzung der inneren und äußeren Sicherheit respektive "Homeland Security" arbeiten: Mehr Militärpräsenz im Inland, bessere Zusammenarbeit der In- und Auslandsgeheimdienste, gemeinsame Datenbanken (Datenbanken von Europol werden beispielsweise für militärische Aufklärung im Kosovo genutzt). Die NATO sieht sich als Garant der Sicherheit "kritischer Infrastruktur" (wie Energie, Transport, Kommunikation) innerhalb der Mitgliedsländer.

Durch das Schüren der Unsicherheit werden "präemptive" und "proaktive" Maßnahme" gefordert, die potentielle Bedrohungen voraussehen und verhindern sollen, bevor sie überhaupt existieren. Das eigene Militär soll stets die Initiative, Deutungs- und Entscheidungshoheit behalten. Unterschieden wird zwischen Eigeninitiative (proaktiv), Präemption, Prävention und Reaktion, um einen qualitativ neuen Ansatz des Voraussagens und Bekämpfens von Risiken zu ermöglichen: "Abschreckungspolitik in unserer Zeit bedeutet nach wie vor die Schaffung von Unsicherheit im Kopf des Feindes - nicht länger als Reaktion auf einen Angriff, sondern proaktiv (...). Präemption ist der Versuch, sich die Initiative anzueignen, um den Konflikt zu beenden (...). Prävention ist die reaktive Antwort wenn die Aktion des Gegners als unmittelbar bevorstehend erfasst wird; während Präemption ein selbst initiierter Schritt ist, der auf Verweigerung - und somit Beendung des Konflikts - ausgerichtet ist in einer Situation, wo die Bedrohung noch nicht besteht aber wo unweigerliche Indizien darauf hinweisen, dass ein Konflikt unvermeidbar ist. Präemption wird unter Internationalem Recht als legaler Akt der Selbstverteidigung angesehen, wobei die Frage der Legalität des präventiven Einsatzes von Gewalt bisher als unbeantwortet gilt."

Hier wird also der Weg geebnet, um noch nicht real-existierende Bedrohungen als Anlass zu nehmen, militärisch einzugreifen, wo Herrschaftsinteressen gesichert werden müssen. Zwar erklärt das NATO-Papier, dass die sozio-ökonomischen Grundlagen der Konflikte untersucht werden müssten, um die Situation besser zu verstehen, jedoch ist die Intention solcher Auseinandersetzungen klar definiert und auf die Sicherung ökonomischer Umstrukturierungen im Sinne einer neoliberalen Weltordnung ausgerichtet: "Das Vorhaben wird oft die Errichtung von 'Good Governance', freier und gerechter Handel (inkl. freier und friedlicher Zugang zu kritischen Rohstoffen) und ökonomische Entwicklungshilfe, die verlangt wird, um einen funktionierenden Staat herzustellen."

Dieser Herrschaftsdiskurs findet sich in offensiven Medienstrategien als Teil des "Comprehensive Approach" wieder: "Diese Schritte müssen im Anschluss an gut koordinierte und selbst initiierte Medienarbeit gemacht werden, die helfen könnten, das Vorhaben zu erreichen ohne militärisch eingreifen zu müssen. Auch kann eine solche Medienarbeit den Weg ebnen für eine 'Herz und Verstand'-Kampagne, die jede militärische Intervention begleiten sollte."

NATO-Interventionen unterwerfen Alltagskämpfe und soziale Bewegungen in den betroffenen Ländern einer Wiederherstellung der kapitalistischen Ordnung und Stabilität zur Kapitalakkumulation. Die Militarisierung sozialer Konflikte reicht allerdings weit über NATO-Einsätze hinaus und ist geprägt von einem hegemonialen gesellschaftlichen Diskurs: Überwachung, Datenspeicherung, Kriminalisierung von Armut, militärische Bekämpfung von MigrantInnen, Militäreinsätze im Innern sind Ausdruck einer Zuspitzung gesellschaftlicher Gegensätze, die sich nicht mehr durch Einbindung/Integration lösen lassen ("The Dark Side of Globalization"). Auch Klimawandel wird in diesem Weltbild als Bedrohung angesehen, dessen soziale Auswirkungen in den Aufgabenbereich der NATO fallen. Weltweit wird eine Zunahme von Konflikten als Auswirkung einer ungleichen Verteilung seiner Konsequenzen erwartet: "Klimawandel wirkt sich auf fast alle unsere Lebensbereiche aus, auch auf Sicherheit und die geopolitische Situation. Es wird erwartet, dass Klimawandel eine weitere Umverteilung des Wohlstands, sowie Migration erzeugen wird. Manche Regionen sind schon immer an der Peripherie der Welt gewesen, so wie Grönland oder Sibirien, manche werden strategisch wichtig werden. Kanada hat jetzt schon mit den USA Souveränitätskonflikte über die kanadische Arktis. Der Konflikt in Darfur wird als 'erster Klimawandel-Krieg' angesehen, der auf jahrelange Dürre und daraus resultierende Nahrungsmittelknappheit zurückzuführen ist."(5)


Ein "Comprehensive Approach" sozialer Bewegungen - Vorschlag für eine Kampagne gegen die EU

Die beschriebenen Phänomene stellen soziale Bewegungen vor große Herausforderungen. Die Auseinandersetzung damit kann nicht nur Friedens-, Antimilitarismus-, Bürgerrechts- oder Antirepressionsgruppen überlassen werden - zumal diese größtenteils im nationalen Rahmen agieren. In einer Gesellschaft, die durch ökonomische Umstrukturierungen die Teilung in GewinnerInnen und VerliererInnen forciert und sich auch im globalen Rahmen Gegensätze verschärfen, sind "übergreifende Ansätze" wie der "Comprehensive Approach" und "Homeland Security" der Versuch, Ordnung und Sicherheit im Sinne der Kapitalverwertung und des Freihandels zunehmend mit militärischen Mitteln zu sichern. Wo Konflikte entstehen, die durch Zugeständnisse und Einbindung nicht mehr lösbar sind, geht der Versuch, globale Wettbewerbsfähigkeit und Ressourcensicherung zu erreichen, mit der Verschärfung der Sicherheitsapparate einher. Die Auswirkungen davon werden im Alltag als zunehmende soziale Kontrolle, Kriminalisierung von Armut und Migrationsbekämpfung erfahren. Jeder gesellschaftliche Konflikt wird als potentielle Bedrohung angesehen. Mit einer Politik der Angst werden Feindbilder und Bedrohungsszenarien handlungsweisend, werden autoritäre und militarisierte Herrschaftsstrategien legitimiert und durchgesetzt. Mehr Kontrolle, Ausbeutung und der Ausnahmezustand werden zum Normalfall.

Wir wollen einen "Summer of Resistance 2.0" gegen die EU und NATO initiieren, der einen Höhepunkt in der schwedischen Präsidentschaft 2009 findet und an die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Italien andockt. Damit schließen wir uns dem Vorschlag an, 2009 zu einer allgemeinen Auseinandersetzung und Intervention gegen die EU-Politik aufzurufen (siehe dazu
http://openesf.net/projects/asm/blog/2008/07/01/asm-kyievkiev-report- call-for-mobilisation-2009).

Etliche europäische Gruppen setzen sich kritisch mit EU-Politik auseinander bzw. sind von ihren Auswirkungen betroffen. Themen und damit Trägerkreise einer solchen Kampagne könnten sein:

- Migration
- Filesharing-Netzwerke
- Alternative Provider
- Terrorismus-Verfahren
- Vorratsdatenspeicherung
- Kritische AnwältInnen
- Bürgerrechte
- Lissabon-Vertrag
- Antimilitarismus
- Friedensbewegung
- NATO
- G8
- Economic Partnership Agreements
 (EPAs; Wirtschafts-Partnerschaftsabkommen der EU)
- Klima, Umwelt

Vernetzte und gemeinsam handelnde Soziale Bewegungen können den Sicherheitsphantasien und -strategien Grenzen setzen, um so einen Raum zu schaffen um Alternativen sichtbar werden zu lassen. Wir wünschen uns, diesen Vorschlag auf zukünftigen Zusammenkünften sozialer Bewegungen zu diskutieren.


Über Feedback freuen wir uns unter mail@gipfelsoli.org.


Hintergrund:

- "European Home Affairs in an open world":
http://euro-police.noblogs.org/gallery/3874/eu-futures-jha-report.pdf

- "Towards a Grand Strategy for an Uncertain World":
http://euro-police.noblogs.org/gallery/3874/grand_strategy.pdf

- Analyse von Statewatch "The Shape of Things to Come":
http://www.statewatch.org/analyses/the-shape-of-things-to-come.pdf"

- Kai Raven zur Wunschliste der "Future Group":
http://blog.kairaven.de/archives/1601-Europa-Ein-Raum-fuer- Geheimdienstler,-Polizisten-und-Soldaten.html


Anmerkungen:

(1) General a. D. Klaus Naumann (D), General John Shalikashvili (USA), Feldmarschall Lord Peter Inge (UK), Admiral Jacques Lanxade (F), General Henk van den Breemen (NL).

(2) Die "Future Group" bezeichnet sich selbst als "informelle Gruppe", die Visionen für europäische Innenpolitik entwickelt. Sie wurde 2007 unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft von Innenminister Schäuble und dem damaligen EU-Vizepräsidenten und "Kommissar für Freiheit, Sicherheit und Recht", Frattini, initiiert.

(3) Alle im Folgenden nicht anders gekennzeichneten Zitate aus dem Strategiepapier "Freedom, Security, Privacy - European Home Affairs in an Open World"

(4) Alle im Folgenden nicht anders gekennzeichneten Zitate aus "Towards a Grand Strategy for an Uncertain World"

(5) NATO Parliamentary Assembly Committee Report 2007 Annual Session, "Climate Change: Thinking Beyond Kyoto",
http://www.nato-pa.int/Default.asp?SHORTCUT=1177


→  http://gipfelsoli.org/
→  http://euro-police.noblogs.org

Raute

SCHWERPUNKT

"Hoffen wir, dass der Faschismus nicht wieder auflebt"

Schlag auf Schlag peitschte der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi im vergangenen Sommer eine ganze Reihe von "Sicherheitsgesetzen" durch Senat und Abgeordnetenkammer. Die markanteste Neuregelung ist dabei wohl der Einsatz von Soldaten, die in italienischen Großstädten Polizeiaufgaben wahrnehmen. Dabei zeigt sich vor allem eines beispielhaft: Ein Einsatz des Militärs im Landesinneren steht niemals für sich allein. Vielmehr ist er Teil einer Strategie der innenpolitischen Willkür, der Entrechtung der Bevölkerung und der Entmachtung der Justiz - er ist verschärfter Klassenkampf von oben.


3000 Soldaten übernahmen Ende Juli 2008 im Rahmen des "Sicherheitspakets" für zunächst sechs Monate in Mailand, Rom, Neapel, Padua und Verona die Aufgabe, Einrichtungen und Ämter zu überwachen und andere polizeiliche Aufgaben. Bei "positiven Erfahrungen" kann der Einsatz der Soldaten um weitere sechs Monate verlängert werden. Anfang Dezember wurde dann tatsächlich eine Verlängerung des Militäreinsatzes angekündigt. Ab Februar 2009 sollen die Soldaten weitere sechs Monate eingesetzt werden. Der Einsatz der Soldaten zur Vorbeugung der Kriminalität habe bisher sehr positive Resultate gezeigt und werde daher verlängert, erklärte Innenminister Roberto Maroni. Verteidigungsminister Ignazio La Russa hatte im Juli den Einsatz gemischter Patrouillen aus Armee und Polizei verkündet. Die Maßnahmen sollen der Aufstandsbekämpfung dienen, auch wenn offiziell die "Entlastung der Polizeikräfte" als Ziel des Militäreinsatzes genannt wird. Dabei stellte sich die Polizei selbst gegen die Pläne. Sprecher der italienischen Polizeigewerkschaften erklärten eindeutig ihr Unverständnis gegenüber der Regierung und protestierten gegen den Beschluss. In jedem Falle: Das erwünschte Ergebnis lautet "Stärkung der öffentlichen Sicherheit".

Oppositionspolitiker kritisierten, man dürfe die italienischen Städte nicht militarisieren. Der Einsatz des Militärs sei eine glatte Verschwendung von Ressourcen und ohne Durchschlagskraft. Allein in Rom sind derzeit 400 Soldaten stationiert, in Mailand sind es 424. Die Soldaten haben die Kontrolle über verschiedene Einrichtungen und Institutionen übernommen, um die Polizei zu entlasten, wie es heißt. Mit einer Pistole bewaffnet dürfen die Soldaten aber nur Personen festnehmen, die sie auf frischer Tat ertappen. Sie bewachen zudem den Vatikan, den Mailänder Dom, Bahnhöfe, Botschaften und andere mögliche Anschlagsziele.

Die katholische Zeitschrift "Famiglia Cristiana", die sich schon seit längerer Zeit Scharmützel mit der Berlusconi-Regierung liefert, sprach von einem "nutzlosen Spielchen". Soldaten verstünden sich nicht auf Polizeiaufgaben, und außerdem sei man nicht in Angola. Zudem könnte die Regierung durch ihr hartes Vorgehen gegen Bettler, die unter dem Einsatz besonders zu leiden haben, einen "Krieg unter den Armen" provozieren. Die Regierung, so schreib das Blatt, solle aufhören, die Zeitungen mit "Possen" zu füllen und so von den wahren Problemen des Landes abzulenken, der Verarmung vieler Familien. "Hoffen wir, dass der Faschismus nicht in anderen Formen wieder auflebt", kommentierte "Famiglia Cristiana" die ausfälligen Reaktionen der Regierung.

Mitte August geißelte der Papst in seinem Angelusgebet die Ausgrenzung andere Menschen und warnte, in verschiedenen Ländern kämen neue besorgniserregenden Formen von Rassismus auf. Sie hätten oft soziale oder wirtschaftliche Ursachen, diese dürften aber "niemals eine rassistische Missachtung oder Diskriminierung rechtfertigen". Durch diese durchaus auf die Zustände in Italien gemünzten Worte fühlte sich auch die Zeitschrift "Famiglia Cristiana" bestätigt: "Die Worte des Papstes müssen uns geradezu ermutigen weiterzumachen, ohne uns von irgendjemandem einschüchtern zu lassen", erklärte Chefredakteur Don Antoni.

Eingeschüchtert werden durch Berlusconis Sicherheitspaket allerdings viele Menschen, nicht nur durch Militär auf den Straßen. So kann illegales Einreisen nun mit einer Gefängnisstrafe geahndet werden. Auch sollen EU-Bürger ausgewiesen werden, die Delikte begangen haben oder ohne Einkommen sind. Bürger aus Drittstaaten außerhalb der EU sollen sich während der Wartezeit auf ein Visum nicht mehr frei bewegen können, sondern in Aufnahmeeinrichtungen festgehalten werden. Erhalten sie nach 18 Monaten kein Recht auf Asyl, sollen sie abgeschoben werden. Damit droht etwa 40 Prozent der in Mailand illegal lebenden Rumänen die Ausweisung. Der Mailänder Polizeichef Gian Valerio Lombardi erklärte dazu: "Mit dem Inkrafttreten des Sicherheitspakets könnten wir 40 Prozent aller illegal in Mailand lebenden Rumänen ausweisen, weil sie entweder für Verbrechen verantwortlich sind oder keine Arbeit haben." (1) Der Präsident der norditalienischen Region Veneto, Giancarlo Galan, forderte gar die Beschlagnahme von Immobilien, die an illegal in Italien lebende Ausländer vermietet werden. Zudem wurde mit dem Sicherheitspaket der Familiennachzug begrenzt und eine Datenbank mit DNA-Informationen von "Kriminellen" eingeführt.

Während für alle anderen "Null Toleranz" gilt, versuchte Berlusconi auch gleich, sich selbst mit dem Sicherheitspaket Straffreiheit zu verschaffen. Denn Teil des Sicherheitspakets ist die Ergänzung eines Strafgesetzes, wonach unter anderem ein laufendes Verfahren gegen den Premier für ein Jahr ausgesetzt werden müsste. Nach dem Gesetz werden alle Prozesse zu Vergehen, die vor Mitte 2002 begangen wurden, ein Jahr lang ausgesetzt, außer wenn es sich um Gewaltverbrechen, organisierte Kriminalität, Arbeitsunfälle oder Straftaten, auf die mehr als zehn Jahre Haft stehen, handelt. Die regierende Mitte-Rechts-Allianz rechtfertigte den Schritt als Entlastung der Gerichte, die damit mehr Freiraum für die Verfolgung schwerer Straftaten wie Mafia-Vergehen erhalten würden.

Berlusconi ist wegen der Bestechung des britischen Anwalts David Mills im Jahre 1997 angeklagt. Mills soll in zwei früheren Verfahren bewusst falsche Aussagen gemacht und belastende Einzelheiten zu Berlusconis Geschäften als Medienzar zurückgehalten und dafür rund 400.000 Euro erhalten haben. Berlusconi hatte nach seiner Wiederwahl ins Amt des Regierungschefs im April 2008 erklärt, das Verfahren untergrabe seine politische Führung. Die Opposition wirft ihm vor, während seiner ersten beiden Amtszeiten das Strafrecht wiederholt zu seinen Gunsten verändert zu haben. Berlusconi hat schon mehrfach wegen Korruption vor Gericht gestanden. Bisher wurde er entweder freigesprochen oder das Verfahren wurde wegen Verjährung eingestellt.

Zugleich hat die Telefonüberwachung in Italien ein Ausmaß angenommen, das kaum noch mit den Freiheitsrechten in einem demokratischen Rechtsstaat vereinbar ist: 124.000 Anschlüsse wurden 2007 überwacht. In der Schweiz waren es 1300, 1700 in den USA, 20.000 in Frankreich. Wenn man von durchschnittlich 30 Telefongesprächen ausgeht, die eine überwachte Person pro Tag tätigt, kommt man auf mehr als drei Millionen mitgehörte Gespräche täglich. "Ich bin ja kein Statistiker" sagte Justizminister Angelino Alfano. Aber nach seiner Einschätzung befinde sich der größte Teil des Landes "unter Kontrolle". Die Telefonüberwachung kostete 2007 rund 224 Millionen Euro Steuergeld. Dagegen möchte die Regierung nun vorgehen - zumindest, wenn von der Überwachung Amtsträger betroffen sind.

All diese Maßnahmen zeigen eines: Mit den Thema Sicherheit lässt sich zumindest kurzfristig Popularität gewinnen. Die Bürger lechzen geradezu nach Sicherheit und Ordnung, zumal in Krisenzeiten. Doch diese "Sicherheit", für die Soldaten in die Städte und Migranten außer Landes geschickt werden, richtet sich gegen die Bürger selbst. Für die Herrschenden bedeutet sie nur immer noch größere Freiräume.


Fußnoten:
(1) Schätzungen zufolge leben rund 150.000 Roma in Italien, die meisten stammen aus Rumänien, etliche aus dem früheren Jugoslawien, die Mehrzahl sind italienische Staatsbürger. Im Mai war es in Neapel und Rom zu Übergriffen gegen Roma-Siedlungen gekommen. Sie erfolgten nach Berichten, wonach eine Roma-Frau versucht haben soll, ein Baby zu entführen. Aufgeheizt wurde die Stimmung auch durch Pläne der seit Mai amtierenden Regierung, Fingerabdrücke von Sinti- und Roma-Kindern zu nehmen.

Raute

SCHWERPUNKT

Make NATO History!

Auf die Straße gegen den NATO-Gipfel!

Interventionistische Linke (iL)

Am 3. und 4. April 2009 treffen sich in Baden-Baden und Strasbourg die Regierenden der NATO-Staaten. Sie wollen den Geburtstag jener Organisation feiern, der sie die militärische Absicherung ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht verdanken. Und sie planen dort die Zukunft der NATO, damit diese noch schlagkräftiger weltweit ihre Interessen kriegerisch durchsetzen kann.

Wir werden Widerstand leisten. Wir werden unseren Widerstand auf den Straßen Baden-Badens und Strasbourgs manifestieren. Wir werden in das Geschehen eingreifen und den Regierenden einen Strich durch ihren wohlgeplanten Ablauf machen. Ihre selbstherrliche Inszenierung der Macht ist angreifbar!

Wir rufen dazu auf, das NATO-Treffen zu belagern, zu umzingeln, zu blockieren! Wir rufen dazu auf, sich an den Demonstrationen und Aktionen zu beteiligen! Wir rufen dazu auf, massenhaft Blockaden und andere Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen das Treffen der KriegstreiberInnen zu setzen!


NATO - Krieg ist ihr Frieden!

Die NATO gewinnt wieder an Bedeutung. Sie ist längst nicht mehr das verkrustete Bollwerk des Kalten Krieges. Seit Anfang der 1990er Jahre wird das formale Verteidigungsbündnis zu einem Interventionsinstrument ausgebaut. Dafür wurden sämtliche Armeen der Mitgliedsstaaten so umstrukturiert und in die NATO-Strukturen integriert, dass globale Kriegsführung nicht nur möglich, sondern sogar zur primären Doktrin erhoben ist. Die weltweiten Krisen, ob sie nun politischer, militärischer, ökonomischer, sozialer oder ökologischer Natur sind, sollen durch militärisches Krisenmanagement stabilisiert werden - wenn nötig durch die Destabilisierung ganzer Regionen. So soll der Zugang zu Märkten und Rohstoffen gesichert werden.

Doch längst hat sich gezeigt, dass allein die Fähigkeit der NATO, Angriffskriege wie gegen Jugoslawien und Afghanistan zu führen, nicht ausreicht um stabile kapitalistische Verwertungsbedingungen herzustellen. Deswegen wird das Aktionsfeld der NATO erweitert. Sie soll nicht mehr nur Interventionsinstrument sein. Sie soll Kern eines flexibel einsetzbaren militärisch-zivilen Besatzungsregimes werden. Ein militärisch erobertes Gebiet ist eben noch lange kein komplett kontrolliertes. Unter Kontrolle der Militärs sollen die gesamten Gesellschaftsstrukturen besetzter Staaten umgekrempelt werden.

Die Einbindung ziviler Organisationen in die Kriegsführung wird weiter ausgebaut. So wird es, wenn es nach dem Willen der KriegsstrategInnen geht, in naher Zukunft keine nicht-militarisierte Arbeit ziviler Hilfs- und Aufbauorganisationen in besetzten Ländern mehr geben - weil sie entweder unter dem Kommando der NATO stattfindet oder gar nicht mehr. Afghanistan ist ein erster Versuch in diese Richtung. Hier zeigt sich aber auch, dass die Fähigkeiten und Kapazitäten der NATO noch nicht ausreichen, um die Friedhofsruhe herzustellen, die sie für das reibungslose Durchsetzen der Interessen ihrer Mitgliedsländer braucht.

In Strasbourg sollen deshalb weitere Weichen gestellt werden, um die organisatorischen Bedingungen für einen kriegerischen Dauerzustand zu schaffen. So sollen Kriege zukünftig per Mehrheitsentscheidung beschlossen werden. Nur wer mitmacht, darf dann noch über Details bestimmen. Weitere Beispiele: Die NATO will ihre Kriege unabhängig von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates führen, sie plant die Aufstellung eines eigenen Raketensystems in Europa und die Militärs wollen sich das Erstschlagrecht mit Atomwaffen in die Verträge schreiben lassen.

Bei alledem gewinnen die europäischen Regierungen in der NATO an Macht. Die EU marschiert zwar Seite an Seite mit den USA - aber als eigenständiger Faktor. Die NATO ist hierfür der zentrale Ort. Es istalso kein Zufall, dass der Jubiläumsgipfel in Deutschland und Frankreich stattfindet. Frankreich wird wieder Teil der militärischen Struktur der NATO sein und Deutschland ist mittlerweile potenziell bereit, sich an jedem Krieg zu beteiligen. Die Bundeswehr hat in den letzten 15 Jahren die Transformation zu einer weltweit einsetzbaren Interventionsarmee vollzogen. Sie hat dafür ihre Strukturen verändert und sie ist dabei, sich das notwendige Gerät zu beschaffen. Wer also die NATO kritisiert, muss in Deutschland von der Bundeswehr reden. "Old Europe" zieht gemeinsam mit "New America" in den Krieg.


Krisenkriege - Innen und Außen

Es gibt eine offensichtliche Krise des kapitalistischen Systems. An die Stelle eines, wenn auch nie eingelösten, Wohlstandsversprechens für Alle tritt eine zunehmende Militarisierung und Brutalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das kapitalistische System hat keine Perspektive mehr außer der permanenten Verwaltung der Krise. Gerade in solchen Zeiten wird das Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis zwischen den Metropolen und den rohstoffreichen armen Ländern zunehmend durch militärische Gewalt bestimmt.

Vor diesem Hintergrund führen wirtschaftliche und geostrategische Interessen zu Angriffskriegen. Das gilt angesichts des imperialistischen Kampfes um Öl, Gas und andere Ressourcen - aber auch in Hinsicht auf die Folgen des Klimawandels. Kapitalismus ist ohne Krieg nicht zu denken, Krieg nicht ohne Vergewaltigung und Mord, und die globalisierte Kriegswirtschaft nicht ohne Hunger, Flucht, Vertreibung und Zwangsprostitution.

Und die Regierenden antworten auf Flucht und Vertreibung abermals mit einer weiteren Ausdehnung des Militärischen. Ein deutlicher Ausdruck ist die militarisierte europäische Migrationspolitik, die aufs Engste mit der herrschenden Sicherheits- und Kriegspolitik verflochten ist. Die operative Zusammenarbeit im Rahmen der europäischen Grenzschutztruppe Frontex ist darin genauso wesentlicher Bestandteil, wie die Internierung von Flüchtlingen in Lagern außerhalb der Festung Europa. Es gibt in dieser Weltordnung keinen Friedenszustand, der ohne Krieg auskommt. Das Militär ist ein wesentliches Mittel des Krisenmanagements.

Aber auch bei der Regulation der gesellschaftlichen Widersprüche innerhalb der Metropolen wird zunehmend auf unmittelbare Zwangsformen zurückgegriffen - flächendeckende Video- und Internetüberwachung, großer Lauschangriff, genetischer Fingerabdruck oder Bundeswehreinsatz im Inland. Die Trennung von Militär, Polizei und Geheimdienst wird aufgelöst.

Gleichzeitig findet eine Ausdehnung des Militärischen in alten gesellschaftlichen Bereichen statt: Mit der Privatisierung von Teilen der Kriegsführung wie Logistik, Transport, Sanitäts- und Bewachungsdiensten entsteht ein militärisch-ökonomischer Komplex, aus dem Konzerne und Firmen ihren unmittelbaren Profit ziehen. Das Kapital weiß, was es an der Bundeswehr hat und ist deshalb auch bereit für die gesellschaftliche Akzeptanz des Militärs zu sorgen. Angesichts der Ablehnung, die die Auslandseinsätze der Bundeswehr in der deutschen Bevölkerung erfahren, ist das auch dringend nötig.

Wo aber gesellschaftlicher Reichtum für das Militär und das Führen von Kriegen verbraucht wird, da muss an anderer Stelle gespart werden. Das wusste auch Rot-Grün, als sie verkündeten, die Agenda 2010 werde schon die Mittel für die Auslandseinsätze freistellen. Die Sozialkürzungen der letzten Jahre stellen aber nicht nur das notwendige Geld bereit, sie erhöhen auch den Druck, den Verlockungen vom "sichereren Job mit hervorragender Bezahlung" nachzugehen. Die Bundeswehr ist eine Armee, die von der Rekrutierung Arbeitsloser lebt. Das erklärt auch die jährlich mehr als 1000 Werbeveranstaltungen in Arbeitsämtern.

Als wesentliche innergesellschaftliche Folge der militärischen Formierung dringt zudem das Männerbündische und Sexistische verstärkt als selbstverständlicher Teil in jede gesellschaftliche Auseinandersetzung. Krieg und Militarismus verfestigen Geschlechterstereotypen, die in "Friedenszeiten" geschaffen, akzeptiert und legitimiert werden. Die zunehmende Anerkennung ritualisierter Männlichkeit, und diese ist konstituierend für jede Armee, verschafft patriarchaler Zurichtung einen immer größeren Spielraum. Dass Frauen Teil des Militärs sind, ändert daran nichts.

Dieser Entwicklung sagen wir unmissverständlich den Kampf an; wohl wissend, dass die Maßnahmen des Überwachungsstaates und die innere Aufrüstung präventiv auf gesellschaftliche Widerstände, Streiks und Revolten zielen.


Auf nach Strasbourg!

Unser Weg beginnt nicht erst am 3. oder 4. April 2009. Wir starten schon jetzt mit einer Mobilisierung, die praktisch entwickelt, was in Strasbourg gemeinsam möglich sein kann. Wir rufen dazu auf, die Mobilisierung zu einer Weiterentwicklung antimilitaristischer Politik zu nutzen - egal, ob in der Straße, im Dorf, im Stadtteil, in der Stadt oder der Region. Eine antimilitaristische Bewegung kann sich nicht einfach aufgrund einer besseren Moral oder aus Bewusstsein heraus begründen; es reicht nicht, nur die Idee einer friedlicheren Welt zu haben.

Wir begreifen uns als Teil einer Linken, die in die gesellschaftlichen Verhältnisse interveniert. So entwickeln sich Perspektiven antimilitaristischer Praxis! Darum rufen wir zur Gründung Antimilitaristischer Aktionskreise auf. Sie sollen ein möglichst breites politisches Spektrum umfassen, das gemeinsam nicht nur lokal über die Aktionen in Baden-Baden und Strasbourg informiert, sondern auch eigenständig Widerstand und Protest gegen die Bundeswehr entwickelt.


Aktionstage!

Am 7. Februar 2009 findet die alljährliche NATO-Sicherheitskonferenz in München statt. Wir begreifen die Demonstrationen und Aktionen gegen dieses Treffen der KriegsstrategInnen als Auftakt der Mobilisierung gegen das NATO-Treffen im April. Beteiligt euch an den Aktivitäten des Bündnisses gegen die Sicherheitskonferenz!

Zusätzlich rufen wir zu zwei lokalen Aktionstagen auf, an denen die Aktionskreise und auch einzelne Gruppen bundesweit ein deutliches Zeichen des Widerstandes gegen Militarisierung in die Öffentlichkeit tragen. Am 7. Februar und am 14. März 2009 wollen wir landauf und landab zeigen, dass Antimilitarismus kein eingemottetes Relikt vergangener Zeiten ist. Der Kampf gegen Militarismus muss auf die Tagesordnung aller, denen die herrschenden Verhältnisse unerträglich sind, er ist historisch notwendig!

Mit den Aktionstagen wird die Politik zweier deutscher Konzerne in den Mittelpunkt gestellt, die Vorreiter der Verankerung von Krieg in Gesellschaft und Ökonomie sind: DHL, ein Konzern der Deutschen Post, ist ein herausragendes Beispiel für die Privatisierung der Kriegsführung. DHL wickelt nicht nur den Feldpostverkehr der Bundeswehr ab, er ist als weltweit führender Logistikkonzern zuständig für einen großen Teil des Materialtransportes der deutschen wie der US-Armee. Zukünftig wird sich diese Aufgabe wahrscheinlich erheblich ausweiten.

Daneben ist die Commerzbank führend bei der Umsetzung der Strategie der zivil-militärischen Zusammenarbeit - trotz Finanzkrise. Sie veranstaltet zusammen mit der Bundeswehr regelmäßige Treffen, bei denen strategische Absprachen zur engeren Anbindung der zivilen Eliten aus Politik, Industrie und Wirtschaft an die militärischen Strukturen getroffen werden. So wird eine Militarisierung nach innen forciert - es formiert sich ein militärisch-ökonomischer Komplex, der sich in die Lage versetzt, weltweit Besatzungsregimes zu installieren. DHL und Commerzbank sind ganz vorne mit dabei.


Eingreifen!

Beide Konzerne bieten breite Angriffsflächen. Sie unterhalten Filialen und Einrichtungen in allen Städten. Hier lässt sich leicht eine Vielzahl von öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten entfalten. Der Schulterschluss von Wirtschaft und Militär kann so thematisiert und angegriffen werden. Die praktische Zusammenarbeit verschiedener linker Gruppen kann ein wichtiger Schritt sein, die Handlungsoptionen antimilitaristischer Arbeit zu erkennen und gemeinsam einen Schritt weiter zu kommen. Bildet lokale Aktionskreise! Seid aktiv an den Aktionstagen!


Beteiligt euch an den Aktivitäten gegen die NATO!

Die Tage um den 3. und 4. April 2009 werden Tage des vielfältigen Widerstandes sein. Bundesweite und internationale Bündnisse organisieren einen Kongress, Camps, Demos, Blockaden und andere Aktionen. Es geht uns um Entschlossenheit im Handeln und eine kollektive Erfahrung von Gegenmacht! Es wird am 3. April 2009 in Baden-Baden eine Reihe von verschiedenen Aktionen geben. Am 4. April 2009 wird eine große internationale Demonstration in Strasbourg stattfinden, die lautstark und kraftvoll ein Zeichen des Widerspruchs zu der Kriegspolitik der NATO-Staaten auf die Straße trägt.

Wir, die Interventionistische Linke, werden Teil dieser Demo sein. Wir rufen auf zu einem internationalistischen Block! Darüber hinaus wird die IL sich an einem Belagerungskonzept beteiligen, das eingreift in die Planungen der Regierenden, das blockiert, das umzingelt, das den geplanten Ablauf der KriegstreiberInnen ins Trudeln bringen will. Unser Ziel ist eine Intervention gegen das Getriebe der Macht, entschlossen, voller Wut all derjenigen, die die Schnauze voll haben von den Verhältnissen, die sie nicht mehr ertragen, die eine andere Welt für nötig und möglich halten.


COMMERZBANK

Die Commerzbank ist Vorreiter der deutschen Wirtschaft bei der Umsetzung der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Beim letzten jährlichen "Celler Dialog", das von Commerzbank und Kriegsministerium veranstaltet wird, verabschiedeten über hundert hohe WirtschaftsvertreterInnen, PolitikerInnen und Militärs einen Appell. Darin heißt es:

"Wir starten eine Initiative zur Förderung der Reservisten in Industrie und Wirtschaft, zur Vertiefung der persönlichen Kontakte und zur Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit." Dabei geht es ihnen vor allem um eine engere Anbindung der zivilen Eliten an die militärischen Strukturen. Doch das ist noch nicht alles. Peter Müller, der ehemalige Vorstandschef und jetzige Aufsichtsratsvorsitzende der Commerzbank, Oberstleutnant der Reserve und Präsident des Bundesverbandes Deutscher Banken, sehnt sich nach mehr. Mit Blick auf dasgroße öffentliche Interesse am "Auslandseinsatz" der deutschen Nationalelf bei der Fußball-EM sagte er: "Ich wünsche mir einen Bruchteil dieser wohl verdienten Aufmerksamkeit auch für die täglichen, seit Jahren erbrachten Höchstleistungen unserer Soldatinnen und Soldaten, gerade jener im Auslandseinsatz. Die Mannschaftsleistung der Bundeswehr verdient mehr Wertschätzung, mehr Unterstützung - ideell, aber auch materiell!"

So wird eine Militarisierung nach Innen forciert - es formiert sich ein militärisch-ökonomischer Komplex, der sich in die Lage versetzt, weltweit Besatzungsregimes zu installieren. Die Commerzbank ist ganz vorne mit dabei.


DHL

Die DHL, eine Tochter der Deutschen Post, klebt seit September großformatige Plakate, die mit dem Abbild eines uniformierten Afghanistan-Kämpfers werben. Die Plakatkampagne soll "den Soldatenberuf in der Gesellschaft präsent machen", heißt es bei der Deutschen Post, die einen eigenen "Konzernrepräsentanten Military Affairs Bundeswehr/NATO" beschäftigt. Die Deutsche Post profitiert in zunehmendem Maße von den Kriegseinsätzen der Bundeswehr im Ausland. Allein der Umfang der Feldpost nähert sich dem Postaufkommen einer Großstadt. Die rund 500 Konzernmitarbeiter, die als "Postsoldaten" von der Feldpostleitzentrale in Darmstadt gesteuert werden, sind sämtlich aktive Bundeswehrreservisten. Hinzu kommen umfangreiche Aufträge in der Militärlogistik, die der weltweit führende Logistikkonzern akquirieren will. Die Deutsche Post hat schon 2002 einen Rahmenvertrag mit der Truppe geschlossen, dem zufolge sie national und international den Versand von eiligen Dokumenten und leichtem Material übernimmt. Demnächst wird entschieden, wer den mit Abstand größten Logistikauftrag der Bundeswehr erhält - für "Lagerung und Bewirtschaftung von Material" und für "Transportleistungen für Material, Sanitätsmaterial, Munition, Betriebsstoffe und begleitendes Personal". Dabei geht es insbesondere auch um Munitionstransport sowohl innerhalb Deutschlands als auch in die Manöver- und Kriegsgebiete in aller Welt. Es wird mit einem Milliardenvolumen gerechnet und der Deutschen Post eine gute Chance bei der Akquise zugeschrieben. Schließlich ist die Firma schon jetzt in erheblichem Maße für die Bundeswehr (und für die US-Armee) aktiv.


Für eine antimilitaristische und internationalistische Bewegung!


*


Liebe Genossinnen und Genossen,
wenn wir Anfang April Polizei und NATO gegenüberstehen, brauchen wir jede Menge Unterstützung. Auch schon im Vorfeld. Die Freiburger Ortsgruppe allein kann das nicht stemmen. Daher unser Aufruf an euch: Beteiligt euch an der Vorbereitung und an den Aktionen. Antirepressionsstrukturen, Betreuung und viele andere Aufgaben warten auf euch. Bitte wendet euch an die Freiburger (freiburg@rote-hilfe.de), sie können euch sagen, wie ihr genau helfen könnt.

Weitere Informationen unter
http://natogipfel2009.blogsport.de bzw. über natogipfel2009@riseup.net

Raute

REPRESSION

Ein Kammerspiele in 24 Akten

Neues vom mg-Prozess aus Berlin

Von ProzessbeobachterInnen aus Berlin

Seit dem 25. September 2008 findet vor dem Kammergericht (OLG) in Berlin-Moabit der Prozess gegen die Antimilitaristen Axel, Oliver und Florian statt. Ursprünglich waren 17 Prozesstage angesetzt, nun wurden sieben weitere Termine bis Mitte Februar verkündet. In der Anklageschrift wird den drei Beschuldigten vorgeworfen, als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, der seit 2001 agierenden "militanten gruppe" (mg), im Juli 2007 einen Brandanschlag auf drei Bundeswehr-LKWs auf dem Gelände der Firma MAN in Brandenburg an der Havel begangen zu haben.

Zum Prozess kamen bisher immer wieder zahlreiche interessierte Besucher und Besucherinnen, darunter auch ehemalige Parlamentsabgeordnete, Professoren und Professorinnen und internationale Beobachter, um die Angeklagten solidarisch zu begleiten und den Prozess zu verfolgen. Auch die Prozessbesucher und -besucherinnen sind von einer vom Kammergericht erlassenen "Sicherheitsverfügung" unmittelbar betroffen. So beginnt ein Prozesstag damit, sich lange vor Eröffnung der Verhandlung an der Pforte einzufinden, um sich einer genauen körperlichen Durchsuchung zu unterziehen. Außer einem Blatt Papier und einem Bleistift durfte in den ersten Verhandlungstagen nichts mit in den Gerichtssaal genommen werden. Mittlerweile wurden von der Verteidigung der Angeklagten auch Kugelschreiber, mehrere Blätter und eine ganze Packung Taschentücher für jeden Prozessbesucher erkämpft. Daneben werden die Personalausweise aller Besucher kopiert, um laut dem Vorsitzenden mögliche "Störer" identifizieren zu können. Die Verteidigung äußerte jedoch den begründeten Verdacht, dass die ermittelten persönlichen Daten darüber hinaus auch anderen Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellt werden, wie es bereits in vergleichbaren Prozessen geschehen ist.

Während der Verhandlung halten sich sowohl im Zuschauerraum als auch im Verhandlungssaal insgesamt sechs bewaffnete Polizisten oder Polizistinnen auf, die für Ruhe und Ordnung sorgen sollen. Inwiefern diese Beamten auch einem Ermittlungsauftrag gegen geladene Zeugen und Zeuginnen beziehungsweise Prozessbesuchern und Besucherinnen nachkommen, kann nur vermutet werden. Die Vertreter der Bundesstaatsanwaltschaft (BAW) sind durch eine Panzerglasscheibe vor "Angriffen" geschützt. Die zahlreichen Anträge der Verteidigung zur Lockerung der Sicherheitsverfügung wurden bisher vom Vorsitzenden abgelehnt. Auf Antrag des Bundeskriminalamts (BKA) ließ der Vorsitzende Richter Hoch zwei Prozessbeobachter dieser Behörde an der Verhandlungteilnehmen. Aus dem schriftlichen Antrag des BKA geht hervor, dass neben Ausbildungszwecken die Berichterstattung an politische Entscheidungsträger und "Umfeldausspähungen", also die Identifizierung von Sympathisierenden aus der linksradikalen Szene, der eigentliche Grund für die Teilnahme der Beamten sind.

Am ersten Verhandlungstag verlas die BAW die Anklageschrift gegen die drei Beschuldigten. Axel, Oliver und Florian verweigerten hierzu die Aussage. Axel verlas jedoch im Namen der drei Angeklagten eine Prozesserklärung, die sich inhaltlich mit der anzuprangernden Kriegspolitik der BRD und Nato und den unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Kriegsakteure wie Rüstungskonzerne und kriegstreiberische Regierungen beschäftigt, die die Toten und Kriegsflüchtlinge verschleiernd als "Kollateralschäden" abtun. Es heißt darin, "auf die Anklagebank gehören Kriegstreiber, Kriegsbefürworter und Rüstungskonzerne. Sie sind die kriminellen Vereinigungen. Sie sind anzuklagen." Weiter führen die Angeklagten in ihrer Erklärung aus, dass Sabotage ein Teil eines Rechtes auf Widerstand sei, die im besten Fall Schlimmeres, nämlich Kriegseinsätze, verhindern helfe. Zu der Bedeutung ihres Prozesses führen sie aus: "Das Verfahren gegen uns kann so auch zu einem exemplarischen Verfahren werden, um zukünftig mit dem Paragraphen 129 vom Farbbeutelwurf bis zum Straßenriot viele Mittel gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu kriminalisieren und mit einem Feindstrafrecht zu bestrafen, das vom normalen Strafrecht abgespalten wird". (Die vollständige Prozesserklärung ist auf der Website des Einstellungsbündnisses zu finden.)

Probleme gab es von Beginn an mit den "Ermittlungsakten". Sie waren zum Teil völlig unleserlich, vor allem aber unvollständig, da verfahrensrelevante Akten aus einem anderen mg-Verfahren von 2001 der Verteidigung nicht zur Verfügung standen. Beides stellt einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar, wie er in der Europäischen Menschenrechtskonvention in Artikel 6 verankert ist. Bezeichnend ist jedoch, dass diese fehlenden Akten aus dem anderen Verfahren komplett dem Bundesgerichtshof (BGH) zur Haftprüfung vorgelegen haben.

Ein laxer Umgang mit Ermittlungsergebnissen fand sich bei der Präsentation verschiedener Asservate (beschlagnahmte Gegenstände). So war zum Beispiel bei vielen Gegenständen deren genauer Fundort, weiterer Verbleib nach der Abnahme und deren Weitergabe für die Zeugen der Polizeibehörden auf Nachfrage häufig nicht dokumentiert und nicht mehr nachvollziehbar. Neben "Gedächtnislücken" der Zeugen und Zeuginnen des BKA fiel auf, dass sich das BKA keine große Mühe um eine genaue Beweisführung machte. So wurden beispielsweise erst auf Nachfrage der Verteidigung Observationslücken am Festnahmetag oder eine nachträglich gemachte Einfügung in einen Observationsbericht des BKA, mit der erst ein Treffen der Angeklagten als "konspirativ" bewertet wurde, offenbar. Diese Art der Beweisführung bringt einen als arrogant zu bezeichnenden Habitus der ermittelnden Organe einschließlich der BAW gegenüber den Angeklagten, der Verteidigung und nicht zuletzt auch gegenüber der Öffentlichkeit zum Ausdruck. Es entsteht der Eindruck, die BAW wolle die Gegenseite "vorführen" und einen fairen Prozess "vorgaukeln".

Es wird abzuwarten sein, wie der Senat diesen Umstand in seiner Urteilsverkündung bewerten wird. Bisher verzichtete der Senat häufig auf eine genaue Befragung der geladenen Zeugen und Zeuginnen. Zudem wurde an verschiedenen Stellen im Prozess deutlich, dass eine kontinuierliche und intensive Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Ermittlungsorganen in diesem Verfahren existiert, die dem Trennungsgebot zwischen Geheimdiensten und Ermittlungsbehörden laut Grundgesetz widerspricht. Den regen Austausch zwischen BAW und dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Zuge der Ermittlungen bestätigte Bundesanwalt Herbert Diemer in einem Interview in der RBB-Abendschau am 25. September 2008. Neben einem "Vorbereitungstreffen" von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des BKA, bei dem auch Unterlagen vom BfV übergeben wurden, wurde in der Verhandlung bekannt, dass das BfV, das BKA und die BAW (relevante) Unterlagen, die die Ermittlungen betreffen, untereinander hin- und hergeschoben haben. Zudem hat die BAW direkten Einfluss darauf, welche Informationen vom BfV in das Verfahren oder die Ermittlungen einfließen und welche nicht. Auf der anderen Seite ist es skandalöserweise aber auch möglich, dass das BfV die Aussage einer unbekannten "nachrichtenehrlichen Quelle" (Spitzel) einfach in die Verhandlung einführen kann, ohne dass von Seiten der BAW die Aussage dieser Quelle überprüft wird. Dass das Verfahren vom Bundesamt für Verfassungsschutz zumindest mitgesteuert wird, ist hiermit klar ersichtlich. Interessant wird sein, welchen Beweiswert der Vorsitzende Hoch den "aus dem Hut gezauberten" Aussagen der unbekannten Quelle beimessen wird.

Die Befragungen der Zeugen und Zeuginnen, mehrheitlich Angestellten des BKA und LKA, die teilweise "verfremdet" (verkleidet) vor Gericht erschienen, wurden nahezu zu einer Farce. Häufig verweigerten die Beamten die Aussage mangels einer "Aussagegenehmigung" ihres Vorgesetzten zu bestimmten Themenkomplexen. Das von der Behörde ausgestellte Formblatt, in dem als nicht aussagefähige Bereiche zum Beispiel "polizeitaktische Maßnahmen" allgemein umrissen werden, sorgte für Protest bei der Verteidigung. Sie forderte den Vorsitzenden Hoch auf alle Mittel auszuschöpfen, um den Rahmen für eine umfassendere Befragung der Zeugen und Zeuginnen zu klären. So soll "Entlastendes nicht zurückgehalten werden nur um die Funktion einer Behörde zu verbessern". Da der Vorsitzende Hoch dieser Forderung in keiner Weise nachkam, stellte die Verteidigung gegen ihn einen Befangenheitsantrag. Über die von der Verteidigung gestellten Eilanträge beim Verwaltungsgericht, um die Eckpunkte der Aussagegenehmigungen klären zu lassen, ist aktuell noch nicht entschieden. Es ist noch unklar, welches Verwaltungsgericht zuständig ist. Hier fahren die Behörden eine reine Verzögerungstaktik.

Zwei weitere Erklärungen der Verteidigung befassten sich inhaltlich mit Aktivitäten der mg. Zur Verschickung von Patronen an Entscheidungsträger und -trägerinnen (beispielsweise leitenden Mitarbeitern von Sozialämtern) stellte die Verteidigung heraus, dass es sich dabei um einen symbolischen Akt handelt um strukturelle Gewalt darzustellen und sie am eigenen Leib erlebbar werden zu lassen. Aus Erklärungen der mg wird nachvollziehbar, dass sie keine konkreten Anschläge auf Menschen geplant hat, sondern dass eine Gefährdung von Menschen gerade immer vermieden wurde.

In einer zweiten Erklärung zur maßgeblichen Autorenidentität der Anschlagserklärungen stellte die Verteidigung in Frage, dass alle Anschlagserklärungen von derselben Gruppe stammen und widersprach damit der von der BAW angeführten Behauptung einer Autorenidentität mit anderen Anschlagserklärungen. Vielmehr zeige eine genaue Textanalyse, dass die Anschlagserklärungen zum einen von verschiedenen Personen geschrieben wurden. Eine "unterschiedliche Schwerpunktsetzung und inkonsequente Anknüpfungen" an vorangegangene Aktionen veranlassten die Verteidigung zum Zweiten zu der Annahme, dass es sich bei der mg um "inhaltlich wie logistisch selbständig arbeitende Gruppen handelt".

Insgesamt legen das bisher Beschriebene und der Umstand, dass die meisten Anträge der Verteidigung rigoros abgelehnt wurden, den Schluss nahe, dass ihre Arbeit massiv beeinträchtigt werden soll. Auch die wenig sorgfältig anmutenden und knapp gehaltenen Zeugenbefragungen durch den Vorsitzenden Hoch und der BAW stimmen hier nachdenklich. Ebenso sind die "Prozessbeobachter" des BKA ein Versuch, die Zeugen und Zeuginnen der Verteidigung, aber auch die Öffentlichkeit einzuschüchtern. Allein die oben erwähnte Sicherheitsverfügung wie die Präsenz bewaffneter Polizeibeamter im Saal hat einen stigmatisierenden und vor-verurteilenden Charakter, der keinen Zweifel aufkommen lässt, wie die drei Angeklagten von dem Berliner Strafsenat eingeschätzt werden. Aufmerksame Prozessbesucher können sich ob des Tuns des Vorsitzenden Hoch und der BAW oftmals des Eindrucks nicht erwehren, einen Schauprozess mitzuerleben. Einen Prozess, der ausschließlich der Form halber geführt wird, dessen endgültiges Urteil aber bereits feststeht. Denn auch bei einem Kammerspiel hat der Autor das Ende schon geschrieben. Mit einer harten Verurteilung würde jedoch ein Exempel statuiert, das zukünftigen Verfahren und auch Ermittlungen die Bahn ebnet. Nicht vergessen darf man an dieser Stelle auch die Ermittlungsorgane, deren Ermittlungen im Rahmen der vergangenen mg-Verfahren sicherlich Unsummen verschlungen haben und die nun unter großem Druck stehen, einen Erfolg vorzuweisen, um ihre weitere Arbeit vor einer breiten Öffentlichkeit und politischen Entscheidungstragenden legitimieren zu können.


Weitere Informationen und neueste Entwicklungen zum Prozess unter
http://einstetiung.so36.net

Raute

REPRESSION

Geheimdienstliche Langzeit-Beobachtung nach 38 Jahren eingestellt

Internationale Liga für Menschenrechte

Klage und Proteste zeigen Wirkung: Bundesinnenministerium und Bundesamt für Verfassungsschutz geben die Bespitzelung von Dr. Rolf Gössner endlich auf


Kurz vor dem ersten Verhandlungstermin im "Klageverfahren Dr. Gössner gegen Bundesrepublik Deutschland" am 20. November 2008 vordem Verwaltungsgericht Köln teilte das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Gericht überraschend mit, "(...) dass die Beobachtung des Klägers - nach aktuell erfolgter Prüfung durch das Bundesministerium des Innern und das Bundesamt für Verfassungsschutz - eingestellt worden ist. Die hier zum Kläger erfassten Daten werden ab sofort gesperrt. Von der Löschung der Daten wird - trotz ihrer Löschungsreife - insbesondere wegen der anhängigen Auskunftsklageverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss der Verfahren abgesehen."

Mit dieser Mitteilung fand eine rekordverdächtige 38-jährige Überwachungsgeschichte endlich ihr Ende. "Es hat den Anschein, als habe das Bundesamt mit diesem Überraschungscoup seiner wahrscheinlichen Verurteilung zuvor kommen wollen", meinte der Freiburger Anwalt Dr. Udo Kauß, der die Klage des Rechtsanwalts, Publizisten und heutigen Vizepräsidenten der "Internationalen Liga für Menschenrechte", Rolf Gössner, gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) vertritt. Mit dieser Klage verlangte Gössner Auskunft über sämtliche Daten, die der Verfassungsschutz in vier Jahrzehnten zu seiner Person erfasst und gespeichert hat. Außerdem klagt er auf Löschung beziehungsweise Sperrung der Daten sowie auf Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner geheimdienstlichen Dauerüberwachung.

Mit Erleichterung nahm der Vorstand der "Internationalen Liga für Menschenrechte" zur Kenntnis, dass dieses Verfahren und die vielfältigen Proteste von Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften und Schriftstellern gegen die Langzeitbeobachtung Rolf Gössners endlich zu einem positiven Ergebnis und zur Beendigung dieses bundesdeutschen Dauerskandals geführt haben - auch wenn damit die gerichtliche Auseinandersetzung um die Daten und Akten noch lange nicht ausgestanden ist. Die Liga fordert deshalb weiterhin, sämtliche Geheimdienstdaten dieses Falles offenzulegen!

"Das Bundesamt für Verfassungsschutz konnte während des bisherigen Gerichtsverfahrens zu keinem Zeitpunkt plausibel darlegen oder gar beweisen, weshalb die geheimdienstliche Beobachtung von Rolf Gössner über einen Zeitraum von 38 Jahren zum Schutz der Verfassung notwendig gewesen sein soll", konstatierte sein Anwalt Udo Kauß. Nach Auffassung der Liga handelt es sich um eine "schwere Verletzung von Grundrechten und des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit, für die das Bundesamt und die politisch Verantwortlichen im Bundesinnenministerium endlich zur Rechenschaft gezogen werden müssen".


Zur Geschichte eines bundesdeutschen Dauerskandals

Rolf Gössner ist seit 1970 bis Mitte November 2008 ununterbrochen vom bundesdeutschen Inlandsgeheimdienst "Bundesamt für Verfassungsschutz" (BfV) beobachtet worden - als Jurastudent, später als Gerichtsreferendar und seitdem ein Arbeitsleben lang in allen seinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen als Publizist, Rechtsanwalt, Parlamentarischer Berater, als Repräsentant der "Internationalen Liga für Menschenrechte" sowie als Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises "BigBrotherAward".

Dadurch sind nicht nur seine Persönlichkeitsrechte auf Informationelle Selbstbestimmung sowie seine Grundrechte auf Meinungs- und Berufsfreiheit beeinträchtigt, sondern auch wichtige Berufsgeheimnisse gefährdet worden, insbesondere das Mandatsgeheimnis und der Informantenschutz und die ausforschungsfreie Sphäre, die für unabhängige Menschenrechtsgruppen unabdingbar ist. Selbst seine Wahl zum Deputierten der Bremer Bürgerschaft sowie zum stellvertretenden Richter des Bremischen Staatsgerichtshofs im Jahr 2007 führte nicht dazu, dass seine Beobachtung eingestellt wurde. Im Gegenteil: Das BfV erklärte den Kölner Verwaltungsrichtern wortreich, dass der Geheimdienst auch Richter, trotz ihrer verfassungsrechtlich garantierten Unabhängigkeit, beobachten dürfe.

Grund für die jahrzehntelange Überwachung ist laut BfV, dass Rolf Gössner Kontakte zu Gruppen und Personen habe, die der Verfassungsschutz als "linksextremistisch" oder "linksextremistisch beeinflusst" einstuft. Dazu zählen etwa die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN) und die Rechtshilfegruppe "Rote Hilfe e.V.". Bei den über den Kläger gesammelten "Sünden" handelt es sich insbesondere um seine Artikel, Reden und Interviews, die in bestimmten Publikationen - etwa in der Tageszeitung "junge Welt" - erschienen sind sowie um Vorträge und Lesungen mit bestimmten Organisatoren, wie etwa der VVN und anderen. Mit solchen Aktivitäten unterstütze der Kläger diese "Personenzusammenschlüsse" nachhaltig in ihren "verfassungsfeindlichen Zielen", so das BfV. Dabei sind sogar Berichte über Rolf Gössner oder Rezensionen seiner Bücher in solch inkriminierten Medien Bestandteil seiner Personenakte.

Letzten Endes wurde Rolf Gössner eine Art "Kontaktschuld" zur Last gelegt - nicht etwa eigene verfassungswidrige Beiträge oder Bestrebungen. Es handelt sich bei all diesen inkriminierten Beiträgen ausschließlich um Berufskontakte im Rahmen seiner beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten, insbesondere seiner Bürger- und Menschenrechtsarbeit. Gesammelt hat das BfV vorwiegend seine zahlreichen Publikationen und Aufrufe, in denen er sich kritisch mit den Praktiken der Sicherheitsorgane, besonders auch der Geheimdienste auseinandersetzt. Dabei gerieten auch seine Buchpublikationen in renommierten Verlagen, seine Aufsätze und Interviews etwa in der Frankfurter Rundschau, im Freitag oder Weser-Kurier ins Visier des Geheimdienstes (vgl. dazu u.a. www.stern.de/politik/deutschland/612872.html).


Prozessgeschichte, Stand und Fortgang des Verfahrens

Bereits im Frühjahr 2006 hatte Rolf Gössner, vertreten durch den Freiburger Anwalt Dr. Udo Kauß, gegen die Bundesrepublik Deutschland Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln einreicht. Die Klage war gerichtet auf vollständige Auskunft über alle zu seiner Person gespeicherten Daten, weil das BfV ihm die Auskunft über zahlreiche als Verschlusssachen eingestufte Informationen verweigerte - aus Gründen der "Geheimhaltung" und "Ausforschungsgefahr" sowie zum Schutz von "Quellen". Inzwischen musste das Bundesamt Auszüge aus Gössners Personenakte vorlegen, die den Zeitraum von 2000 bis heute betreffen: über 500 von insgesamt etwa 2000 Seiten - zu einem großen Teil allerdings mit geschwärzten Textstellen und fehlenden Seiten. Inzwischen hat das Verwaltungsgericht Köln das Bundesamt dazu verurteilt, die gesamte Personenakte vorzulegen, also auch für den Zeitraum 1970 bis 2000.

Die Verheimlichung ganzer Aktenteile geht auf eine Sperrerklärung des Bundesinnenministeriums als oberster Aufsichtsbehörde zurück. Begründung: Das Bekanntwerden ihres Inhalts würde dem "Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten" und es handele sich um Vorgänge, die "ihrem Wesen nach geheim" seien. Die Geheimhaltung diene dem Schutz der Informationsquellen, deren Identität nicht enttarnt werden dürfe ("Quellenschutz" etwa von Hinweisgebern oder V-Leuten). Sie diene auch dem Schutz der verdeckten Arbeitsweise und der operativen Interessen des BfV (Ausforschungsgefahr). Im Übrigen könne die Bekanntgabe solcher Informationen an den Kläger zu einer "Gefährdung von Leben, Gesundheit oder Freiheit" von V-Leuten, Informanten und VS-Bediensteten führen, die Repressalien befürchten müssten.

Gegen diese Aktenverweigerung hat der Kläger inzwischen das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) angerufen, das nun die Rechtmäßigkeit der Sperrerklärung in einem so genannten In-camera-Verfahren (Geheimverfahren) zu überprüfen hat. Mit Beschluss vom 30. Oktober 2008 hat das BVerwG dem Bundesamt auferlegt, den Bundesrichtern die gesperrten Aktenteile zur Überprüfung vorzulegen.

Mit der nun abgegebenen Erklärung des BfV, Rolf Gössner nicht weiter zu beobachten und die Daten zu sperren, ist das Verfahren also keineswegs beendet. Die gerichtliche Auseinandersetzung um vollständige Auskunft über sämtliche Datensammlungen geht weiter - ebenso wie die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der geheimdienstlichen Langzeitbeobachtung.


Schwere Verletzung von Grundrechten und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

Das Bundesamt für Verfassungsschutz konnte während des bisherigen Verfahrens zu keinem Zeitpunkt plausibel darlegen oder gar beweisen, weshalb die geheimdienstliche Beobachtung von Rolf Gössner über einen Zeitraum von 38 Jahren zum Schutz der Verfassung notwendig gewesen sein soll. Diese Überwachung des Klägers, der seine verfassungskonformen Beiträge in aller Öffentlichkeit präsentiert, über einen derart langen Zeitraum steht außer Verhältnis zur Schwere der damit verbundenen Grundrechtseingriffe. Nach Auffassung der "Internationalen Liga für Menschenrechte" handelt es sich um eine schwere Verletzung von Grundrechten und des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit, für die das Bundesamt und die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

Der Vorstand der Liga fordert das Bundesamt für Verfassungsschutz und das für den Inlandsgeheimdienst verantwortliche Bundesinnenministerium auf, sämtliche über Rolf Gössner jahrzehntelang erfassten Daten offenzulegen. Nach Auffassung der Liga hat dieses Verfahren über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung. Denn es geht um ein brisantes Problem, das auch andere Publizisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtler betrifft: Welche Grenzen sind den demokratisch kaum kontrollierbaren Geheimdiensten und ihren klandestinen Aktivitäten gezogen - besonders im Umgang mit Berufsgeheimnisträgern und im Rahmen unabhängiger Menschenrechtsarbeit von Nichtregierungsorganisationen? Hierauf muss endlich eine demokratische und bürgerrechtliche Antwort gefunden werden.

Raute

REPRESSION

Gefährliche Entgrenzung

Zum neuen Antiterror-Strafrecht

Rolf Gössner

Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf verabschiedet, mit dem der Besuch von Terrorcamps künftig bestraft werden kann. Diesem Anliegen von Innenminister Wolfgang Schäuble stimmt SPD-Justizministerin Brigitte Zypries zwar zu, hält es trotzdem für ein verfassungsrechtlich heikles Terrain. Im künftigen neuen Strafrecht ist dies ein Grenzfall.


Schon wieder wird im Antiterrorkampf an der Aufrüstungsspirale gedreht. Geht es nach dem Bundeskabinett, dann soll künftig jemand schon dafür bestraft werden, dass er Kontakt zu einer mutmaßlichen Terrorgruppe aufnimmt - ein einmaliges Treffen soll ausreichen. Oder dass er sich in einem Ausbildungslager, einer Flugschule oder in einem Steinbruch im Umgang mit bestimmten Waffen oder Stoffen unterweisen lässt. Diese neuen Regelungen bedeuten - so ist sich Bundesjustizministerin Brigitte Zypries bewusst - eine Verlagerung der Strafbarkeit sehr weit ins Vorfeld des Verdachts und strafbarer Handlungen - verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Doch um solchen Bedenken zu begegnen, hat Frau Zypries nach langem Ringen mit ihrem Ministerkollegen Wolfgang Schäuble durchsetzen können, dass die verdächtige Person zusätzlich die Absicht haben muss, eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorzubereiten.

Sind damit, wie die Justizministerin versichert, rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt? Mitnichten. Denn mit dem neuen Staatschutzrecht wird ein neues uferloses Antiterrorsystem aufgebaut - parallel zu dem berühmt-berüchtigten Paragrafen 129a Strafgesetzbuch, der die Bildung einer terroristischen Vereinigung, die Mitgliedschaft und das Unterstützen unter Strafe stellt. Zweck oder Tätigkeit einer solchen terroristischen Vereinigung müssen darauf gerichtet sein, bestimmte Delikte - von Mord bis zu schweren Sachbeschädigungen - zu begehen. Entsprechende Zielsetzungen reichen jedoch schon aus, den Tatbestand zu erfüllen - Straftaten müssen noch keine begangen worden sein. Schon mit diesem Antiterrorsystem der ersten Generation aus den 1970er Jahren ist also eine Vorfeldkriminalisierung verbunden.

Galten in Zeiten der RAF solche Organisationen mit einer Mindestgröße von drei Mitgliedern noch im Vergleich zu Einzeltätern als weit gefährlicher, so hat sich diese Sicht in Zeiten des "islamistischen Terrorismus" geändert. Das neue Terrorstrafrecht sei angesichts der zwei Kofferbomber und der mutmaßlichen Anschlagsplanungen der so genannten Sauerland-Gruppe notwendig, weil es sich hier um Täter handele, die - anders als bei der RAF - ohne feste Einbindung in hierarchisch aufgebaute Gruppen agieren, so dass die Paragrafen 129a und b auf sie nicht anwendbar seien. Deshalb sollen nun auch Einzeltäter, Zweiergruppen und lose Netzwerke ohne jeglichen Bezug zu einer terroristischen Vereinigung wie festgefügte Terrorgruppen behandelt werden und auch das ganze Ausforschungsarsenal des bestehenden Antiterrorsystems zu spüren bekommen. Die Strafandrohung: bis zu zehn Jahre Freiheitsentzug. So plausibel eine Strafandrohung etwa im Fall einer Ausbildung in einem ausländischen "Terrorcamp" auf den ersten Blick erscheinen mag, so problematisch ist sie bei genauerem Hinsehen. Wie will man beweisen, dass jemand in einem Trainingslager zum Terroristen umgeschult und tatsächlich ein solcher geworden ist? Dass er unmittelbar und konkret Gewalttaten vorhat, soll offenbar keine Voraussetzung sein - ein subjektiver Anschlagswille reicht; wie aber soll der bewiesen werden? Wir haben es also mit einem Gefährdungsdelikt ohne konkreten Tatbezug weit im Vorfeld des Verdachts zu tun - eine unverhältnismäßige und gefährliche Entgrenzung des herkömmlichen Tatstrafrechts. Und aufgrund welcher Erkenntnisse soll etwa die Art des Kontakts, des Camps und der Fortbildung beurteilt werden? Will man sich dann etwa auf dubiose Erkenntnisse von Geheimdiensten verlassen oder auf Aussagen, die im Ausland unter Folter zustande gekommen sind? Auch das wäre mit rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Standards nicht zu vereinbaren.

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REPRESSION

Wahlkampfmunition für Hamburgs Rechte

Polizeiliche Kriminalstatistik wird instrumentalisiert

Redaktion Pressback, Hamburg

Anfang dieses Jahres forderte der ehemalige Hamburger Innensenator Nagel die separate Erfassung von Straftaten Deutscher mit Migrationshintergrund durch die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Bisher unterscheidet die PKS nach "Deutschen" und "Nichtdeutschen". Der Forderung schlossen sich Schäuble und in jüngster Zeit auch der niedersächsische Innenminister Schünemann an. Dies sei bundesweit notwendig, um gezielte Präventionsmaßnahmen gegen Jugendgewalt zu ermöglichen.

Dabei ist die Heranziehung der PKS zur Erarbeitung von Präventionsmaßnahmen grundsätzlich kaum geeignet, da sie kein Abbild der tatsächlichen Verbrechenswirklichkeit darstellt. Sie trifft weder eine Aussage darüber, wie viele der polizeilich verdächtigten Personen tatsächlich verurteilt wurden, noch kann sie Auskunft über die der Polizei verborgen gebliebene Kriminalität geben. Zudem kommt es durch das Weglassen bedeutender Faktoren zur Verzerrung der Wirklichkeit, wie zum Beispiel bei dem Vergleich zwischen Straftaten "Deutscher" und "Nichtdeutscher": Ein erheblicher Teil der von "Nichtdeutschen" begangenen Straftaten entfällt auf Durchreisende oder Touristen. Ein Viertel der den "Nichtdeutschen" zur Last gelegten Taten beruhen auf Verstößen gegen das Asylverfahrens- und Aufenthaltsgesetz - Straftaten also, die von "Deutschen" nicht begangen werden können. Studien belegen, dass gegenüber "Nichtdeutschen" eine höhere Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung sowie eine höhere Verfolgungswahrscheinlichkeit durch die Polizei besteht. Sie leben häufiger in Großstädten, welche allgemein eine höhere Kriminalitätsrate aufweisen. Auch ist der Anteil der - stets stärker kriminalitätsbelasteten - jungen Männer in der Gruppe der "Nichtdeutschen" höher als bei den "Deutschen". Weiterhin wird nicht berücksichtigt, dass "nichtdeutsche" Jugendliche - wie auch eingebürgerte Migrantinnen und Migranten - überwiegend schlechtere Startbedingungen haben: Sie sind häufiger von Arbeitslosigkeit und Verarmung betroffen, haben schlechtere Bildungsabschlüsse und leiden unter einem sozial selektiven Bildungssystem und Diskriminierung bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche.

Sollte der Hintergrund der Forderung bestimmter Politikerinnen und Politiker, bei den "deutschen" Staatsangehörigen nach ethnischer Herkunft zu differenzieren, vielleicht gar nichts mit Kriminalprävention zu tun haben? Vielmehr besteht die Gefahr, dass die so erlangten Daten plakativ und pauschalisierend für Wahlpropaganda und zur Rechtfertigung von Gesetzesverschärfungen genutzt werden - wie jüngst wieder im Rahmen der hessischen Landtagswahl zu beobachten war.

Kriminalprävention aber kann nach aktuellem Forschungsstand am Besten unabhängig von der PKS, auf der Grundlage gezielter Kriminalitätsforschung und vor allem durch eine gute Sozialpolitik erreicht werden. Durch die in den Medien und der öffentlichen Debatte vorgenommenen Zuschreibungen wie Hautfarbe, Nationalität oder Glaubensrichtung von Straftätern und Straftäterinnen wird währenddessen weiter an der Ethnisierung des Problems gearbeitet: Allgemeine soziale Probleme werden bestimmten Bevölkerungsteilen angekreidet. So werden Ängste in der Gesellschaft geschürt, die den Ausbau von staatlichen Kontroll- und Repressionsinstanzen in unterschiedlichsten Bereichen ermöglichen. Die Konstruktion der oder des "ausländischen Kriminellen" dient ihrer Legitimation.

→  http://www.pressback.blogsport.de/

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REPRESSION

"Klettern gefährdet den Atomstaat"

Umweltaktivistin in Vorbeugehaft genommen

Bundesvorstand der Roten Hilfe

Cecile L., Aktivistin der Umweltorganisation Robin Wood, war nach einem Beschluss des Lüneburger Landgerichts Anfang November über drei Tage "vorbeugend" zunächst in Lüneburg und dann in der zentralen Langzeitgewahrsamannahmestelle in der Friedrich-Voigtländer-Straße in Braunschweig festgesetzt worden. Ihr wird vorgeworfen, aus Protest gegen die diesjährigen Atommülltransporte nach Gorleben an Kletter-Aktionen mehrerer Castor-GegnerInnen teilgenommen zu haben. Die anderen AktivistInnen, die wie sie auf eine Brücke am Elbe-Seiten-Kanal geklettert sein sollen, um von dort aus Transparente zu entrollen, wurden nach Personalienfeststellungen sofort wieder freigelassen.

Die völlig überzogene Zwangsmaßnahme, die ausschließlich auf der Basis eines strafrechtlich irrelevanten Ordnungswidrigkeitsvergehens erfolgte, hatte offensichtlich das Ziel, die seit Jahren bekannte Streiterin für die sofortige Stilllegung von Atomkraftwerken psychisch zu brechen und sie präventiv von weiteren Aktionen abzuhalten - stellvertretend für alle anderen, die sich quergestellt hatten oder im Begriff sind, sich weiterhin querzustellen. Sie musste sich - untergebracht in einer Art Ausnüchterungszelle - unter anderem anhören, dass sie in die Psychiatrie gehöre. Ihre Zelle wurde durchgehend beleuchtet, Stift und Papier wurden ihr verweigert und Hofgang war nur gefesselt möglich. Des Weiteren berichtet Cecile von rassistischen Anfeindungen und Diskriminierungen. Am 9. November ist sie abends endlich wieder entlassen worden.

Das repressive politische System der BRD hat wieder einmal gezeigt, wie es selbst mit Menschen umgeht, die sich an gewaltfreien Aktionsformen beteiligen und die beispielsweise von Brücken an Seilen über die Castorstrecke klettern, um dort Transparente herunterzulassen. Diese völlig überzogene Maßnahme der Polizei verdeutlicht die Tatsache, dass sich die staatlichen Maßnahmen gegen

Die Rote Hilfe verurteilt die Ingewahrsamnahme Ceciles aufs Schärfste. Ein derartiges Vorgehen der staatlichen Behörden war niemals gerechtfertigt. "Solche so genannten Langzeitingewahrsamnahmen karikieren die Grundrechte auf politischen Protest. Zu keiner Zeit wird die Maßnahme richterlich überprüft. Man fühlt sich unwillkürlich an die Käfighaltung anlässlich des G8-Protestes in Heiligendamm erinnert", sagt Mathias Krause vom Bundesvorstand der Rote Hilfe.

Die Rote Hilfe setzt nach wie vor auf die Solidarität innerhalb der linken Bewegung und wird auch weiterhin allen, die aufgrund ihrer politischen Betätigung staatlicher Repression ausgesetzt sind, nach Ihren Möglichkeiten Unterstützung zuteil werden lassen.

Angeklagt sind wenige, gemeint sind wir alle!


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Cecile bei einer ihrer Anti-Castor-Aktionen.

Raute

REPRESSION

Die zivile Todesstrafe

Redaktion Pressback, Hamburg

Die Europäische Union (EU) muss nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) die Umsetzung der UN-Maßnahmen gegen Terrorverdächtige überarbeiten.


Der EuGH kritisierte die "gezielten Sanktionen" gegen Personen und Organisationen, die auf den Listen der UNO als angebliche Unterstützer des internationalen Terrorismus geführt werden und erklärte die entsprechende EU-Verordnung für nichtig (Urteil vom 3. September 2008, Az.: C-402/05 P und C-415/05 P). Der EuGH billigte den EU-Regierungen eine Übergangsfrist von drei Monaten zu, um die Verfahrensfehler zu korrigieren. Solange bleiben die Sanktionen in Kraft.

Oft reicht ein vager Verdacht aus, um auf die schwarzen Listen der UNO oder der EU zu kommen. Die Folgen eines solchen Eintrags wirken sich geradezu kafkaesk aus. Ohne im Vorwege verständigt zu werden, werden plötzlich Bankkonten eingefroren, sämtliche geschäftliche Handlungen im Arbeits- und Berufsleben untersagt und Ausreisesperren verhängt. Nicht selten werden gleichzeitig auch alle sozialrechtlichen Leistungen gestrichen.

Ohne eine offizielle Benachrichtigung über den Verdacht und dessen Hintergründe tappen die Betroffenen tagelang im Dunkeln, bevor sie eine Ahnung von der Maßnahme und ihren Auswirkungen bekommen. Unschuldige und selbst Personen, die Opfer einer Verwechselung sind, haben nach der bisherigen Regelung faktisch kaum eine Möglichkeit, die Erfassung auf der Terrorliste überprüfen, geschweige denn korrigieren zu lassen:

Es gibt keine Anklage, kein rechtliches Gehör, keine zeitliche Begrenzung und keine unmittelbaren Rechtsmittel. In den verhandelten Fällen hatte die EU nicht einmal nachträglich die Gründe für die gravierenden Sanktionen genannt. Bereits im November vergangenen Jahres bezeichnete der Sonderermittler des Europarats Dick Marty in seinem veröffentlichten Bericht zu den Terrorlisten der UNO und der EU einen Listeneintrag als "zivile Todesstrafe".

Dem Bericht des Sonderermittlers zufolge stehen auf der Liste des UN-Sicherheitsrates 370 Menschen und 125 Institutionen, die von einem UN-Sanktionsausschuss bestimmt werden. Die EU übernimmt den Listeneintrag ohne weitere Überprüfung. Selbst führt die EU zusätzlich etwa 6o weitere Personen als terrorverdächtig. Der Ministerrat der EU entscheidet einstimmig auf Vorschlag eines Staates, wer auf die Liste kommt. Dem Vorschlag gehen Ermittlungen der Geheimdienste voraus. Menschenrechtsgruppen, höchste nationale Gerichte sowie Völkerrechtler haben die Entscheidungen der Regierungen mehrfach massiv kritisiert. Die Wertungen von Gruppen als legale Freiheitsbewegung oder verbotene Terrororganisation seien ausschließlich politisch motiviert und alles andere als objektiven und rechtsstaatlichen Kriterien zugänglich.

Den betroffenen Personen und Organisationen bleibt bisher nur die Möglichkeit, den langwierigen und umständlichen Weg über die europäischen Gerichte zu beschreiten und Verletzungen ihrer Grundrechte geltend zu machen. Sowohl über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wie auch über den EuGH konnten bereits Streichungen aus der europäischen Terrorliste erreicht werden. Mit seinem aktuellen Urteil hat der EuGH nun vorgegeben, dass auch die Umsetzung der UN-Sanktionen rechtsstaatlichen Standards entsprechen muss. Die EU müsse zumindest den Betroffenen Verteidigungsrechte zugestehen und ihnen die Möglichkeit des rechtlichen Gehörs bieten. Erstmals haben damit auch Betroffene der UN-Terrorlisten eine rechtliche Handhabe gegen die gegen sie verhängten Maßnahmen.

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Raute

REPRESSION

Der Preis der Freiheit

Redaktion Pressback, Hamburg

Wie viel Geld bekommt man in Deutschland für einen nachweislich unschuldig hinter Gittern verbrachten Tag? Nach § 7 des Gesetzes über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen für den Freiheitsentzug sind es pro Tag elf Euro. Das würde pro Jahr in Gefangenschaft eine Summe von rund 4.000 Euro ergeben - wären davon nicht noch die so genannten Vorteile abzuziehen, die eine Haft mit sich bringt. Verpflegung und Betreuung schlagen täglich mit sechs bis acht Euro zu Buche. Und wenn man davon ausgeht, dass ein Anwalt den Freispruch und die Entschädigungszahlung erreicht hat, dessen Honorar über dem erstattungsfähigen gesetzlichen Regelsatz liegt, bleibt dem Justizopfer letztlich nichts als seine Freiheit - beziffert auf imaginäre elf Euro pro Tag.

Sicherlich kann eine Entschädigung für das Einsperren und ständige Überwachen eines Menschen, für die Zerstörung seines sozialen Ansehens, seiner sozialen Beziehungen und was sonst noch mit seiner Inhaftierung einhergeht, allenfalls eine Symbolische sein. Dennoch wird mit der jetzigen Handhabungspraxis ein derartiger Grad an Zynismus erreicht, dass sich neben dem Deutschen Anwaltverein (DAV) auch Politiker für eine Anhebung des Entschädigungssatzes einsetzen. So sieht Volker Beck (Die Grünen) den Betrag als zu niedrig an: "Die Entschädigungshöhe muss die Wertschätzung der Rechtsordnung vor der Freiheit der Bürger und ihrer Menschenwürde zum Ausdruck bringen."

Wenn man sich die Frage nach einer angemessenen Entschädigung jedoch einmal stellt, muss man sich doch fragen, wo sich die vermeintlich hohe Wertschätzung des Rechts auf körperliche Freiheit wiederfinden lässt. Auf der Suche nach Hinweisen stolpert man schnell über steigende Strafrahmen oder darüber, dass die meisten Inhaftierten auf Grund von Drogen- oder Eigentumsdelikten einsitzen. Für eine geringe Wertschätzung spricht auch die allgemeine Missachtung wissenschaftlicher Studien, die belegen, dass keine abschreckende Wirkung von Freiheitsstrafen ausgeht und dass diese auch keine geringeren Rückfallquoten zur Folge haben als Geldstrafen.

Betrachtet man nicht zuletzt die Bedingungen, denen Gefangene in den Anstalten ausgeliefert sind, so erhärtet sich der Eindruck, dass die Höhe der Entschädigung nicht zufällig oder aufgrund von finanziellen Überlegungen so gering ausfällt. Wo insgesamt leichtfertig mit der Freiheit der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Menschenwürde umgegangen wird, scheinen elf Euro die Wertschätzung tatsächlich angemessen zum Ausdruck zu bringen.

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REPRESSION

Folter: Nicht salon-, aber gerichtssaalfähig?

Redaktion Pressback, Hamburg

"Im derzeitigen Verfahrensstadium ist nicht erwiesen, dass die Angaben des Beschuldigten durch verbotene Vernehmungsmethoden gewonnen worden sind." So lehnte der Bundesgerichtshof kürzlich die Beschwerde gegen ein Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ab. Der Beschuldigte hatte angegeben, seine Aussagen nur unter Folter gegenüber dem pakistanischen Geheimdienst gemacht zu haben. Warum dies schwer zu beweisen ist, liegt auf der Hand.

Welch geringer Wert dem Schutz vor Folter im Vergleich zum Zier der Terrorismusbekämpfung teilweise zugesprochen wird, wurde auch aus der Aussage des Stellvertretenden Generalbundesanwaltes Rainer Griesbaum deutlich. Auf dem Deutschen Juristentag 2008 verneinte dieser ein grundsätzliches Beweisverwertungsverbot von Aussagen, die durch ausländische Ermittler unter Folter erlangt wurden, im deutschen Strafprozess.

Aufgrund des globalen Charakters der Terrorbekämpfung müsse im konkreten Fall zwischen der Schwere der aufzuklärenden Straftat und dem Gewicht des Verfahrensverstoßes abgewogen werden. Wenn der Eingriff als "verhältnismäßig" gewertet wird, sollen die erfolterten Hinweise im weiteren Verfahren zum Beispiel für Zwangsmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen und Überwachungen ausreichen.

Die UN-Anti-Folter-Konvention allerdings verbietet die Verwertung von solchen Beweismitteln auch dann, wenn sie nicht direkt, sondern nur zur Einleitung weiterer Ermittlungen genutzt werden. Im deutschen Rechtssystem ist dies für den Fall der Folter auch in der Strafprozessordnung geregelt. Für andere Fälle rechtswidriger Informationsbeschaffungen ist dies aber nicht selbstverständlich, anders als beispielsweise in den USA. Dort wandern die "Früchte vom vergifteten Baum" immer in den Müll.

Gerade in Anbetracht der ohnehin schon vielfältigen und schwer zu durchblickenden Grundrechtseinschränkungen unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung muss der Schutz vor Folter unantastbar sein. Den schwarzen Peter irgendwo hinter die Landesgrenzen zu verschieben ist scheinheilig und macht die Nutzung der Informationen nicht weniger verwerflich. Und wenn erfolterte Aussagen durch gezieltes Wegschauen hintenrum verwertet werden können, ist auch der Schritt zur einfachen Verlegung deutscher Ermittlungen in Gefilde mit anderen Rechtspraktiken nicht mehr weit.

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REPRESSION

Früchte vom verbotenen Baum?

Verwertungsverbot von Folter wird zunehmend aufgeweicht

Kolumne von Ulla Jelpke

"Wenn es z. B. etabliert wäre, daß ein bestimmter Kreis von Personen über moderne Massenvernichtungsmittel verfügt und entschlossen ist, diese Mittel innerhalb kürzester Frist zu verbrecherischen Zwecken einzusetzen, und angenommen, dieses Vorhaben könnte nur vereitelt werden, wenn es gelingt, rechtzeitig den Aufenthaltsort dieser Personen zu erfahren, so kann es sittlich geboten sein, diese Information von einem Mitglied des betreffenden Personenkreises auch durch Folter zu erzwingen, sofern dies wirklich die einzige Möglichkeit wäre, ein namenloses Verbrechen zu verhindern."

Dieses Zitat stammt nicht - wie vielleicht aufgrund ähnlicher Äußerungen zu erwarten wäre - von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, sondern aus einem bereits 1976 erschienenen Buch des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU). Während der ersten großen Terrorismusdebatte der Nachkriegzeit unternahm dieser führende Unionspolitiker den systematischen Versuch, die Grundrechte zu relativieren, auch das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Gleichzeitig wurden damals erste staatliche Schritte zur Folter getan: Die RAF-Gefangenen wurden unter grausamen Bedingungen in Hochsicherheitstrakten isoliert. Dennoch erreichte die Folterdebatte mehr als zwei Jahrzehnte lang nicht die Mitte der Gesellschaft. Alltägliche Gewaltanwendung bei der Polizei insbesondere gegen Migranten wurde geleugnet oder als Einzelfall verharmlost. Erst die Anschläge vom 11. September 2001 ließen Folter als angeblich probates Mittel zur Terrorprävention erneut in die öffentliche Debatte rücken.

Wie hoch die Bereitschaft ist, verfassungsrechtliche Grundrechte in Frage zu stellen, zeigte der Fall Daschner. Der Frankfurter Polizeichef Daschner hatte im Oktober 2002 einem Jurastudenten, der einen Bankierssohn entführt hatte, "Schmerzen, wie er sie noch nie erlebt habe" durch einen Polizeispezialisten angedroht, um den Aufenthaltsort des entführten Jungen zu erfahren. Nicht nur viele Stammtische, sondern auch konservative Politiker und Kommentatoren äußerten volles Verständnis für Daschner.

Im Mai 2004 erklärte der Dozent an der Universität der Bundeswehr Michael Wolffsohn in einem Fernsehgespräch: "Als eines der Mittel gegen Terroristen halte ich Folter oder die Androhung von Folter für legitim, weil der Terror im Grunde genommen mit den normalen Grundlagen, also mit der Bewertungsgrundlage unserer zivilisierten Ordnung, überhaupt nichts mehr zu tun hat." Disziplinarische Maßnahmen gegen den Bundeswehrprofessor wurden trotz Rücktrittsforderungen selbst aus der SPD nicht eingeleitet. Ende 2005 wandte sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gegen Forderungen, im "Kampf gegen den Terrorismus" auf möglicherweise unter Folter erlangte Informationen zu verzichten. "Wir werden auch in Zukunft jeden Hinweis nutzen, den wir bekommen können", sagte der CDU-Politiker der "Bild am Sonntag". "Wenn wir für Informationen anderer Nachrichtendienste eine Garantie übernehmen müssen, dass sie unter Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien zu Stande gekommen sind, können wir den Betrieb einstellen." Den nächsten Vorstoß wagte Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm im Juli 2006 im Deutschlandfunk mit seiner Forderung, im "Anti-Terrorkampf" auch durch Folter erpresste Informationen zu nutzen.

Ähnlich wie der Bundesinnenminister und sein Verfassungsschutzchef sieht dies auch der Leiter der Terrorismusabteilung der Bundesanwaltschaft, Rainer Griesbaum. In einem Vortrag in der strafrechtlichen Abteilung des 67. Deutschen Juristentages am 4. September 2008 bekannte sich Griesbaum zwar zum Verwertungsverbot von durch Folter erlangten Beweismitteln vor deutschen Gerichten. Doch er wurde von der Süddeutschen Zeitung weiter mit Aussagen zitiert die "Früchte vom verbotenen Baum" dürften deutschen Ermittlern nicht generell entzogen werden und Informationen aus fragwürdigen ausländischen Quellen sollten nicht als "unrettbar bemakelt" verworfen werden. Es sei eine Frage der Verhältnismäßigkeit, inwieweit im konkreten Fall auf solche Quellen zurückgegriffen werden darf. Dabei müsse einerseits das Gewicht des Verstoßes gegen Verfahrensvorschriften, andererseits aber auch die Schwere der aufzuklärenden Straftat in die Abwägung einbezogen werden. Sollten die Informationen nach dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung verwertbar sein, sollten die Ermittler darauf "strafprozessuale Zwangsmaßnahmen" wie Hausdurchsuchungen oder Telefonüberwachung stützen können.

Es handelt sich hier keineswegs nur um theoretische Überlegungen. Vielmehr wird das Verwertungsverbot von unter Folter erzwungenen Aussagen vor deutschen Gerichten längst durch die Hintertür durchlöchert, wenn es um Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung" nach Paragraph 129a und b StGB geht. Seit Einführung des §129b im August 2002 wurden über 150 Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder terroristischer Vereinigungen im Ausland, darunter islamistische Gruppierungen wie die "Al Quaida im Zweistromland", die palästinensische Hamas aber auch die linken Organisationen Türkische Kommunistische Partei Marxisten-Leninisten (TKP/ML) und die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) geführt. Zahlreiche angebliche Ermittlungserkenntnisse in diesen Verfahren stammen von ausländischen Polizeibehörden oder Geheimdiensten etwa aus der Türkei, dem Libanon oder Jordanien. Aus dem Ausland kommen im Zuge der Rechtshilfe auch ordentliche Beweismittel für deutsche Prozesse wie Zeugen oder Urkunden.

"Der Rückgriff auf durch ausländische Strafverfolgungsorgane erzielte Beweisergebnisse und - noch weit häufiger - auf durch ausländische Nachrichtendienste zur Verfügung gestellte Informationen bildet inzwischen den Regelfall", bemerkte Bundesanwalt Griesbaum in dem genannten Vortrag auf dem Juristentag. Die Stellung eines justiziellen Rechtshilfeersuchens bedarf grundsätzlich der Bewilligung des Bundesamts für Justiz in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt. "Ein Rechtshilfeersuchen ist nicht bewilligungsfähig, wenn die Gefahr von Folter oder die Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden im ersuchten Staat droht", versicherte die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE (BT-Drucksache 16/11078). "Ob in einem Staat generell eine solche Gefahr droht, wird in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes dargestellt." Außerdem würden Berichte von Nichtregierungsorganisationen sowie öffentlich zugängliche Quellen in Medien und Erfahrungen vorangegangener Fälle berücksichtigt.

Dass die Praxis anders aussieht, beweist unter anderem der seit März 2008 in Stuttgart-Stammheim geführte Prozess gegen fünf linke Aktivisten aus der Türkei, denen die Mitgliedschaft in der DHKP-C vorgeworfen wird. Auf ein deutsches Rechtshilfeersuchen hin wurden aus der Türkei mehr als zehn Ordner voller polizeilicher Aussagen, Urteile und Gutachten übersandt. Bei den Ermittlungen kam es zu regelmäßigen Kontakten mit türkischen Justizorganen und Tagungen zwischen dem Bundeskriminalamt und der türkischen Generalsicherheitsdirektion. Ein an den Gesprächen beteiligter Referatsleiter für den Bereich DHKP-C der Anti-Terror-Abteilung der Istanbuler Polizei, den die türkische Seite als Zeugen benannte, wurde in Stammheim bereits einmal vernommen. Dann konnte die Verteidigung nachweisen, dass gegen ihn zwei Anklagen wegen Folter im Amt in Istanbul anhängig sind. Nachdem die Verteidiger Beweisanträge zur Folterpraxis in der Türkei beantragten, wurde ein BKA-Verbindungsbeamter in Istanbul mit der Klärung der Vorwürfe betraut. Dieser ließ sich von zwei hochrangigen Vertretern des Istanbuler Polizeipräsidiums versichern, daß es seit Jahren zu keinen Folterungen mehr gekommen sei. Erst wenige Wochen vor diesem Gespräch hatte sich der türkische Justizminister öffentlich für den Foltertod eines linken Aktivisten in Polizeihaft entschuldigt. Und der türkische Menschenrechtsverein IHD hält das Jahr 2008 für das Schlimmste seit langem im Hinblick auf die Verletzung von Menschenrechten in der Türkei. Solche Einschätzungen finden offenbar keinen Eingang in die zur Genehmigung von Rechtshilfeersuchen relevanten Lageberichte des Auswärtigen Amtes. So gelangen mutmaßlich erfolterte Beweismittel aus Folterstaaten im Nahen und Mittleren Osten weiterhin in deutsche Ermittlungsverfahren.

Der UN-Antifolterkonvention zufolge dürfen erfolterte Informationen nicht verwandt werden, denn dadurch wird die Folter positiv sanktioniert. Folterstaaten würden so in ihrem Tun ermutigt. Mit ihren dagegen gerichteten Vorstößen untergraben Schäuble und Co. deutsches und internationales Recht und erweisen dem weltweiten Kampf gegen die Folter einen Bärendienst. Das Verwertungsverbot von erfolterten Erkenntnissen muss auch in der Praxis durchgesetzt werden. Mit Folterbehörden darf es keine Zusammenarbeit geben - auch nicht im Namen der so genannten Terrorbekämpfung.


Die Autorin ist innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag

Raute

REPRESSION

Anzeigen gegen Bremer Polizisten

Antirepressionsgruppe 02.05.08, Bremen

Am 18. Juli 2008 wurden Bremer Polizeibeamte wegen Körperverletzung und unter anderem sexualisierter Nötigung angezeigt. Die Übergriffe der Polizei fanden am 2. Mai bei einer Protestaktion gegen das Christival statt. Das Vorgehen der Bremer Polizei gegen Protestierende beim Christival war überraschend heftig. Offensichtliches Ziel war es, die kritischen Aktionen in der Öffentlichkeit unsichtbar zu machen. Besonders aggressiv war das Vorgehen nach dem gelungenen Kiss-In in der Martinigemeinde.

Dass dieses Vorgehen der Polizei im Sinne der Organisatoren des Christivals war, wurde schon im Vorfeld deutlich: In der Öffentlichkeitsarbeit versuchten diese, ein Bedrohungsszenario zu konstruieren und wandten sich mit der Bitte um Polizeischutz vor Kritikern und Kritikerinnen an die Stadt Bremen. Auch im Nachhinein bedankten sie sich explizit bei der Polizei für die gute Zusammenarbeit. Eine inhaltliche Stellungnahme zur Kritik an den Seminaren ("Homosexualität verstehen - eine Chance zur Veränderung" und "Sex ist Gottes Idee - Abtreibung auch?") blieb aus. Die Absage des Seminars zu Homosexualität war offensichtlich eine Maßnahme zur Schadensbegrenzung, eine Distanzierung von den Inhalten fand ausdrücklich nicht statt. Hieran wird deutlich, dass es sich bei der öffentlich zur Schau getragenen Toleranz und Friedfertigkeit bloß um eine Fassade handelt.

So wurden friedliche Protestaktionen gegen das Christival und für die Sichtbarmachung homosexueller Lebensentwürfe in der Öffentlichkeit von der Polizei brutal angegangen und versucht, diese zu unterbinden. Besonders aggressiv war das Vorgehen am 2. Mai, nach dem gelungenen Kiss-In in der Martinigemeinde bei dem Vortrag "Steht auf wenn ihr Christen seid". Als versucht wurde, am Rande einer Christival-Veranstaltung auf dem Marktplatz ein Transparent gegen Homophobie und den alltäglichen Sexismus zu entrollen, reagierte die Polizei sofort mit drastischen Maßnahmen und ging vollkommen unverhältnismäßig vor.

Wieder einmal belegte die Polizei mit massiver Härte und Brutalität, dass Protesten und Widerstand gegen gesellschaftliche Zwangsverhältnisse mit Eskalation und Repression begegnet wird. In diesem Fall ging es um eine Kritik an dem heteronormativen Selbstverständnis der Christival-Teilnehmer, welches einhergeht mit Intoleranz und Diskriminierung von Homosexuellen (vermittelt durch Pathologisierung) sowie einem antifeministischen, patriarchalen Weltbild. Diese Ansichten gehen mit dem gesellschaftlichen Mainstream konform.

Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass es am 2. Mai zu brutalen Ingewahrsamnahmen kam. Eine kleine Versammlung selbstbewusster, händchenhaltender Homo- und Trans-Personen sah sich mit aggressiven Polizeikräften konfrontiert. Ohne jegliche Begründung beziehungsweise Aufforderung den Ort zu verlassen wurde die Gruppe mittels Einsatz von Schlagstock und körperlicher Gewalt abgedrängt. Wahllos und ohne Begründung wurde zuerst eine Person herausgegriffen und gewaltsam festgehalten. Auf die Aufforderung diese Person frei zu lassen reagierte die Polizei mit Schlagstockeinsatz und der Androhung von Pfefferspray, Personen wurden geschubst und (teilweise sexualisiert) bedrängt. Die Eskalationsbereitschaft der Polizei steigerte sich noch, als die Gruppe in eine vom Christival-Publikum nicht einsehbare Ecke gedrängt und dort eingekesselt wurde. Dabei wurden auch Polizeihunde ohne Maulkorb eingesetzt. Währenddessen kam es zu einer weiteren willkürlichen und brutalen Ingewahrsamnahme. Die betroffene Person wurde mehrmals gegen die Wand geschleudert, in eine Ecke gepresst und dort von zwei Polizisten mit Schlagstöcken attackiert. Menschen, die ohne Christivalausweis die Polizeigewalt fotografisch dokumentieren wollten, wurden brutal daran gehindert und aufgenommene Bilder zerstört. Dies zeigt deutlich das Bemühen der Polizei, jede Öffentlichkeit von den Geschehnissen auszuschließen.

Während der gesamten Situation wurden alle Gesprächsversuche der Aktivisten und Aktivistinnen von den Polizisten abgeblockt, Fragen nach dem Grund ihres Vorgehens wurden ignoriert. Schließlich wurden die zirka 15 Aktiven mit einem massiven Polizeiaufgebot vom Marktplatz weg eskortiert. Nach einiger Zeit kam es erneut zu einer Ingewahrsamnahme. Auch hier scheuten sich die Polizeibeamten nicht, massive körperliche Gewalt einzusetzen. Die "Eskorte" der Polizei endete erst im nächsten Stadtteil. Von den drei Festgenommenen wurde eine Person nach Personalienaufnahme und Platzverweis für das gesamte Christivalgebiet wieder freigelassen. Die anderen beiden wurden für mehrere Stunden in Gewahrsam genommen. Die zuletzt festgenommene achtzehnjährige Person wurde gezwungen, sich nackt auszuziehen und wurde dabei mehrfach von einigen der anwesenden Polizeibeamten, die noch ihre Panzerung trugen, persönlich beleidigt.

Massive staatliche Repression richtet sich hier und anderswo meist gegen Personen und Gruppen von Personen, die den gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen und/oder sie öffentlich kritisieren. Es wird versucht, Kritik an bestehenden (Macht-)Verhältnissen zu unterdrücken, mundtot zu machen und entweder von der Öffentlichkeit fernzuhalten oder den Widerstand zu kriminalisieren. In diesem Sinne ist auch das Vorgehen der Polizei am 2. Mai zu verstehen. Auch am darauf folgenden Tag auf der Bürgerweide versuchte die Polizei die Proteste gegen das Seminar "Sex ist Gottes Idee - Abtreibung auch?" von der Öffentlichkeit abzuschirmen und nahm 34 Protestierende teilweise brutal in Gewahrsam.

Übergriffe seitens der Polizei sind kein Einzelfall, sondern haben eine strukturelle Grundlage. Eine personelle Zuordnung von Gewalttaten zu einzelnen Polizisten oder Polizistinnen ist mindestens schwierig - Dienstnummern werden nicht herausgegeben, die Tatorte (beispielsweise Wachen, Kessel) sind abgeschottet und die Uniform sorgt für eine Anonymisierung der Täter und Täterinnen. Das Handeln der Polizei ist nicht abgekoppelt vom Rest der Gesellschaft zu betrachten. Häufig trifft Polizeigewalt diejenigen, die auch in anderen Zusammenhängen, ob von Institutionen oder einfach auf der Straße, schikaniert werden. Von Übergriffen betroffen sind meist Personen, die gesellschaftlich marginalisiert sind und begrenzt Möglichkeit haben sich zu wehren.

Aufgrund der massiven psychischen und finanziellen Belastung, die ein juristisches Vorgehen gegen gewalttätige Übergriffe von Polizeibeamten und -beamtinnen bedeutet, wird dieses häufig nicht zur Anzeige gebracht. Die Dunkelziffer ist enorm. Hierbei spielt auch eine Rolle, dass die Chancen auf ein erfolgreiches Verfahren gegen die Staatsgewalt minimal sind - der Staat ist seinen Schergen gegenüber selbstverständlich loyal, so zählt die Aussage eines Polizisten oder einer Polizistin quasi doppelt. Auffällig in diesem Zusammenhang ist, dass es zu Übergriffen durch Polizeibeamte keine aussagekräftigen Statistiken gibt und offenbar auch ein Interesse daran, dass dies so bleibt. Insgesamt ist es äußerst schwierig an verlässliche Zahlen zu kommen, wie viele Anzeigen es gegen Polizeibeamte gibt, wie viele davon zur Verhandlung kommen und dann auch noch gewonnen werden. Eine Statistik aus Berlin für die Jahre 1995 bis 2004 zeigt, dass es in nur 1,3 Prozent der angezeigten Fälle von Polizeigewalt überhaupt zu einer Anklage kam. Zu einer Verurteilung kam es nur in 0,4 Prozent. Das ist praktisch nichts.

Wir wollen polizeiliche Gewalt und Einschüchterung dennoch und gerade deswegen nicht hinnehmen. Deshalb haben wir uns entschlossen, sowohl die Klage gegen die Ingewahrsamnahme als auch die Strafanzeigen wegen Körperverletzung und unter anderem sexualisierter Nötigung am 2. Mai zu unterstützen. Wir lassen uns auch nicht aus dem öffentlichen Raum vertreiben und damit in die Unsichtbarkeit verbannen: Wir küssen weiter - wo wir wollen! Mit oder ohne Christival.

Raute

REPRESSION

Warum wir Strafanzeigen gegen Polizisten unterstützen

Antirepressionsgruppe 02.05.08, Bremen

Im Mai 2008 fand in Bremen das "Christival", ein von Evangelikalen organisiertes Riesen-Event statt, das durch homophobe und sexistische Inhalte sogar in der bürgerlichen Presse in die Kritik geraten ist. Ein antisexistisches Bündnis organisierte Protestaktionen dagegen. Wir sind eine Gruppe, die zwei Menschen, die während des "Christivals" von Polizeigewalt betroffen waren, unterstützt. Gemeinsam wurde beschlossen, Anzeige zu erstatten gegen die verantwortlichen Bremer Polizeibeamten und -beamtinnen. Auch wenn wir den juristischen Weg nicht unkritisch sehen, haben wir uns dafür entschieden. Im Folgenden wollen wir erklären, warum.

Wer in diesem Staat den Mund aufmacht, unbequem ist oder sogar politisch aktiv, wird erfasst und bekommt schnell die staatliche Repression zu spüren. Teilweise ist das vom Staat genau so gewollt, teilweise handeln Polizisten aber auch eigenmächtig. Das Nichtbeachten der Gesetze ist dabei ebenfalls gängig. Verfolgung ihrer eigenen Straftaten müssen Polizeibeamte nicht fürchten. Sie sind anonym und auf vielfältige Weise geschützt (vor Identifizierung). Durch Uniformen, durch Dienstnummern, die selbstverständlich nicht hergegeben werden, durch Kollegen und Kolleginnen, die schweigen et cetera. Falls es doch einmal zur Anklage kommt, wird diese meist fallen gelassen.

Repression kann sehr unterschiedlich aussehen und Menschen gehen unterschiedlich damit um. Die Gemeinsamkeit ist jedoch, worauf Repression abzielt: Spaltung, Vereinzelung, Angst und Ohnmacht. Und schließlich: Rückzug von politischem Engagement.

In letzter Zeit ist eine ziemlich erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber Repression zu beobachten. Es gibt kaum Bereitschaft, sich mit dem Thema zu befassen, obwohl (fast) alle davon betroffen sind. Nach dem Motto "Das gehört dazu" gilt es teilweise sogar als cool, von Repression betroffen zu sein. Ein Nicht-Eingestehen von Unwissenheit oder Unsicherheiten führt dazu, dass Repression nicht thematisiert wird. Dies halten wir nicht nur in Bezug auf weitere repressive Maßnahmen für gefährlich, sondern auch, weil so die Betroffenen häufig allein gelassen werden.

Die einschüchternde Wirkung von Repression kann nur dann aufgebrochen werden, wenn wir der Vereinzelung mit Solidarität begegnen und dem Gefühl der Ohnmacht durch neue Handlungsmöglichkeiten etwas entgegensetzen.

Wichtig ist, neben der politischen Ebene die persönliche nicht außer Acht zu lassen. Belastende Erfahrungen bringen emotionalen Stress mit sich. Wo kein Raum ist, diesen aufzufangen und zu thematisieren, setzt sich das Gefühl der Vereinzelung und Hilflosigkeit im Kopf fort. Wege, der Repression zu begegnen, gibt es sicherlich viele. Welcher der angemessene ist, hängt stark von der Person, dem Geschehen und der Situation ab.

So ist für uns der juristische Weg auch nicht DER Weg schlechthin, sondern der richtige für uns in dieser Situation. In Zeiten, in denen die linke Bewegung in der Defensive ist und kaum gesellschaftliche Relevanz hat, halten wir es für unrealistisch, auf anderen Wegen Druck auf die Polizei auszuüben. Hinzu kommt, dass sich in unserem konkreten Fall die polizeilichen Übergriffe gegen eine sehr kleine Gruppe Menschen richteten und an einem abgeschirmten Ort stattfanden. Eine größere Empörung zum Beispiel von bürgerlicher Seite ist also nicht zu erwarten. Von der Linken ist Empörung aufgrund der ständigen Repressionserfahrungen sowieso nicht zu erwarten.

Somit sehen wir den juristischen Weg am ehesten vielleicht als einen realistischen Weg - sowohl um etwas Aufmerksamkeit auf das Thema zu richten, als auch, um Polizei und Staat zu nerven. Wir wollen an der Selbstsicherheit der Polizisten und Polizistinnen rütteln, die sich alles mögliche erlauben können, da sie eh keine Konsequenzen zu fürchten haben.

Dabei sind wir uns der Probleme, die dieser Weg mit sich bringt, bewusst. Wir wissen, dass diese Anzeigen kaum Aussicht auf Erfolg haben. Es ist sicher kein Zufall, dass es fast keine Statistiken gibt, wenn es um das Thema Polizeigewalt geht. Die Statistiken aus Berlin jedoch sprechen eine deutliche Sprache. Von den Anzeigen (wie viele Fälle gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden, lässt sich nur erahnen) führten gerade mal 1,3 Prozent zu Anklagen, nur 0,4 Prozent führten zu Verurteilungen (Vgl. Martina Kant 2000: http://www.cilip.de/ausgabe/67/kant.htm).

Wir sind uns bewusst, dass Anzeigen gewissermaßen den Rechtsstaat legitimieren, aber wir sind nicht so naiv zu glauben, das Gericht würde Gerechtigkeit sprechen.

Eine weitere Gefahr bei diesem Weg ist die Bekanntgabe von Namen und Zusammenhängen und die damit einhergehende Gefahr weiterer Repression. Dies ist wohl auch der schwerwiegendste Einwand gegen unser Vorgehen. Wir gehen allerdings nicht davon aus, dass unsere Namen dem Staat völlig neu sind. Außerdem ist die Lage ziemlich eindeutig, eine weitergehende Strafverfolgung aufgrund unserer Angaben ist nicht zu erwarten. Trotzdem ist die Gefahr von Überwachung und Repression immer gegeben, sobald man sich rührt. Dies ist aber keine Besonderheit des juristischen Weges. Jedes Aufbegehren gegen Repression wird meist mit Repression beantwortet.

Gerichtsverfahren dauern lange, sind teuer und für die Beteiligten emotional anstrengend. Die Kapazitäten, die dafür aufgebracht werden, könnten auch in andere politische Arbeit gesteckt werden. Warum also tun wir es trotzdem? Die Antwort darauf ist ziemlich simpel. Wir wollen niemanden alleine lassen. Wir wollen den Polizisten nicht alles durchgehen lassen. Und: Wir haben die Möglichkeit dazu. Wir investieren die Zeit und treiben das Geld auf, um diesen Weg zu gehen. Und wir kommen gut miteinander aus, hoffentlich auch die nächsten Jahre (Prozesse dauern lange), und haben den Anspruch an uns, immer wieder Unsicherheiten zu thematisieren und in einem gemeinsamen Diskussionsprozess zusammen zu wachsen.

Auch für uns ist dieser Weg nicht widerspruchsfrei und es ist auch nicht der einzige Weg für uns. Ein Ziel unserer Arbeit ist es, Polizeigewalt sowohl in der Szene als auch darüber hinaus zum Thema zu machen. Darum setzen wir unter anderem auch auf Veranstaltungen und Vernetzung mit anderen. Ein weiteres Ziel, dass wir uns gesetzt haben, ist es, diesen Prozess durchzuziehen und zu dokumentieren, damit andere auf die Erfahrungen zurückgreifen können und wissen, was auf sie zukommt, wenn sie vor einer ähnlichen Entscheidung stehen.

Wir gehen diesen Weg in dem Wissen, dass viele andere dies nicht können. Weil ihnen die Rechte, das Geld, die Unterstützung fehlen.

Raute

REPRESSION

Heiligabend mit der Hamburger Bischöfin

Ortsgruppe Dresden

Es ist der Heilige Abend gegen 23 Uhr, in der Christmette während der Predigt der Bischöfin Maria Jepsen im Hamburger Michel, einer der Hauptkirchen dieser Stadt. Eine handvoll Menschen verlassen ihre Plätze, gehen zum Altar und bemächtigen sich des Mikrofons, fordern öffentlich die Freilassung des haftunfähigen Mustafa Atalay. Weiterhin möge sich die Bischöfin für Mustafa Atalay einsetzen. Sie und ein weiterer Geistlicher weigern sich Stellung zu nehmen und wollen ihren Gottesdienst weiterführen. Die Demonstranten und Demonstrantinnen lassen sich aber nicht abwimmeln und halten eine kurze Rede zu Mustafa Atalay.

Danach überreichten sie Jepsen Hintergrundmaterial einschließlich diverser Gutachten zu Mustafa und verteilten eine Resolution mit der Forderung nach seiner Freilassung. Danach gab es sogar unerwartet Beifall von den Kirchenbesuchern und -besucherinnen. Die Demonstrierenden verließen unbehelligt die Kirche. Diese Erklärung wurde verteilt:

"Mustafa Atalay ist einer der fünf Angeklagten im § 129b-Prozess vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. 'Ich bin ein Journalist und ein Sozialist - kein Terrorist', hat er auf den Anklagevorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung erwidert.

Mustafa Atalay ist 52 Jahre alt und lebt seit 2000 in Deutschland als politischer Flüchtling. Er befindet sich seit November 2006 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Die meiste Zeit davon war er isoliert untergebracht und er hat strenge Sonderhaftbedingungen. Mustafa Atalay ist schwer herzkrank. 2006 erlitt er einen Infarkt. Ihm mussten drei Bypässe gelegt werden. Seine Festnahme erfolgte aus einer Rehabilitationsklinik heraus. Zwei Bypässe sind wieder verstopft. Während der Haft waren am Herzen weitere Eingriffe nötig. Wegen der Herz-Kreislaufprobleme und anderer Erkrankungen erhält er täglich acht bis zehn Medikamente.

Mustafa Atalay war über 15 Jahre im Gefängnis in der Türkei. Er wurde schwer gefoltert und hat bleibende körperliche Schäden erlitten. Ein vom Gericht bestellter Gutachter hat das Vorliegen eines Posttraumatischen Belastungssyndroms festgestellt. Mustafa Atalay muss sofort aus der Haft entlassen werden!"

Mehr als hundert Menschen und Gruppen, darunter auch Prominente wie die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (Die Linke) und der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz haben diesen Solidaritätsaufruf für die sofortige Freilassung von Mustafa Atalay unterzeichnet. Gemeinsam mit Ahmet Düzgün Yüksel, Ilhan Demirtas, Devrim Güler und Hasan Subasi wird Mustafa vom Staatschutzsenat in Stuttgart-Stammheim vorgeworfen, Spenden zur Finanzierung des bewaffneten Kampfes der Revolutionären Volksbefreiungspartei - Front (DHKP-C) in der Türkei gesammelt zu haben und somit Mitglied einer "ausländischen terroristischen Vereinigung" zu sein. Erstmalig kommt damit in Deutschland der Paragraph 129b ("Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland") gegen die politische Linke zur Anwendung.

Devrim Güler, eine der fünf Gefangenen aus dem Stuttgarter 129b-Verfahren, zu Mustafas Gesundheitszustand: "So mache ich mir ernsthafte Sorgen um Mustafa, der täglich neun bis zehn Tabletten einnehmen muss. Seine Gesichtsfarbe nimmt während der Verhandlung solch einen grau-schwärzlichen Ton an, dass man es mit der Angst zu tun bekommt. Dennoch versucht er sich, soweit es ihm möglich ist, nichts anmerken zu lassen und sich tapfer zu halten."

Da trotz der Solidarität das zuständige Gericht Mustafa bisher nicht freigelassen hat, hielten es die Menschen für notwendig, öffentlich im Michel zu intervenieren um mehr Druck auszuüben.

Durch diese Aktion konnte auch das Schweigen der bürgerlichen Zeitungen durchbrochen werden: Die Hamburger Morgenpost berichtet am 27. Dezember in einem Artikel davon. Bischöfin Jepsen nahm demnach "den Vorfall in ihrer Predigt auf und versprach das Anliegen an die zuständige Behörden weiterzuleiten". Auch gab es dazu Veröffentlichungen in der Onlinezeitung www.scharf-links.de und bei Indymedia sowie weitere Unterschriften.


Die Solidaritätserklärung kann per E-Mail unterstützt werden:
→  hamburg@political-prisoners.net

Für die Freilassung von Mustafa Atalay!
→  Weitere Infos unter: www.no129.info

Raute

GET CONNECTED

Sicherheit in Zeiten des Spin

Das BKA wird zur elektronischen Gedankenpolizei

Datenschutzgruppe der Roten Hilfe Heidelberg

Nicht erst mit dem Gemeinsame-Dateien-Gesetz (vgl. RHZ 1/2007) hat die Politik in der BRD den Weg zu einem de facto als geheime Bundespolizei operierenden "Sicherheits"-Sumpf eingeschlagen. So können die Regelungen des neuen BKA-Gesetzes allenfalls überraschen, weil sie in Zeiten von allerlei wüsten Skandalen im Repressionsbereich allzu mutig vorgetragen wurden. Und so lohnt sich vielleicht auch ein kurzer Blick auf den Prozess, in dem aus diversen Ent- und Einwürfen schließlich ein Gesetz wurde. Er zeigt prototypisch, wie Bürgerrechtsabbau mit der Demonstration der Funktionfähigkeit der Demokratie einhergehen kann.

"Spin" bezeichnet eine geschickte, an kommerzielle PR-Strategien angelehnte Öffentlichkeitsarbeit, mit der allerlei Fürchterlichkeiten so gedreht werden, dass sie am Ende als positiv für die "Gemeinschaft" rezipiert werden. Im angesichts der reibungslosen Umsetzung eines gigantischen Programms von Überwachung und Sozialabbau als Mutterland des Spins geltenden Vereinigten Königreich heißen die BeraterInnen, die sich sowas ausdenken, spin doctors oder etwas elaborierter "spinmeisters". Solche Meister gibts nun auch woanders, und der öffentliche Diskurs um das BKA-Gesetz könnte ein Schulbeispiel sein.


Der Prozess

Mit geradezu umwerfender Ehrlichkeit hat das der Berliner Innensenator Eberhard Körting am 28. November 2008 im Deutschlandfunk auf den Punkt gebracht: "Ich glaube, man ist gut beraten, in der Akzeptanz gegenüber den Bürgern bei diesem höchst umstrittenen Gesetz (Hirsch hat den Computer als ausgelagertes Gehirn bezeichnet oder Ähnliches) die Akzeptanz dadurch zu erhöhen, dass man wirklich ganz behutsam vorgeht. Dazu gehört eben der Richtervorbehalt. Dem Bundeskriminalamt wird nichts weggenommen, wenn ein Richtervorbehalt erst mal da ist."

So viel zu einem der Punkte, die im Hin und Her zwischen Bundestag und Bundesrat debattiert wurden. Und tatsächlich, in der RH organisierten Menschen muss kaum erklärt werden, dass auch Gerichte mit Beschlüssen zu Durchsuchung, Gewahrsamnahme, DNA-Analyse und so fort gerade im Politbereich großzügig umgehen. Dabei hat Körting die pikante Regelung, die die ach so umstrittenen Entscheidungen dem "Amtsgericht (...), in dessen Bezirk das Bundeskriminalamt seinen Sitz hat", zuschreibt, noch vornehm übergangen. Dass das BKA also immer die gleichen Richter befragt, lässt, man kennt sich, die ohnehin geringe Hoffnung auf eine kritische Prüfung weiter schrumpfen.

Es wurde hier also ein sachlich weitgehend irrelevantes Thema öffentlich zum Lackmustest für die Demokratie stilisiert, und in der Tat, die Demokratie besteht (in diesem Fall durch Intervention des Bundesrates, ansonsten häufig durch Einspruch aus Karlsruhe). Diese Nummer ist inzwischen zu einem von zwei Standardmustern beim Abbau von Bürger- und Menschenrechten geworden (1), denn hinter den großen öffentlichen Themen segeln die wirklichen Hämmer unbemerkt.

Durch beschönigende Metaphern können sie gleich noch eine Tarnkappe bekommen. Der "genetische Fingerabdruck" etwa liefert drastisch mehr Spuren (richtige und falsche) als ein Fingerabdruck, und der Begriff "Onlinedurchsuchung" tarnt geschickt, dass es hier um geheimpolizeiliche Mittel geht. "Fingerabdruck" und "Durchsuchung" suggerieren eine Fortschreibung des Bestehenden, wo in Wirklichkeit neue Dimensionen autoritären Durchgriffs eröffnet werden.

Ergebnis ist, dass der Sicherheitssumpf trotz der Einsprüche im Wesentlichen kriegt, was er will. QuerulantInnen wie BürgerrechtlerInnen sind mit Klagen und Co eine Weile beschäftigt, und die BürgerInnen selbst sehen beim vermeintlichen Sieg gegen die Zumutung, wie schön demokratisch hier alles ist. Gefühlte Demokratie bei gleichzeitiger Einführung "präventiver" Kompetenzen, das heißt der Formierung einer Polizei, die Menschen verfolgt, weil sie falsch denken. Have your cake and eat it, too.

Das soll nicht heißen, dass all die Prozesse, Einsprüche und Diskurse sinnlos sind oder gar den Gegenseiten in die Hand spielen, denn immerhin werden Teile der Angriffe ja zurückgenommen oder, etwa beim Lauschangriff, ein paar Hürden aufgebaut, die die Nutzung der "Instrumente" nur bei wilder Entschlossenheit attraktiv erscheinen lassen. Dennoch wird mit ihnen, womöglich zur Gewinnung von Akzeptanz, kalkuliert, und solange die Gegenseiten keine bösen Fehler in ihren Kalkulationen macht, werden sie alleine unzureichend sein, um das jahrzehntealte Projekt des technokratischen Sonnenstaates auch nur aufzuhalten, geschweige denn umzukehren.


Das Gesetz

Die Ortsgruppe Hamburg hat in der RHZ 04/08 das BKA-Gesetz insgesamt diskutiert und eingeordnet (2). Hier soll es etwas genauer um die unmittelbar datenschutzbezogenen Klopfer gehen. Sie sind größtenteils in den neuen Unterparagraphen des § 20 beschrieben. Das Alphabet reicht kaum für die Aufzählung, erst beim X waren BKA und Regierung glücklich. Beeindruckend ist das nicht zuletzt, da im bisher geltenden BKAG dieser Paragraph keine 250 Zeichen lang ist.

Schon in § 20b gehts zur Sache, denn das BKA darf im Prinzip unbegrenzt "weiche" Daten (wie "x war am y am Ort z", "x ist heterosexuell", "x programmiert in Java") speichern, und zwar wenn es glaubt, dass "die Person eine Straftat gemäß § 4a Abs.1 Satz 2 begehen will" oder jemand "nicht nur flüchtig oder in zufälligem Kontakt in Verbindung" mit so einer Person steht (Hervorhebungen d. V.). Mit anderen Worten ist mit diesem Gesetz gegen eine Speicherung beim BKA mit rechtsstaatlichen Mitteln nichts mehr zu tun (3), denn § 4a ist das übliche Gummigewäsch zu internationalem Terrorismus, auf dessen Basis auch Mitarbeit in der RH inkriminierbar ist. Nicht ganz zufällig wurde dies weitgehend aus dem Gemeinsame Dateien-Gesetz (vgl. RHZ 1/2007) abgeschrieben.

Damit das BKA auch reichlich saftige Daten zum Speichern bekommt, erlaubt § 20g Observation, heimliche Überwachung mit Kamera und Mikrofon außerhalb von Wohnungen, V-Leute, verdeckte Ermittler und "sonstige besondere (...) technische Mittel", worunter Peilsender, GPS-Geräte oder präparierte Mobiltelefone ebenso zu verstehen sind wie, da keine Einschränkungen gemacht werden, beliebige Gadgets aus der Werkstatt von Ian Flemings Q. Bei all dem braucht es nicht mal mehr das Gericht, das für Kameras und Mikros in Wohnungen noch verlangt wird (gähn). Wenn das BKA meint, die Zielperson würde in anderen Wohnungen spannende Dinge treiben, darf es auch diese verwanzen. Tröstlich ist nur, dass nach den Erfahrungen mit dem großen Lauschangriff zunächst kaum mit BKA-Kameras auf dem WG-Klo zu rechnen ist, denn noch hat das BKA nicht die Personalstärke, die es dafür bräuchte.

Krachiger ist § 20i, die Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung. Landespolizeien machen sowas (besser auch "verdeckte Registrierung" genannt) schon ausgiebig, gerne auch in SIS auf europäischer Ebene. Idee ist, unschuldige Menschen quasi zur Fahndung auszuschreiben. Weit die Polizei aber wegen Unschuld noch nichts hat, um die Opfer verhaften zu können, werden einfach bei jedem Antreffen alle möglichen Daten (wann, wo, wie, und, besonders perfide, mit wem) in die Datenbank eingefüttert. So entstehen mit etwas Glück umfangreiche Bewegungs- und Sozialprofile, potenziell EU-weit. Die Landespolizeien nutzen das im Gegensatz zu direkter Wohnraumüberwachung ausgiebig. Aus Bayern waren 2006 rund 2000 Personen zur Beobachtung ausgeschrieben, in SIS standen 1000 Beobachtungen aus der BRD. Das BKA darf das jetzt auch, und zwar ohne jede sachliche Begründung (die "Gesamtwürdigung der Person" reicht). Erst nach einem Jahr muss mal wer außerhalb des BKA draufgucken (und dann auch nur das befreundete Gericht).

So geht es weiter: § 20j erlaubt dem BKA, von "öffentlichen oder nichtöffentlichen Stellen" (außer den Geheimdiensten) fast beliebige Daten zu verlangen ("Namen, Anschrift, Tag und Ort der Geburt sowie auf andere im Einzelfall festzulegende Merkmale") - das ist die Rasterfahndung, die hier schon dann erlaubt ist, "wenn konkrete Vorbereitungshandlungen die Annahme rechtfertigen", ein Anschlag stehe bevor. Diese Formulierung orientiert sich am Rezept, das Karlsruhe 2006 für die Umschiffung des Grundgesetzes in diesem Bereich angegeben hat. Wie "konkret" irgendwas da sein muss, wurde ja schön durch die Mega-Aktion wegen der Luftnummer eines geplanten Attentats auf eine El-Al-Maschine am Frankfurter Flughafen im November 2006 vorgeführt. Dennoch rechnet die Regierung bei "gegenwärtiger Sicherheitslage" nur mit einer Rasterfahndung alle vier Jahre.

§ 20k ist, was im Spintalk "Onlinedurchsuchung" genannt wird, im Titel des Paragraphen aber richtiger "Verdeckter Eingriff in informationstechnische Systeme" heißt. Die Fantasie nämlich, dass BKA-Leute in der Art des Whizkids aus Independence Day (der einen "Virus" in die Computer der fiesen Außerirdischen pflanzt) von ihren Wiesbadener Rechnern beliebig in die Kisten der Bösen cracken, war im Bereich der paranoid-technophoben Ziehrkes und Schäubles möglicherweise verbreitet, doch angesichts des real damit verbundenen Aufwands, der jedenfalls im Bereich einer Wohnraumüberwachung liegt, wohl nie im Zentrum der Begierde derer, die nachher was damit machen sollen. Es geht einfach darum, beschlagnahmte, bei Hausbesuchen der Behörde oder Klobesuchen des/der Eigentümerin vorgefundene Rechner oder Mobiltelefone präparieren zu dürfen, bei Providern anzuklopfen und mit ihrer Hilfe "Fangschaltungen" in dort laufende Foren- oder Serversoftware implantieren zu dürfen und so fort.

Es folgen Befugnisse zum Angriff auf die Telekommunikation in Form von Abhören (§ 20l), Zugriff auf Verkehrsdaten (also im Groben die Daten aus der Vorratsdatenspeicherung, § 20m) sowie spezielle Daten mobiler Geräte (§ 20n, das sind IMSI-Catcher und Co) - im Groben deckt sich der Entwurf hier mit den reaktionärsten unter den Landespolizeigesetzen. Zusammen mit der Grundbefugnis der Gedankenpolizei kann das BKA jetzt also abhören und orten, wen es will. insofern ist davon auszugehen, dass die gegenwärtig eher im Promillebereich liegende Beteiligung des BKA am Abhörzirkus der hiesigen Behörden künftig kräftig ausgebaut werden wird.

Weitere Tiefschläge erfolgen in § 20v, der dem BKA erlaubt, die mit all den schönen Methoden gewonnenen Daten weitgehend frei an "andere Polizeien des Bundes und der Länder sowie an sonstige öffentliche Stellen" zu übermitteln. Restriktiver geht's zur Sache, wenn Daten an die Opfer der Maßnahmen übermittelt werden sollen. Wer nämlich observiert, ausgeschrieben oder abgehört würde, wer Trojaner auf die Platte bekommen hat oder in der Rasterfahndung hängen geblieben ist, soll nach § 20w benachrichtigt werden, wenn dem keine "schutzwürdige(n) Belange einer betroffenen Person" (also etwa eines Beamten oder V-Menschen des BKA) entgegenstehen oder der Eingriff "nur unerheblich" war und "anzunehmen ist", dass es dem Opfer eh wurscht war. Das alles steht unter dem Vorbehalt, dass eine Gefährdung "des Zwecks der Maßnahme, des Bestandes des Staates, von Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder Sachen von bedeutendem Wert, (... oder) auch der Möglichkeit der weiteren Verwendung des Verdeckten Ermittlers oder der Vertrauensperson" ausgeschlossen ist.

Etwas weniger verschwurbelt heißt das: Die Benachrichtigung könnt ihr vergessen. Das weiß auch der Gesetzgeber und hat deshalb schon in der der StPO-Reform ("Vorratsdatenspeicherung", RHZ2/07) verordnet, unterlassene Benachrichtigungen müssten gerichtlich überprüft werden. Die Regelungen im BKAG sind im Wesentlichen parallel zu denen in der StPO, inklusive der Frist von fünf Jahren, nach der das Gericht endlich beschließen kann, es wolle mit der Frage nicht mehr behelligt werden ("wenn die Voraussetzungen für die Benachrichtigung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft nicht eintreten werden"). Mit anderen Worten: Die Benachrichtigung könnt ihr weitgehend vergessen (4). Und das ist schade, denn eine ernstzunehmende Benachrichtigungspflicht wär mal echt ein Pflästerlein für den Bestand der FDGO.

Bei den verbleibenden Unterparagraphen geht es um Skandale wie Platzverweise, Gewahrsamnahmen und so fort, die hier nicht Thema sind. Interessant ist vielleicht noch, dass § 20t dem BKA das Betreten von Wohnungen, Geschäftsräumen und so fort weitgehend analog zur Bundespolizei erlaubt. Relevant ist dies, weil sowas zusammen mit der Regelung, dass V-Leute mit Einverständnis des/der Bewohnerin in Wohnungen reindürfen, vermutlich ein populärerer Weg für Angriffe auf Rechner nach § 20k darstellen dürfte als der Elitehackerpolizist im abgedunkelten Keller von Meckesheim.


Fazit

Glaubt man der Regierung, wird sich das BKA als Folge dieses Gesetzes für mindestens fünf Millionen Euro neue Highlech kaufen. Es wäre überraschend, wenn diese High-Tech nicht früher oder später mit Mutmaßungen über euch beschäftigt würde, wenn eure Gedanken nicht ausreichend blankpoliert sind, selbst wenn sie sich kaum mit "internationaler Solidarität" beschäftigen. Ob es beruhigend ist, dass ihr davon aller Wahrscheinlichkeit nach allenfalls indirekt erfahren werdet, müsst ihr selbst entscheiden.


→  http://www.datenschmutz.de
→  PGP Fingerprint: a3d8 4454 2e04 6860 oa38 a35e d1ea ecce f2bd 132a


Fußnoten:

(1) Die zweite Methode kam in diesem Fall nicht in Frage, weil wichtige Protagonisten, in dem Fall der BND, der die Konkurrenz durch das BKA gar nicht leiden kann, nicht mit im Boot waren. Aber bei Nacht und Nebel abnicken (Modell Speicherung von Videoüberwachungsdaten im Bundestag letztes Jahr) kann auch gehen und ist weniger Arbeit. Das Risiko eines PR-Desasters ist aber auch größer...

(2) Den Artikel gibt es als Flugblatt unter http://pressback.blogsport.de/images/bka_rote_hilfe_hamburg.pdf

(3) Da zu befürchten steht, dass die EDV des BKA redundant und mit umfangreichen Backups angelegt ist und solche Daten ohnehin in alle möglichen anderen Systeme diffundieren, wirds auch mit anderen Mitteln schwierig.

(4) Uns ist allerdings seit Einführung der StPO-Reform schon eine Benachrichtigung bekannt geworden, die es davor wahrscheinlich nicht gegeben hätte. Wer das als Hoffnungsschimmer werten will, ist herzlich dazu eingeladen.

Raute

Brief von Daniel

Koblenz, 19. November 2008
(Poststempel 25. November 2008)

Hallo liebe ...!

Erst einmal möchte ich mich bei Dir recht herzlich bedanken für die Infos (Datenschutz) sowie die Briefmarken, die Du mir beigelegt hast.

Meine Beschwerde an die Anstaltsleitung hat Wirkung gezeigt, man hat die Kennzeichnung sofort entfernt. Offiziell zumindest, im Grunde hat man dem Kind nur einen neuen Namen gegeben und es besser getarnt! Es ist nur eine Frage der Zeit bis wir, die Gefangenen, den Code entschlüsselt haben. Na ja, der Wille war ja schon da! Hätte wieder ein paar Zeilen, die Ihr vielleicht für mich veröffentlichen könnt, wie auch beim letzten Mal könnt Ihr mich namentlich benennen!!

Ich habe ungefähr zwei Monate mit einem Gefangenen aus Stuttgart zusammen gelegen, der auf Grund seiner Suchtprobleme hier in U-Haft einsaß. Er hatte große psychische Probleme, Depression, Angstzustände sowie Verlustängste. Diesbezüglich hat er jede Woche aufs Neue bei der Anstaltsärztin vorgesprochen und um Hilfe gebeten, eventuell Vorstellung beim Psychiater und so weiter. Geholfen hat man ihm soweit, das er mal für fünf Tage das Medikament Tavor (0,5 mg) bekam mit dem Schlusssatz: Wir wollen sie nicht medikamentenabhängig machen!

In der Zeit wo er dies bekam, konnte er am Alltag wieder vernünftig teilnehmen und ist ein bisschen aus sich rausgekommen und hat sich geöffnet. Nach den fünf Tagen fiel er wieder in sein altes Loch, Nervosität, Schweißausbrüche! Wieder ist er zum Anstaltsarzt, hat seine Situation geschildert und um Hilfe gebeten. Nur diesmal bekam er nicht Tavor, sondern Baldriandragees. Ja, Du hast richtig gelesen, Baldrian. Man wollte ihn ja nicht abhängig machen. Leider bin ich selber psychisch krank und komme ohne Medikamente nicht aus und musste dann auf Einzelzelle, konnte nicht mit ansehen, wie er von Tag zu Tag kaputt geht. Auch er ist in einem Einzelhaftraum.

Habe mich dann jeden Hofgang mit ihm beschäftigt, ihm zugehört und versucht hier und da Ratschläge zu geben. Irgendwann kam ich wieder auf den Hof und er war nicht mehr da, habe erfahren, dass man ihn verlegt hat auf eine so genannte "Überwachungszelle". Und glaub mir, es gab Minuten, wo ich mir große Vorwürfe gemacht habe, ihn sich selber zu überlassen.

Kurze Zeit später lief er bei der Freistunde am Zaun vorbei, total abgemagert und den Hals verbunden. Das war kein schöner Anblick. Habe dann erfahren, dass er sich das Leben nehmen wollte. Man hat ihm die Brille (Lesebrille) mit in die Ü-Zelle gegeben und damit hat er versucht, sich die Halsschlagader aufzuschneiden, was ihm zum Glück nicht gelungen ist. Und alles nur, weil man zu geizig war, ihm Medikamente zu geben oder einem Psychiater vorzustellen, worum er mehrfach gebeten hat! Zwei Wochen später ging meine Zellentür auf, gegen Mittag und da stand er auf einmal mit einem Korb, Süßigkeiten, Tabak, Kaffee usw., Tränen in den Augen, ist mir um den Hals gefallen und hat sich bedankt, dass ich jeder Zeit ein offenes Ohr für ihn hatte und er es geschafft hat und er entlassen wird. Ich habe viel hier in Gefangenschaft erlebt aber noch nie einen Menschen mit soviel Traurigkeit und Ängste in den Augen gesehen wie diesen Mann. Keiner hat es hier mehr verdient rauszukommen als er. Mache mir oft Gedanken um ihn, da ich seine Lebensgeschichte kenne und einige Situationen gut nachvollziehen kann, weil auch ich solche Momente im Leben hatte!!

Im Grunde genommen bräuchte er nur einen Menschen der ihm zuhört, ihn hin und wieder lobt und ihm sagt; Wenn was ist, bin ich da, hör dir zu!

Fritz, vielleicht hörst Du von diesem Schreiben und nimm Dir dies zu Herzen und denke darüber nach: STARK SEIN BEDEUTET NICHT, NIE ZU FALLEN. STARK SEIN BEDEUTET, IMMER WIEDER AUFZUSTEHEN!!! Wo ich bin weißt Du ja, falls Du jemanden brauchst, der Dir zuhört, lass es mich wissen!

Seit diesem Tag frage ich mich oft, wann fängt die Würde hier an und wo hört sie auf???

Hätte noch eine kleine Sache, die meiner Meinung nach sehr wichtig ist.

Wie ich schon erwähnt habe, bin ich selber psychisch sehr angeschlagen und komme ohne Medikamente nicht mehr aus. Die Nebenwirkung ist halt, dass die Leber sehr in Mitleidenschaft gezogen wird. Habe mehrfach versucht, Leberschonkost sowie vitaminreiche Ernährung zur Unterstützung des Immunsystems zu bekommen, aber alles ohne Erfolg. Laut Arzt von der JVA wäre das in meinem Falle nicht notwendig, er hätte zum Schluß noch einen guten Tip, soll mir beim Einkauf Äpfel kaufen, da ist alles drin, was meine Leber braucht! Frage mich, was ich noch alles von 30 Euro im Monat kaufen soll. Ich finde es sehr beschämend, dass man nicht einen Cent für Obst und Gemüse für solche Fälle freigibt, man lieber das Geld in neue Beamtenuniformen steckt, die erst vor wenigen Jahren erneuert wurden. Im Grunde genommen ist in der heutigen Zeit ein Menschenleben nichts mehr wert und das nennt man dann ZIVILISATION!

Ich hoffe liebe ..., dass Du meinen Brief öffentlich machst. (...) Ich denke die Gesellschaft hat ein Recht darauf zu erfahren, was hinter den verschlossenen Türen der Justiz passiert, da es ihnen auch ganz schnell passieren kann, dass sie selber in die Situation kommen! (...)

Daniel Schnikal
z.Z. JVA
Simmerner Straße 14a
56075 Koblenz

Raute

Die Gefangenenbetreuung an der Basis organisieren!

Ortsgruppe Dresden und Bundesvorstand der Roten Hilfe

Es ist immer wichtig, dass eine Bewegung ihre Gefangenen nicht vergisst. Genau deshalb ist es umso wichtiger, dass innerhalb der Roten Hilfe die Gefangenenbetreuung wieder stärker in die breite Basis getragen wird. Gefangenenbetreuung heißt, ihnen zu schreiben, ihre Kämpfe zu unterstützen, Pakete zu schicken, Besuche zu machen etc. Für die Gefangenen ist unsere Solidarität unheimlich wichtig! Doch in letzter Zeit wurde Gefangenenbetreuung meist nur von der OG Dresden, in einigen anderen Fällen von einigen wenigen anderen OGs und von einem BuVo-Mitglied organisiert.

Eine der wichtigsten Anliegen bei der Gefangenenbetreuung ist es, den Gefangenen zu schreiben. Dies sollte also der erste und wichtigste Schritt sein. Wir haben nachfolgend einige Tipps für Ortsgruppen zusammengetragen, die euch hoffentlich helfen, das Thema anzugehen.

Was und wie könnt ihr Gefangenen schreiben:

Sicherlich am Bekanntesten und am Einfachsten ist es, Postkarten zu schicken. Eine Postkarte ist schnell geschrieben. Meist haben die OGs auch reichlich davon vor Ort.
Ihr könnt aber auch einen Brief schreiben, allein oder zusammen. Denkt an die Tipps "Wie schreibe ich einem Gefangenen".
Ihr könnt Plakate etc. von Veranstaltungen mit Widmungen, Unterschriften, Grüßen und so weiter beschreiben und dies den Gefangenen schicken.
Ihr könntet auch beim Bundesvorstand anfragen, welchem Genossen oder welcher Genossin im Knast ihr ein Paket schicken könnt. Das muss leider ein wenig besser abgeklärt werden, da nur eine begrenzte Zahl von Paketen pro Jahr empfangen werden darf. Außerdem braucht ihr dann Paketmarken der jeweiligen Gefangenen.

Hinweise:

Wenn ihr Gefangenen schreibt müsst ihr bedenken, dass Post mitgelesen wird! Außerdem kommt es vor, dass Briefe nicht ankommen. Daher ist es am besten die Briefe zu nummerieren, um ein eventuelles Nichtankommen von Briefen zu bemerken!
Packt immer ein paar Briefmarken dazu (drei 55-Cent-Marken sind immer ok), da Geld im Knast ein sehr knappes Mittel ist!
Falls ihr Gefangenen Bücher oder Infomaterial schicken wollt, erkundigt euch bei den Gefangenen über die jeweiligen Knastbestimmungen. Diese können sich von Knast zu Knast unterscheiden!

Wie könnt ihr das Gefangenenschreiben gestalten und organisieren:

Ihr könnt zum Beispiel auf den Ortsgruppenmitgliederversammlungen (OMVs) auch offiziell angekündigt und gezielt vorbereitet einen Teil der Veranstaltung nutzen, um Gefangenen zu schreiben.
Die Aktivengruppe könnte dazu die Gefangenenliste besorgen (die gibt's auf Anfrage einfach beim Bundesvorstand), Tipps zum Thema "Wie schreibe ich Gefangenen" aus- und geeignete Postkarten/Plakate oder ähnliches (es gibt ja viele schöne Postkarten, auch aus den OGs) bereitlegen.
Vielleicht habt ihr auch einen Solitresen, regelmäßige Veranstaltungen, Vokü etc. Auch das ist ein guter Ort, um Gefangenen ein Grußwort zu schreiben und den Kontakt zu Gefangenen zu bewerben.
Die Leute aus den jeweiligen OGs können alleine Gefangenen Briefe oder Postkarten schreiben, die ihr dann über die OG-Adresse verschicken könnt, wenn die Schreiber nicht ihre Privatadresse verwenden wollen!
Die OG beziehungsweise die Aktivengruppe könnte auch zusammen etwas schreiben, entweder wenn sich die Aktivengruppe trifft oder eben auf einer OMV.
Wenn ihr Infostände betreut, andere Veranstaltungen mitorganisiert und so weiter macht es sich auch gut, Postkarten, Gefangenenliste und ähnliches parat zu haben und auch Interessierten die Möglichkeit zu geben, den Gefangenen zu schreiben
Bei einer Veranstaltung, bei der ihr dabei seid, könnt ihr auch das Plakat, die Flyer oder irgend etwas anderes von dieser Veranstaltung nehmen und Leute unterschreiben und/oder etwas Persönliches drauf schreiben lassen und das den Gefangenen schicken.

Und falls euch mal nichts einfällt was ihr schreiben könnt, malt einfach was. Jeglicher Ausdruck von Solidarität ist in den Gefängnissen willkommen!

Um all das mal zusammenzufassen:

Bindet die Gefangenen durch Briefkontakt in eure reguläre Arbeit ein und nutzt alle Gelegenheiten die sich bieten, um Ihnen zu schreiben! Solidarität ist unsere Waffe!

Raute

Wie schreibe ich Gefangenen?

Eines der Hauptprobleme, das Leute davon abhält Inhaftierten zu schreiben ist, dass sie es nicht gewohnt sind einer fremden Person zu schreiben. Leute glauben nicht zu wissen, was sie sagen sollen. Sie glauben, es gibt Dinge über die sie nicht reden können, oder denken, dass Gefangene nicht daran interessiert sind, was sie zu sagen haben. Nun, es handelt sich dabei um ein Problem, das die meisten von uns überwinden müssen, deshalb haben wir hier einige Verschläge zusammengestellt.


Natürlich handelt es sich nicht um starre Richtlinien, und wir geben auch keinesfalls vor alle Probleme gelöst zu haben. Unterschiedliche Menschen schreiben eben auch unterschiedliche Briefe. Hoffentlich werden diese Tipps hier doch Einige anregen, in Briefkontakt mit inhaftierten Genossinnen und Genossen zu treten.

Einige wichtige Dinge

Einzelne Haftanstalten begrenzen die Anzahl der Briefe, welche ein Gefangener oder eine Gefangene schreiben oder erhalten darf. Die Inhaftierten werden womöglich die Briefmarken und die Umschläge selber kaufen müssen, und die meisten sind sicherlich keine Millionäre. Deshalb erwarte nicht unbedingt eine Antwort auf deinen Brief oder deine Karte.

Einige Gefängnisse erlauben, dass Briefmarken oder frankierte Umschläge mit der Post hineingeschickt werden. In solchen Fällen ist es wohl am besten dies mit der jeweiligen Anstaltsleitung beziehungsweise dem oder der betreffenden Gefangenen zu klären.

Briefe werde auch aufgehalten, gelesen, verzögert oder gar "verlegt". Wenn du glaubst, dass ein Brief von der Knastaufsicht aus dem Verkehr gezogen worden ist, frage am besten gleich nach dem Grund dieser Zensur. Sicherer sind natürlich eingeschriebene Briefe, weil diese in der Regel in Anwesenheit des beziehungsweise der Gefangenen geöffnet werden müssen. Aber eine hundertprozentige Sicherheit gibt es leider wirklich nie.

Auf deinen Briefumschlag solltest du stets die Absendeadresse schreiben, nicht nur damit der oder die Inhaftierte dir antworten kann, sondern auch weil einige Gefängnis keine Briefe ohne Absender durchlassen. Natürlich muss dies nicht unbedingt deine eigene Adresse sein, aber achte darauf, dass Postfach-Adressen häufig nicht akzeptiert werden.

Zum ersten Mal schreiben

Sage wer du bist, und wenn nötig welcher Gruppe oder Organisation du angehörst. Ob du dich eingehender vorstellen möchtest, ist dir alleine überlassen, du musst eben nur bedenken, dass die Briefe auch von den staatlichen Autoritäten gelesen werden. Sage vielleicht auch in deinem ersten Brief ein paar kurze Worte zu deiner politischen Einstellung, so dass der oder die Gefangene entscheiden kann, ob er oder sie mit dir in Kontakt bleiben möchte. Sage wo und wann du von seinem beziehungsweise ihrem Fall gehört oder gelesen hast.

Versuche diesen ersten Brief recht kurz zu halten und nur die nötigsten Sachen zu schreiben, weil es besser ist die Leute nicht beim ersten Mal zu überwältigen. Außerdem begrenzen einige Vollzugsanstalten den Umfang der Briefe. Ratsam sind demnach Briefe von bis zu vier DIN A4-Seiten.

Sobald sich der Briefkontakt zwischen euch beiden "eingespielt" hat, werdet ihr euch mehr zu erzählen haben. Wenn du einem oder einer politischen Gefangenen schreibst und du ihn beziehungsweise sie für unschuldig hältst, so erwähne dies auch kurz, weil es ihnen das wichtige Gefühl vermittelt, dass du an sie glaubst.

Viele, die Gefangenen schreiben, haben Angst über Dinge aus ihrem eigenen Leben zu sprechen, was sie so tun und denken, weil sie glauben, dass es die Inhaftierten deprimieren könnte oder dass diese gar nicht daran interessiert sind. In einigen Fällen mag dies wohl zutreffend sein, aber insgesamt kann ein Brief der hellste Punkt eines Tages hinter Gittern ausmachen. Das Leben im Knast ist todlangweilig und jegliche Nachricht die etwas Licht bringt, egal ob sie von einer bekannten oder unbekannten Person kommt, ist stets willkommen.

Besonders wenn du sie nicht vor ihrem Haftantritt gekannt hast, möchten sie mehr über dich wissen, wie dein Leben aussieht und so weiter. Benutze deinen Verstand und dein Mitgefühl und schreibe über nichts, was die Gefangenen in Schwierigkeiten mit der Anstaltsleitung bringen könnte oder irgendwem anderen Probleme mit der Staatsmacht bereiten könnte.

Sie sind dort drinnen für uns, wir sind hier draußen für sie

Für die Gefangenen aus unserer Bewegung, unseren Zusammenhängen und unseren Kämpfen (wie Streiks, Kriegsdienstverweigerung, Mitglieder aus revolutionären Gruppen und so fort), also so ziemlich alle politischen Häftlinge, ist es enorm wichtig sie in den weitergehenden Widerstand mit einzubeziehen. Das heißt ihnen von Aktionen zu erzählen, ihnen Zeitschriften zu schicken, wenn sie diese wollen und mit ihnen Strategien und Ideen zu diskutieren. Einige wollen sicherlich nichts mehr von Klassenkampf und Revolution hören und möchten nur den Kopf senken und ihre Strafe absitzen. Dies müssen wir selbstverständlich respektieren.

"Politische" werden in der Regel im Knast selber isoliert, eben durch Angriffe des Wachpersonals, durch Belästigungen und so weiter. Wenn du Unterstützung oder gar eine Kampagne für eine Gefangene oder einen Gefangenen anbieten möchtest, so ist es am besten realistisch zu bleiben bezüglich dessen, was du auch wirklich erreichen und umsetzen kannst. Für jemanden, der oder die eine sehr lange Zeit hinter Gittern verbringen muss, kannst du wie ein sehr starker Hoffnungsschimmer erscheinen - es ist wichtig die Hoffnung aufrecht zu erhalten, aber keine falschen Illusionen zu kreieren. Wenn eine Gefangene oder ein Gefangener dir glaubt und diese Erwartungen aber nicht erfüllt werden, so kann dies durchaus in Desillusion und Depression enden.

Durch die Mauern

Schlussendlich hat das Schreiben an Inhaftierte sehr viel mit gesundem Menschenverstand und dem Benutzen des Hirns zu tun. Die Gefangenen sind eben nicht jene verrückten Bestien, wie sie uns die reißerischen Boulevardmedien glauben lassen möchten. Es sind vielmehr ganz gewöhnliche Menschen, eben wie du und ich. Knäste sind da um Menschen voneinander zu isolieren, deshalb müssen wir die Verbindung nach draußen aufrecht erhalten. Direkter Kontakt mittels Briefverkehr ist einer der sichersten Wege, dass Gefangene der Staatskontrolle nicht alleine überlassen werden.


Diese Tipps gibt es auch als PDF zum herunterladen:
http://www.rote-hilfe.de/content/pdf/1099

Raute

AZADI

Informationen des Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland

Der Rechtshilfefonds AZADI unterstützt Kurdinnen und Kurden, die in Deutschland im Zuge ihrer
politischen Betätigung mit Strafverfolgung bedroht werden.

AZADI e.V. | Graf-Adolf-Straße 70a | 40210 Düsseldorf | Telefon 0211/830 29 08 | Fax 0211/171 14 53

azadi@t-online.de | www.nadir.org/azadi/ | V.i.S.d.P. Monika Morres (Anschrift wie AZADI e.V.)

Spendenkonto GLS Gemeinschaftsbank e.G. | BLZ 430 60 967 | Konto 80 35 78 26 00


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AZADI und YEK-KOM: 15 Jahre Kurdenverfolgung sind genug - PKK-Verbot muss aufgehoben werden!

Gleichgültig ob schwarz-gelb, rot-grün oder rot-schwarz, auf eines war Verlass: Keine Bundesregierung hat in den vergangenen 15 Jahren auch nur ansatzweise Überlegungen angestellt, das Betätigungsverbot der PKK zu lockern, geschweige denn, es aufzuheben. Das trifft inzwischen sowohl auf die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag zu als auch auf die Spitzen der Parteien. Erinnert sei an eine Zeit, in der es für heute etablierte grüne Parlamentarier/innen und frühere Aktivist(inn)en selbstverständlich war, sich für eine freie politische Betätigung von Kurdinnen und Kurden in Deutschland und eindeutig gegen das Verbot einzusetzen.

Heute sind die Kurdinnen und Kurden - von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt - immer noch konfrontiert mit den Folgen des vom damaligen Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) am 26. November 1993 erlassenen Verbots. Obwohl die seinerzeit genannten Verbotsgründe nicht zuletzt aufgrund der tiefgreifenden Veränderungen der kurdischen Bewegung längst obsolet geworden sind, haben sich alle Bundesregierungen die Fortsetzung der Repression auf die Fahnen geschrieben. Für sie war die Auflösung früherer Strukturen, aus denen grundlegend neue Organisationen mit neuer Zielsetzung hervorgegangen sind, einfach die Fortführung des Alten. Als Rechtfertigung für eine Beibehaltung der Verbotspolitik gilt deshalb die Gleichung PKK = KADEK = KONGRA-GEL und so weiter. Die im Zuge des so genannten Anti-Terror-Kampfes, unter dem der türkisch-kurdische Konflikt gesehen wird, beschlossenen Gesetzesverschärfungen und die Tatsache, dass PKK und KONGRA-GEL auf der EU-Terrorliste geführt werden, erleichtern die Arbeit des Verfolgungsapparates erheblich.

Vor diesem Hintergrund werden nach wie vor kurdische Vereine und Privatwohnungen durchsucht, Vereinsvorsitzende und -mitglieder festgenommen, erkennungsdienstlich behandelt und Ermittlungen gegen sie eingeleitet. Oder es werden Demoteilnehmer/innen wegen des Rufens von Parolen oder Zeigens von Plakaten mit dem Konterfei von Abdullah Öcalan strafverfolgt. Ebenso wird das Sammeln von Spenden oder das Spenden selbst geahndet mit der Begründung, es diene - ähnlich der Mitgliedschaft in einem kurdischen Verein - der Finanzierung der kurdischen Guerilla beziehungsweise der Aufrechterhaltung der Organisationsstrukturen.

Wurde dies bislang in der Regel als Verstoß gegen das Vereinsgesetz verfolgt, versuchen Staatsanwaltschaften vermehrt, Aktivist(inn)en wegen Unterstützung einer "kriminellen" Vereinigung (§ 129 Strafgesetzbuch) anzuklagen. Das verschafft ihnen die Grundlage für umfassende Abhör- und Observationsmaßnahmen.

Mit dem im Juni dieses Jahres verfügten Verbot des kurdischen Fernsehsenders ROJ TV durch Bundesinnenminister Schäuble ist Deutschland den wiederholten Forderungen der Türkei nach Schließung kurdischer Medien entgegengekommen. Eine politisch motivierte Maßnahme, gegen die Klage beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht wurde und über die in Kürze entschieden wird.

Auch kurdische Politiker/innen bleiben im Fokus der Anklagebehörden und werden wegen mutmaßlicher Funktionärstätigkeit nach § 129 StGB zu in der Regel mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Dass viele von ihnen wegen ihres politischen Engagements für die Rechte des kurdischen Volkes schon lange Haftstrafen in der Türkei verbüßt haben und danach ihre Heimat wegen politischer Verfolgung verlassen mussten, spielt für deutsche Behörden keine Rolle. Im Gegenteil: Sie alle verlieren ihren erlangten Asylstatus und müssen nach der Haftentlassung darum kämpfen, nicht in die Türkei abgeschoben zu werden.

AZADI und YEK-KOM haben mit Unterstützung der Roten Hilfe aus Anlass des Jahrestages eine Broschüre mit dem Titel "15 Jahre PKK-Verbot - Eine Verfolgungsbilanz" herausgegeben. Mit der - unvollständigen - Chronologie der Repression wollen wir einen Eindruck vermitteln von den Auswirkungen einer Verbotspolitik, in der auf dem Rücken der Kurden innen- und außenpolitische Interessen der Bundesrepublik verfolgt werden.

Diese Politik trägt nicht zuletzt dazu bei, den Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bewegung und Bevölkerung zu verlängern. Diese verhängnisvolle Politik muss beendet werden. Die Öffentlichkeit ist aufgerufen, die Kurdinnen und Kurden bei ihrem Kampf für das freie Wort und eine von Repression befreite politische und kulturelle Betätigung zu unterstützen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Aufhebung des PKK-Verbots die erste Voraussetzung. Es ist höchste Zeit.

(Azadî/YEK-KOM, November 2008)


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Klagebegründung und Eilantrag in Sachen ROJ TV-Verbot

Die Verteidiger der vom Verbotserlass betroffenen Filmproduktionsfirma VIKO sowie des in Dänemark ansässigen Satellitensenders ROJ TV haben inzwischen sowohl die Begründung zur Klage sowie in einem gesonderten Verfahren einen Eilantrag gegen die Verfügung des Bundesinnenministers vom Juni 2008 beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht. Die Verteidiger rügen insbesondere, dass der Bundesinnenminister aufgrund der unzureichend begründeten Verbotsverfügung seiner Beweispflicht nicht nachgekommen ist. Mit einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts kann in Kürze gerechnet werden.

(November 2008)


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Verbot von ROJ TV: Linksfraktion fragte erneut nach - Alles eine Frage der "journalistische Freiheit"?

Im Oktober-infodienst hatten wir darüber berichtet, dass die Linksfraktion eine zweite Anfrage zu den Hintergründen des Verbots des kurdischen Satellitensenders ROJ TV an die Bundesregierung gerichtet hatte. Es ging einerseits um die Frage, ob es im Vorfeld eine Kooperation zwischen deutschen, türkischen und sonstigen ausländischen Regierungsstellen! Behörden gegeben habe, was die Bundesregierung mit einem schnöden "keine" beantwortete. Weil der Innenminister die Frage, ob er in einem Gespräch mit türkischen Journalisten geäußert habe, dass der Beschluss gegen ROJ TV ein Beweis enger türkisch-deutscher Zusammenarbeit gewesen sei, verneint hatte, haben die Abgeordneten auch hier noch einmal nachgefragt. Zur Untermauerung waren im Vorwort zur Anfrage eine Reihe von Quellen genannt - so die Zeitungen "Hürriyet", "Turkish Daily News" oder die Nachrichtenagentur "Firat". Ferner hat die Linksfraktion nachgefragt, worin die Bundesregierung einen von ihr hergestellten Zusammenhang sehe zwischen der Frage nach der Bedeutung von ROJ TV für die kurdische Bevölkerung und ihrer Behauptung, die PKK wolle mithilfe der Sendungen lediglich ihre Anhängerschaft vergrößern.

Im Vorwort seiner Antwort vom 13. November lässt der Bundesinnenminister erst einmal korrigieren, dass er nicht am 7., sondern am 8. Oktober "in Berlin mit einer Gruppe türkischer Journalisten zu einem Hintergrundgespräch zusammengetroffen" sei. Dabei seien "auch Fragen der deutsch-türkischen Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung angesprochen" worden. In diesem Zusammenhang habe er "auf eine entsprechende Frage das Verbot von ROJ TV bestätigt." In einem Interview mit einer "Redakteurin von Ihlas News Agency" habe er sich dann zu "allgemeinen Fragen der Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung" geäußert, zum ROJ TV-Verbot aber "nicht Stellung genommen". Soweit die in der Anfrage zitierte Berichterstattung "einen anderen Eindruck" vermittele, sei dies "Ausdruck journalistischer Freiheit", zu der die Bundesregierung keine Veranlassung sehe, "sich an einem solchen Prozess der Meinungsbildung zu beteiligen."

Zu der von den Abgeordneten zitierten Meldung der Nachrichtenagentur "Firat", wonach Schäuble erklärt habe, ROJ TV sei nicht aus juristischen, sondern aus politischen Beweggründen verboten worden, heißt es in der Antwort: "Die in der PKK-nahen Nachrichtenagentur "Firat" dem Bundesminister zugeschriebene Erklärung ist weder bei dem Hintergrundgespräch am 7. Oktober noch überhaupt abgegeben worden."

Hinsichtlich der Nachfrage, worin der Bundesinnenminister einen Zusammenhang sehe zwischen der pluralen Ausrichtung von ROJ TV und seiner Behauptung, mit den Sendungen sollten nur neue Anhänger für die PKK und deren Ziele gefunden werden, lautet die Antwort: "Die Bundesregierung hat den in der Frage problematisierten Zusammenhang bereits [in der ersten Anfrage] dargelegt." Das war's.

(Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Norman Paech und der Fraktion die Linke: "Verbot von kurdischem Satellitensender Roj TV", Bundestagsdrucksache 16/10745) Die Nachfrage: Bundestagsdrucksache 16/10745)

(November 2008)


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LG Koblenz verurteilt Aktivisten zu Bewährungsstrafe - Haftbefehl nach Urteilsverkündung aufgehoben

Mehmet C., der im März dieses Jahres verhaftet wurde, ist am 28. November vom Landgericht Koblenz zu einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Die Anklage hatte ihm vorgeworfen, sich im Zeitraum 2005/06 als mutmaßliches PKK- bzw. KONGRA-GEL-Mitglied und "hauptamtlicher Kader" in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) betätigt zu haben. Für einen von der Anklage behaupteten weitergehenden Zeitraum konnten keine gerichtlichen Feststellungen getroffen werden. Das bedeutet, dass das Gericht nicht in der Lage war, sich auf das diesbezügliche Urteil eines OLG oder eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu beziehen.

Nach der Urteilsverkündung wurde der Haftbefehl aufgehoben, seit dem 27. März war Mehmet O. in Untersuchungshaft.

(November 2008)


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Teilerfolg im Revisionsverfahren von Muzaffer Ayata - BGH kritisiert zu hohe Strafzumessung / Sache muss neu verhandelt werden

In dem Revisionsverfahren des kurdischen Politikers Muzaffer Ayata kann die Verteidigung einen Teilerfolg verbuchen. Das gegen ihn am 10. April dieses Jahres vom OLG Frankfurt/Main verhängte Urteil zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) wurde vom Bundesgerichtshof (BGH) mit Entscheidung vom 10. November aufgehoben. Die Richter führten in ihrem Beschluss unter anderem aus, dass schon allein "die Erwägung, dass vor allem zu Lasten des Angeklagten zu berücksichtigen sei, dass er Rädelsführer einer besonders gefährlichen kriminellen Vereinigung in einem Zeitraum von über einem Jahr gewesen sei", im Hinblick auf die Strafzumessung auf Bedenken stoße. Für "nicht mehr hinnehmbar" erachtete das Gericht hingegen, dass straferschwerend die "Selbstverständlichkeit ins Gewicht" gefallen sei, "mit der der Angeklagte zur Erreichung seiner politischen Ziele bereit" gewesen sei, "gegen die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu verstoßen". Diese angenommene "Selbstverständlichkeit" sei weder belegt, noch lasse sich diese aus dem "Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe" entnehmen. Die Sache muss nunmehr neu verhandelt und die Strafe neu zugemessen werden.

Muzaffer Ayata war am 8. August 2006 festgenommen worden und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Er war angeklagt, in einem bestimmten Zeitraum als mutmaßlicher Funktionär der PKK/des KONGRA-GEL tätig gewesen zu sein. Vor Ende des Prozesses hatte die Türkei um die Auslieferung des Politikers ersucht. Über dieses Verfahren ist noch nicht entschieden. Die Verteidigung wird nach der nun vorliegenden Entscheidung des BGH die Aufhebung des Haftbefehls von Muzaffer Ayata beantragen. Aktenzeichen: 3 StR 425/08

Der 52-Jährige hat sich zeitlebens für die Rechte des unterdrückten kurdischen Volkes eingesetzt. Dafür wurde er in der Türkei gefangen, gefoltert und nach 20 Jahren Haft entlassen. Nach seiner Flucht ins europäische Exil im Jahre 2002 setzte er seine politische Arbeit fort. In Deutschland war er Ansprechpartner für die kurdische Partei HADEP/DEHAP beziehungsweise DTP und für sie politisch tätig. Außerdem hat er sich publizistisch in zahlreichen Beiträgen engagiert für eine politische Lösung des kurdischen Konflikts eingesetzt. Im Prozess vor dem OLG Frankfurt/Main hatte Bundesanwalt Müßig dem Kurden vorgeworfen, er genieße die Rolle des Märtyrers und seine Lebensleistung erschöpfe sich in seiner 20jährigen Haft in der Türkei. Ayatas Verteidiger Wolfgang Kronauer entgegnete dem Ankläger, seine Äußerungen würden ein "bezeichnendes Licht auf das undifferenzierte Feinddenken und den Verfolgungseifer der Bundesanwaltschaft" werfen.

(November 2008)


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Türkei fordert Auslieferung des kurdischen Schriftstellers Haydar Isik

Die Türkei will per internationalem Haftbefehl die Auslieferung des kurdischen Schriftstellers und Publizisten Haydar Isik erwirken. Das Ersuchen, das Interpol Ankara am 17. Juni dieses Jahres mit dem Vermerk "Urgent" auf den Weg gebracht hat, wird damit begründet, dass Isik angeblich "bis heute als hochrangiges Mitglied der PKK/KONGRA-GEL-Terrororganisationen Aktivitäten" entwickele. Außerdem sei er drei Monate lang im "so genannten Vorbereitungskomitee zum so genannten Kurdischen Exil-Parlament" tätig gewesen, das am 12. April 1995 "mit den 65 Mitgliedern der Terrororganisation" gegründet worden sei. Interpol Ankara stellt in dem Ersuchen in Aussicht, über "diplomatic channels" weitere Informationen zur Verfügung stellen zu wollen. Zum Schluss wird gebeten, "as soon as possible" von der Verhaftung Isiks informiert zu werden. Die Türkei glaubt, mit dieser Begründung eine Auslieferung des Schriftstellers erreichen zu können.

Zur Erinnerung: Am 5. Juli 2007 wurden unter anderem im Großraum München in einer Polizeiaktion zahlreiche Privatwohnungen und Geschäftsräume "mutmaßlicher Anhänger der verbotenen KONGRA-GEL" durchsucht und 22 Kurden zwecks ED-Behandlung vorübergehend festgenommen. Unter ihnen befand sich auch Haydar Isik, der nach der Festnahme wegen mutmaßlicher Unterstützung der PKK in Untersuchungshaft genommen wurde. Zwei Wochen später war er nach Beschwerde seines Verteidigers gegen Auflagen wieder aus der Haft entlassen worden. So wurde ihm unter anderem der Kontakt zu einer Reihe von angeblich konspirativ arbeitenden Personen untersagt. Wobei auch sein eigener Name (!) auf der entsprechenden Liste stand. Mehrheitlich handelte es sich allerdings um Menschen, die Isiks Verein "Dersim-Gesellschaft für Wiederaufbau" finanziell unterstützen. Mit diesen Methoden der Strafverfolger komme man einer Lösung der Konflikte "keinen Schritt" weiter, erklärte Rechtsanwalt Hartmut Wächtler. Sämtliche Auflagen sind dann im August 2007 zurückgenommen worden.

Dieser Auslieferungsantrag ist kein Zufall. Er macht vielmehr deutlich, wie eng deutsche und türkische Justiz-, Geheimdienst- und Kriminalisierungsbehörden bei der Verfolgung kurdischer (und türkischer) Aktivist(inn)en zusammenarbeiten. In den meisten Fällen haben Oberlandesgerichte in Deutschland die Auslieferungsanträge aus der Türkei abgewiesen, unter anderem, weil die vorgelegten Unterlagen nicht im mindesten dem europäischen Rechtsstandard entsprachen, Aussagen von Personen enthielten, die nachweislich unter Folter erfolgt waren oder in denen sich formale Fehler befanden. Im Haftbefehl gegen Haydar Isik wird zum Beispiel angegeben, dass dieser türkischer Staatsbürger sei. Falsch: Er ist deutscher Staatsangehöriger.

(Dezember 2008)


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Haydar Isik: Das türkische System ist "gewalttätig und barbarisch" - Widerstand bis zur Lösung des kurdischen Konflikts

In einer öffentlichen Stellungnahme erklärt Haydar Isik unter anderem, dass er ein "Opfer [ist] des türkischen Systems, das die Menschenrechte nicht einhält und die kurdische Frage nicht gelöst hat". Er habe Romane über das Massaker "auf den Hängen des heiligen Berges Bawa Duzgin" geschrieben, bei dem türkische Soldaten Kurden aus Dersim (Tunceli) "massakriert hatten." Seit 25 Jahre führe der türkische Staat einen "grauenhaften Krieg in Kurdistan, um sein Verbrechen in Dersim und im gesamten Kurdistan zu verheimlichen". Er habe in der Gesellschaft "tiefe Wunden und unheilbare psychische Schäden" hinterlassen. Der türkische Staat versuche "mit all seinen Institutionen einen Menschen wie mich, der Gewalt ablehne", als "Terroristen zu deklarieren". Er habe das "Dersim-Massaker" in seinen Romanen behandelt und in "zahlreichen Kolumnen das Verbrechen an den Kurden geschildert" und sich "50 Jahre lang" dafür eingesetzt, "dass die Gewalt ein Ende findet und alle Völker in der Türkei friedlich miteinander leben können". Das "System", mit dem er sich angelegt habe, sei "gewalttätig und barbarisch".

Die "faschistische Junta" habe ihn "im Jahre 1982 ausgebürgert" und seine Habe "versteigert". Er sei deutscher Staatsbürger, könne aber "seit 30 Jahren nicht in die Türkei reisen". Dennoch versuche der türkische Staat - "auch mit Hilfe seiner europäischen Unterstützer aus Politik und Wirtschaft" - ihm die "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation anzuhängen, mich durch Interpol festnehmen und in die Türkei ausliefern zu lassen". Wer gegen die Ideologie des türkischen Systems sei, solle "mundtod" gemacht werden. Und selbst Menschen, "die wegen ihrer Herkunft und ihrer Überzeugung ins Exil" haben flüchten müssen, würden "verfolgt und bedroht". Wenn die Türkei auch seine Bewegungsfreiheit "einengen" könne, so werde sie es aber "niemals" schaffen, seine "Gedanken und deren Verbreitung" zu unterbinden. Er werde seinen "Widerstand solange friedlich fortführen, bis das kurdische Volk die ihm zustehenden Rechte" bekomme und es "einen würdigen Platz unter der Sonne der Menschheit eingenommen" habe.

(Dezember 2008)


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Januar 2009: Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Vakuf M. und Ridvan C.

Der Prozess gegen die kurdischen Politiker Vakuf M. und Ridvan C. wird am 9. Januar 2009 vor dem Oberlandesgericht Frankfurt! Main eröffnet und ist vorerst bis zum März terminiert. Vakuf M. wird vom Generalbundesanwalt (GBA) unter anderem der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) beschuldigt. Er soll von Juli 2004 bis Juni 2007 verschiedene "PKK-Gebiete" geleitet haben. Ridvan C., der im Februar dieses Jahres vom Landgericht Stuttgart zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde und sich in Strafhaft befindet, wird vom GBA Unterstützung einer "kriminellen Vereinigung" (§ 129 StGB) vorgeworfen. Als "hochrangiger Jugendkader" soll er zudem - gemeinsam mit zwei anderen - einen "abtrünnigen Aktivisten der PKK-Jugendorganisation Komalen Ciwan in Parteihaft" genommen haben, um eine "Geldforderung für die Organisation durchzusetzen". Hierbei sollen sie laut GBA von Vakuf M. "unterstützt" worden sein.


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Polizei interveniert: Veranstaltung mit ROJ TV-Moderator verhindert

Die Organisation TÜDAY hatte für den 13. Dezember eine Podiumsdiskussion zum Thema "Die Krise der Linken und ihre Zukunft" im Stadtsaal des Kölner Stadtteils Ehrenfeld geplant, zu der auf einer Website mobilisiert wurde. An dieser Diskussion sollte auch der Moderator von ROJ TV Baki Gül teilnehmen. Nachdem die Polizei auf die Veranstaltung aufmerksam geworden war, hatte sie TÜDAY aufgefordert, Herrn Gül entweder auszuladen oder die Veranstaltung abzusagen. Nachdem das abgelehnt wurde, hat die Polizei den Saalbetreiber dazu gebracht, den Vertrag aufzulösen. Das Angebot der Organisatoren, das Ankündigungsplakat zu ändern, damit die Veranstaltung doch durchgeführt werden kann, ist von Seiten der Polizei ausgeschlagen worden. Die Veranstalter verlegten daraufhin die Podiumsdiskussion in das kurdische Institut für Wissenschaft und Forschung.

(Dezember 2008)


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Landgericht verurteilt kurdischen Jugendlichen: Geldstrafe und Arbeitsplatzverlust wegen Zeigens der PKK-Fahne

Der kurdische Jugendliche Üzeyir K. wurde von einem Landgericht wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt. Er hatte im Dezember 2007 an einer Kundgebung teilgenommen und eine Fahne um seinen Hals gebunden, auf der am Rücken "deutlich sichtbar" das Symbol der PKK - roter Hintergrund, gelbe Fackel innerhalb eines gelben Sterns - zu sehen gewesen sei. Der Angeklagte habe gewusst, "dass es sich bei der von ihm gezeigten Fahne um eine solche der in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegten PKK" gehandelt habe. Ferner sei ihm "bewusst" gewesen, "dass das Zeigen der Fahne (...) eine für die PKK werbende Wirkung hervorzurufen" geeignet und "damit in werbender Art und Weise auf die Fortführung der Vereinstätigkeit der PKK im Inland hingewiesen" worden sei. Nicht nur, dass der 22-Jährige aufgrund dieser Verurteilung seinen Arbeitsplatz verloren hat, die Staatsanwaltschaft hat ihm auch eine Rechnung über 1300 Euro präsentiert (Geldstrafe, Gebühren und Entschädigung für die Pflichtverteidigerin).

(Januar 2009)


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Repression gegen Kurden jetzt auch in Großbritannien

15 Stunden lang sind in London die Wohnungen von Mitgliedern der Föderation kurdischer Vereine in Großbritannien (FED-BIR) durchsucht worden. Hierbei sind laut Erklärung des Vorstands Türen zerstört, Wohnungseinrichtungen verwüstet und Personen festgenommen und beschlagnahmte Gegenstände nicht protokolliert worden. Der britischen Polizei wurde vorgeworfen, im Rahmen des so genannten Antiterrorkampfes staatliche Gewalt auszuüben.

(Azadî/ÖP/ISKU, 23.12.2008)

Raute

INTERNATIONALES

Freiheit für Mumia Abu-Jamal - die letzte Phase hat begonnen

Berliner Mumia-Bündnis (Stand 29. Dezember 2008)

Mumia Abu-Jamals Verteidigung reichte am 19. Dezember 2008 einen Antrag beim U.S. Supreme Court ein, dem Obersten Gerichtshof der USA. Sie fordert aufgrund von zwei Verfassungsbrüchen in Mumias ursprünglichem Verfahren 1982 ein komplett neues Verfahren.

Dies ist gleichzeitig die allerletzte juristische Initiative, die Mumia selbst ergreifen kann. Sollte der U.S. Supreme Court es ablehnen, Mumias Antrag zu hören oder aber ein neues Verfahren verweigern, gibt es keine weitere juristische Möglichkeit für den afroamerikanischen Journalisten, jemals frei zukommen. Das Todesurteil vom Juli 1982 wäre dann endgültig höchstrichterlich abgesegnet.

Mumia Abu-Jamal sitzt seit über 27 Jahren im Hochsicherheitsgefängnis, 26 Jahre davon im Todestrakt. Er ist auf sechs Quadratmetern ohne direktes Tageslicht inhaftiert, hat nur eine Stunde "Hofgang" täglich in einem kleinen Betonkäfig und extrem beschränkte Kommunikationsmöglichkeiten mit der Außenwelt. Besuche sind nur mit Trennscheibe und Komplettüberwachung möglich. Seit letztem Jahr allerdings ist Mumia dabei nicht mehr an Händen und Füßen angekettet. Der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Bischof Desmond Tutu hatte sich nach einem Besuch bei Mumia öffentlich über die entwürdigende und zugleich völlig überflüssige Fesselung beschwert, was die Anstaltsleitung an diesem Punkt überraschenderweise zum Einlenken brachte.

Mumia Abu-Jamal hat trotz dieser Haftbedingungen nie aufgehört, die aktuellen politischen Ereignisse in den USA und weit darüber hinaus zu verfolgen und kritisch zu kommentieren. Seine wöchentlichen Kolumnen werden trotz eines Sendeverbots von 1996 beim National Public Radio nun über prisonradio.org weltweit verbreitet. Wie die Berliner junge Welt veröffentlichen über 100 Nachrichtenmedien Mumias Beiträge, die stets einen scharfen Blick auf die Regierungspolitik der USA, die globale Wirtschaft und ihre Auswirkungen werfen. Seine Betrachtungen kreisen vor allem um die Leidtragenden solch einer Politik, seine Ausblicke sind oft richtungweisend und stets revolutionär. Dem bereits in den 1970-er Jahren verliehenen Ehrennamen "The Voice Of The Voiceless" (Stimme der Unterdrückten) wurde Mumia auch 2008 voll gerecht.

Genau aus diesem Grund sitzt der Journalist und ehemalige Pressesprecher der Black Panther Party aus Philadelphia noch immer im Knast. Juristisch gibt es keine Beweise, eigentlich nicht einmal Indizien, die dem ihm 1981 untergeschobenen Mord belegen würden. Über die Details ist in dieser Zeitung bereits oft geschrieben worden. Für Interessierte sei hier auf die unten stehende Literatur- und Ressourcenliste verwiesen.

Es kann in den nächsten Wochen aber auch noch schlimmer für Mumia Abu-Jamal kommen. Mumias Verteidigung ist nicht die einzige, die vor den U.S. Supreme Court geht - die Staatsanwaltschaft verlangt dort die Beibehaltung des Todesurteils gegen Mumia!

Die zuständige Leitende Staatsanwältin Lynne Abraham von Philadelphia hat dies bereits im November 2008 beantragt. Sie fürchtet zu Recht ein neues Verfahren. Im Augenblick will sie nicht einmal von einer Möglichkeit Gebrauch machen, die ihr das 3. Bundesberufungsgericht im März 2008 zugestanden hatte. Sie könnte ein abgetrenntes Juryverfahren alleine über das Strafmaß (Lebenslänglich oder Todesstrafe) führen. Hierbei säße Mumia samt Verteidigung und kritischer Öffentlichkeit jedoch im Gerichtssaal und eine neue Jury müsste ausgewählt werden. Es wäre hier für die Staatsanwältin vermutlich schwierig, die Manipulationen aus dem ursprünglichen Verfahren vor dieser Jury weiter unter den Teppich zu kehren. Deshalb versucht sie, Mumia möglichst bald und ohne weitere juristische Prüfung hinrichten zu lassen.

Laut Mumias Hauptanwalt Robert R. Bryan wurden im Januar 2009 sogenannten "briefings", das heißt Stellungnahmen und Erläuterungen zu den jeweiligen Anträgen auf Anfrage an den Supreme Court nachgereicht. Frühestens ab Februar 2009 sei dann mit einer Entscheidung zu rechnen, so Bryan.

Im Dezember 2008 gab es eine Aktionswoche in verschiedenen Ländern, um noch einmal lautstark die Forderung nach Mumias Freilassung in die Öffentlichkeit zu bringen und der Verteidigung in diesem politischen Verfahren den Rücken zu stärken.

Neben vielen Informations- und Kulturveranstaltungen gab es in den USA unter anderem in Philadephia, Detroit und New York Kundgebungen, und in Mexico City, Berlin, Hamburg, Bern, Wien und Barcelona kam es zu Protesten vor Vertretungen der US-Regierung. Alle Berichte gleichen sich auf mehrfache Art: Die jeweiligen Proteste waren laut und von guter Stimmung der Beteiligten getragen, übertraten aber nie eine Teilnehmerinnenzahl von 500. Mediale Wahrnehmung ist außerhalb der unabhängigen Medien fast nie erreicht worden. So wichtig die Aktionswoche bestimmt innerhalb der jeweiligen Linken war, um Mumia Abu-Jamal wieder ins Bewusstsein von AktivistInnen zu bringen, hat sie die im Augenblick notwendige öffentliche Wirkung unserer Meinung nach nicht erreicht.

Mumias Hauptanwalt Robert R. Bryan sagte auf einer Podiumsveranstaltung am 3. November 2008 in Berlin: "Sollten wir unseren Antrag vor dem Supreme Court verlieren und gleichzeitig die Staatsanwaltschaft sich durchsetzen, wird Mumia in nicht mal einem Jahr hingerichtet werden."

In einem "legal update" Mitte Dezember 2008 fasste Bryan die Situation so zusammen: "Mumia Abu-Jamal befindet sich in der lebensbedrohlichsten Lage seit seiner Festnahme 1981."

Als Kampagnenbündnis mit inzwischen zweijähriger Praxis wissen wir genau, dass es eines enormen Kraftaktes bedarf, um die für Mumia notwendige Öffentlichkeit aufzubauen. Zwar haben wir in den letzten Phasen der Kampagne viele Kontakte gemacht und von einigen sehr konkrete Unterstützung erfahren. Die große Mehrheit der Linken hält sich zurück, obwohl wir den Eindruck haben, dass die Mehrheit der Forderung nach Mumias Freiheit zustimmt.

Oft werden wir mit der Erwartung konfrontiert, "größere" Aktivitäten zu entwickeln und sozusagen "stellvertretend" den Protest zu organisieren. Ganz ehrlich: Wir werden jetzt bestimmt nicht aufgeben. Allerdings ohne konkrete Eigeninitiative aller Interessierten wird es nicht möglich sein, Mumia Abu-Jamals drohende Hinrichtung zu verhindern. 1995 und 1999 haben hunderttausende solidarische Menschen bewiesen, dass es möglich ist.

Wir haben in der Rote-Hilfe-Zeitung verschiedentlich darauf hingewiesen: Mumias Uhr läuft. Sein Leben ist in Gefahr und er muss endlich raus aus der Hölle des Todestraktes.

Es ist nicht mehr mit dem Auslegen von Flugblättern oder Infotischen auf linken Prestige-Veranstaltungen (à la Rosa-Luxemburg-Konferenz, 1.Mai et cetera) getan. Natürlich ist es ein erster Schritt. Wir denken jedoch, dass es jetzt einer überregionalen Vernetzung bedarf, um im Ernstfall schnell eine wirklich große Mobilisierung entwickeln zu können. Seit Mai 2007 arbeiten wir daran - mit langsam ansteigendem Erfolg - zu langsam. Mumia braucht uns jetzt!

Die Unterstützungsarbeit für Mumia Abu-Jamal darf in dieser entscheidenden Phase nicht die Sache von Wenigen sein. Um ihn zu retten, bedarf es erneut der Kraft von uns allen.


Literatur und Ressourcen

Film "In Prison My Whole Life" (UK 2007, OmU) Vertrieb in Deutschland über Annette Schiffmann (anna.schiff@t-online.de Film "Behind These Walls - Hinter diesen Mauern" (BRD 1996) freie Internetansicht www.freespeech.org/videodb/index.php?action=detail&video_id=9818

Bücher in Englisch:
"The Framing of Mumia Abu-Jamal", J. Patrick O'Connor (USA 2008), Lawrence Hill Books EAN 9 781556 527449

"We Want Freedom" Mumia Abu-Jamal (USA 2004), South End Press ISBN 0-89608-718-2 (Die deutsche Übersetzung des Buches erscheint im Frühjahr 2009)

Killing Time: An Investigation into the Death Penalty Case of Mumia Abu-Jamal", Dave Lindorff, Common Courage, 2003, ISBN 1-56751-299-1

Bücher in Deutsch:
"Wettlauf gegen den Tod Michael Schiffmann, (BRD 2006), promedia, ISBN-10: 3853712584, ISBN-13: 978-3853712580

Mumia Abu-Jamal "... aus der Todeszelle" Aus dem Inneren der Todestrakte in den USA. Atlantik Verlag, 2005, 237 Seiten, 12,80 Euro

Mumia Abu-Jamal "Ich schreibe um zu Leben" Ein Gläubiger, dessen Religion das Leben ist. Atlantik Verlag, 2001, 212 Seiten, 12,80 Euro

Mumia Abu-Jamal "Das Imperium kennt kein Gesetz" Eine Auswahl der Kolumnen in der Tageszeitung junge Welt. Atlantik Verlag, 2002, 180 Seiten, 12,80 Euro

Terry Bisson "On a move" Die Lebensgeschichte von Mumia Abu-Jamal. Atlantik Verlag, 248 Seiten, 12,80 Euro.

Alle zu beziehen über www.alive-auslieferung.de oder E-Mail an: ivk@freedom-now.de

Flugblätter, Broschüren, Aufkleber, T-Shirts etc. gerne über das Berliner Mumia-Bündnis free.mumia@gmx.net

Informative Webseiten in Deutsch:
www.mumia-hoerbuch.de (Berliner FREE MUMIA-Bündnis)
www.freedom-now.de (IVK Bremen)
www.againstthecrimeofsilence.de (Michael Schiffmann, Heidelberg)
www.sterneck.net/mumia/index.php (Archivsammlung zu Mumia Abu-Jamal)

Informative Webseiten in Englisch:
www.abu-jamal-news.com (Journalists for Mumia, Philadelphia)
www.prisonradio.org/mumia.htm (Prison Radio, wöchentlich neue Kolumnen von Mumia)

Raute

INTERNATIONALES

Rassismus - ein wesentlicher Bestandteil der US-Geschichte und des US-Rechtssystems

Beitrag auf der Podiumsdiskussion zum 27. Jahrestag der Verhaftung Mumia Abu-Jamals am 9. Dezember 2008 in Berlin im Rahmen der weltweiten FREE-MUMIA-Aktionswoche

George Pumphrey

Zu Beginn des Jahres 2008 schrieb Mumia Abu-Jamal in seiner Samstagskolumne in "junge Welt":

"Auf negative Beschlüsse oder Fehlurteile von Gerichten wird nicht selten überrascht oder gar schockiert reagiert. Offensichtlich liegt das Moment der Überraschung in der falschen Annahme, Gerichte wären grundsätzlich in der Lage, richtig zu entscheiden. Wenn aber die Geschichte unsere Lehrmeisterin ist und wir unser Urteil über die Justiz von historischen Erfahrungen ableiten, dann sollte es eher überraschen, wenn Gerichte einmal wirklich gerecht oder richtig entscheiden. Die Justiz ist eine politische Institution, und in der Politik geht es weniger um die Frage, was richtig und was falsch ist; es geht vielmehr um Macht, und wer sie hat oder eben nicht."

Um die Anwendung der Todesstrafe in den USA zu verstehen, muss man zwei Aspekte berücksichtigen: den Rassismus als wesentlichen Bestandteil der gesamten US-Geschichte und die selektive Anwendung beziehungsweise den Abbau demokratischer Rechte. Diese beiden Aspekte zusammengenommen erklären, warum Hunderte von unschuldigen Menschen hingerichtet wurden oder in den Todeszellen sitzen, warum Tausende unschuldig im Gefängnis sind und warum die Chancen geringer werden, dass ein Gericht ihre Unschuld anerkennt.

Um zu verstehen, wie sehr die Anwendung der Todesstrafe vom Rassismus geprägt ist, muss man weiter zurückgehen in der Geschichte. Die anglo-amerikanische Form der Sklaverei unterschied sich von allen anderen Sklavereien. Die britische Besitzsklaverei, die nur gegen Afrikaner angewendet wurde, war eine rassistische, eine lebenslängliche und eine erbliche Institution. Das heißt, sie betraf nicht nur die Generation, die in Ketten nach Amerika gebracht und dort an Sklavenhalter verkauft wurde, sondern auch ihre Nachgeborenen.

Die Sklaven hatten keinerlei Rechte. Selbst familiäre Verbindungen waren verboten. Paare wurden getrennt verkauft, ebenso Kinder von ihren Eltern. Der Sklavenhalter hatte per Gesetz die absolute Macht über seine Sklaven. Er konnte sie ungehemmt foltern - Foltermethoden wurden sogar per Sklavengesetz detailliert vorgeschrieben. Und wenn ein Sklave unter der Folter starb, hatte das keinerlei rechtliche Folge für den Sklavenhalter.

Der 4. Juli 1776 ist das offizielle Geburtsdatum der USA. An diesem Tag wurde die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet, die die höchsten Ideale der Aufklärung betont: Gleichheit alter Menschen, ihre unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit, Streben nach Glück und nicht nur das Recht, sondern die Pflicht der Unterdrückten, gegen jede Form der Tyrannei zu rebellieren und sie abzuschaffen.

Die Unabhängigkeitserklärung war revolutionär und von großer Bedeutung im ersten antikolonialen Kampf der Neuzeit. Man muss aber wissen: Der Autor der Erklärung, Thomas Jefferson, hatte in seinem Entwurf die Institution der Sklaverei angeprangert. In der Endfassung aber wird die Sklaverei nicht mehr erwähnt. Die USA wurden mit einer Doppelmoral geboren.

Die US-Verfassung, die zwölf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung ratifiziert wurde, war eindeutig, sie schrieb die Sklaverei fest. Sie schrieb Schwarzen nur drei Fünftel des Wertes von Weißen zu, Sklaven durften weiter importiert werden, und Sklaven, die in den Norden geflüchtet waren, mussten zu ihren Sklavenhaltern zurückgebracht werden. Der rechtlose Status von Sklaven während der Kolonialzeit wurde also in den unabhängigen USA weitergeführt. Der Widerstand gegen die Sklaverei wuchs. Es kam zu Sklavenaufständen, und immer mehr Sklaven sind in den Norden geflohen; oft auch mit Hilfe von Weißen. Weiße strengten Prozesse gegen Sklavenhalter an.

1857 entschied das Oberste Gericht der USA im Fall des Sklaven Dred Scott, dass "Schwarze keine Rechte haben, die von Weißen respektiert werden müssen" und dass Schwarze - ob Sklave oder nicht - keine Bürger der Vereinigten Staaten sein können. Diese Entscheidung - bekannt als Dred-Scott-Urteil - war einer der Auslöser des Bürgerkrieges.

Viele meinen, dass die Sklaverei nach dem Bürgerkrieg (1861-65) auch verfassungsrechtlich abgeschafft wurde. Das stimmt nur zum Teil. Mit dem 13. Verfassungszusatz von 1865 wurden Sklaverei und Zwangsarbeit zwar generell abgeschafft, aber ausdrücklich erlaubt "als Strafe für ein Verbrechen aufgrund eines rechtmäßigen Urteils".

Nach dem Bürgerkrieg waren die Sklaven zwar befreit, aber viele waren ohne Arbeit und ohne Unterkunft. Viele wurden wegen "Landstreicherei" verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt und als Arbeitskraft an ihre ehemaligen Besitzer ausgeliehen. Der 14. Verfassungszusatz machte uns Schwarze 1868 zu vollen Bürgern der USA, und zwei Jahre später erhielten wir das Wahlrecht. Die früheren Sklavenhalter und Rassisten antworteten mit Terror. Der Ku-Klux-Klan und andere faschistische Organisationen wurden gegründet und Gesetze der Rassentrennung erlassen. 1896 entschied das Oberste Gericht, die Rassentrennung sei verfassungskonform. Die Segregation wurde in den ehemaligen Sklavenhalterstaaten umfassend institutionalisiert.

Es folgte ein langer Kampf gegen die Apartheid, der Mitte der 1950er Jahre einen ersten Erfolg erzielte mit der Entscheidung gegen die Rassentrennung in den Schulen. Die Reaktion der Rassisten wurde immer brutaler. Der Bürgerrechtskampf wurde entsprechend härter und erfasste Millionen, um die restlichen Mauern der Apartheid und Diskriminierung niederzureißen.

Die Antirassismusbewegung ergriff bald den Norden der USA, denn dort herrschte zwar keine offizielle Rassentrennung, aber alltägliche Rassendiskriminierung. Die Ghettoaufstände wurden von Jahr zu Jahr heftiger. 1967 berief Präsident Lyndon B. Johnson eine Sonderkommission, um die Hintergründe der Aufstände zu untersuchen.

Die Kommission kam zu folgendem Ergebnis: "Unsere Nation bewegt sich in Richtung zweier Gesellschaften, eine schwarze und eine weiße, getrennt und ungleich. (...) Bei Weiterführung des gegenwärtigen Kurses wird die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft vertieft und im Endergebnis die grundlegenden demokratischen Werte zerstört (...) Was weiße Amerikaner noch nie richtig verstanden haben - und was die Schwarzen nie vergessen können - ist, dass die weiße Gesellschaft tief in das Ghetto verwickelt ist. Weiße Institutionen haben das Ghetto geschaffen, weiße Institutionen halten es aufrecht, und die weiße Gesellschaft gibt ihre Zustimmung." Dieser Bericht wurde im März 1968 veröffentlicht. Wenige Wochen später, am 4. April 1968, wurde Dr. Martin Luther King ermordet. Die Regierung hatte sich entschieden.

Der Schuss, der Martin Luther King tötete, war der Startschuss eines Krieges gegen die Demokratie in den USA. 1968 wurden mehrere Maßnahmen getroffen, um den Unterdrückungsapparat zu konsolidieren und die politische Repression bundesweit zu koordinieren.

Die Bürgerrechtsbewegung und die Antikriegsbewegung hatten ein so hohes Maß an Ansehen erlangt, dass nicht nur Dr. King zum Schweigen gebracht werden musste. Die Bewegungen sollten gespalten und auseinandergetrieben werden. Danach sollte alles dafür getan werden, dass nie wieder so einflussreiche Bewegungen entstehen könnten.

Als in Reaktion auf Martin Luther Kings Ermordung mehr als 100 Städte in Flammen aufgingen, forderten einige Politiker sogar, den McCarren-Akt anzuwenden, um den Notstand auszurufen, der es ermöglicht hätte, die schwarzen Demonstranten in Konzentrationslager einzusperren. (Der McCarren-Akt stammt aus der Zeit der Kommunistenjagd in den USA, Ende der 1940er bis Ende der 1950er Jahre.) Der Präsident lehnte dies ab. Doch es sollte zu denken geben, dass im Auftrag des Präsidenten kurz danach die "Nationale Kommission zu Ursachen und Vorbeugung von Gewalt" eine Umfrage in Auftrag gab, um zu erfahren, welche Reaktionen zu erwarten wären, wenn die Regierung die afroamerikanische Bevölkerung massenhaft verhaften würde. Die Frage lautete: "Stellen Sie sich vor, die Regierung hätte viele Schwarze in Ihrer Stadt verhaftet und weggesperrt, obwohl diese keinerlei Probleme verursacht hatten. Wie würden Sie reagieren?". Die Auswertung der Soziologen sah wie folgt aus: "Weiße Amerikaner wären offensichtlich in der überwiegende Mehrheit 'Good Germans'." Nur 18 Prozent würden gewaltlos protestieren und 9 Prozent auch mit Gewalt. 43 Prozent der Afroamerikaner hingegen wären bereit zu zivilem Ungehorsam und 25 Prozent auch zur Gewalt.

Seit Kings Ermordung wurde der Repressionsapparat systematisch neu orientiert. Es geht nicht mehr um Strafrecht - was ein Vergehen oder Verbrechen voraussetzt - sondern vor allem um Wegsperren und Liquidieren.

Die Polizei wurde militarisiert und weitgehend mit Kriegswaffen ausgerüstet. In den Ghettos agieren Polizisten wie Soldaten auf feindlichem Territorium. Es geht kaum noch darum, "Verdächtige" zu verhaften und vor Gericht zu bringen. Verdächtige werden nicht selten sofort als "Kriminelle" erschossen und "Beweise" werden nachträglich an den Tatort gelegt, damit es wie Notwehr aussieht. Wie Mumia es ausdrückte: "In den USA ist es immer noch so, dass die Hautfarbe allein schon ein 'Verbrechen' ist."

Auch die Funktion der Gerichte hat sich verändert. Es geht kaum noch darum, Schuld oder Unschuld zu untersuchen. Die meisten Prozesse dauern heute nur noch ein paar Minuten. Der Richter verliest die Anklagepunkte, der Angeklagte erklärt sich für schuldig und das Urteil wird verkündet. Dem geht das so genannte Plea Bargaining voraus. Das sieht so aus: Der Ankläger erhebt möglichst viele Anklagepunkte, egal ob er Beweise dafür hat oder nicht. Mit der Androhung langjähriger Gefängnisstrafen oder der Todesstrafe soll der Angeklagte davor abgeschreckt werden, auf einen normalen Prozess zu bestehen. Dem Angeklagten, der meist schon Monate in U-Haft ist, wird eine leichtere Strafe versprochen, wenn er sich vor Gericht zu einem der Anklagepunkte schuldig bekennt - auch wenn er tatsächlich keines der Verbrechen begangen hat. Da die meisten Angeklagten aus armen Verhältnissen kommen, sind sie auf Pflichtverteidiger angewiesen. Ihr Pauschalhonorar erlaubt keinen langen Prozess, um eventuell die Unschuld der Angeklagten zu beweisen. Dieses Plea-Bargaining wird heute in 90 Prozent der Fälle angewendet und gilt als wirtschaftlich vernünftig, da es den Staat weniger kostet. Gesetze wurden in den letzten Jahren so geändert, dass es sehr schwer und kostspielig ist, in Berufung zu gehen.

Von 1987 bis 2007 ist die Kriminalitätsrate in den USA um 25 Prozent gesunken, während sich die Inhaftierungsrate verdreifacht hat. Die USA sind inzwischen Weltmeister im Inhaftieren. Mehr als 2,3 Millionen Männer und Frauen - 25 Prozent aller Gefangenen in der Welt - sind in US-Gefängnissen eingesperrt. Kein anderes Land der Welt - nicht einmal China mit mehr als viermal so vielen Einwohnern - hat so viele Gefangene. In den USA gibt es inzwischen mehr Gefangene als Bauern.

Mumia Abu-Jamal schrieb am 15. März 2008 in junge Welt dazu: "Einer der Gründe, warum die USA auf diesem Gebiet weltweit absolut führend sind, ist die Tatsache, dass das Gefängnissystem in den vergangenen Jahrzehnten in einen bedeutenden Wirtschaftszweig umgewandelt wurde. Als Begleiterscheinung wurden viele neue Arbeitsplätze in neu gebauten Gefängniseinrichtungen geschaffen - gerade in ökonomisch schwachen Gegenden, in denen beispielsweise Bergbau und Schwerindustrie zusammengebrochen sind und in der Folge ein Arbeitslosenheer entstand." Mumia hatte in seinem Buch "... aus der Todeszelle" schon 1995 vor dieser Entwicklung gewarnt, weil gegen immer mehr Angeklagte immer höhere Strafen verhängt wurden.

Das Gefängnissystem ist inzwischen zu 23 Prozent privatisiert und für viele Unternehmen lukrativ, denn die unbezahlte beziehungsweise unterbezahlte Arbeit der Gefangenen bringt für sie große Profite. Anfang des Jahres saßen 3263 Gefangene in den Todeszellen der USA. 42 Prozent davon Afroamerikaner, obwohl sie nur 12,8 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Die Situation ist düster, aber es hat auch Fortschritte gegeben, gerade im Hinblick auf die Todesstrafe:

2003 hatte der Gouverneur von Illinois, George H. Ryan, als letzte Amtshandlung die Todesstrafe der 167 Gefangenen in den Todeszellen des Bundesstaates in Lebenslänglich umgewandelt.

2004 hatte der Oberste Gerichtshof des Staates New York die Todesstrafe, wie sie im Staat praktiziert wurde, für verfassungswidrig erklärt. Seitdem gibt es in New York de facto keine Todesstrafe mehr.

2008 entschied der Oberste Gerichtshof von Nebraska, dass der Elektrische Stuhl als Hinrichtungsmethode verfassungswidrig ist. Seitdem hat auch Nebraska die Todesstrafe ausgesetzt.

Die Anzahl der Gefangenen, die zum Tode verurteilt worden sind, sinkt seit einigen Jahren.

Wenn all dies Ergebnis eines Umdenkens ist, dann haben auch Mumia Abu-Jamal und die Solidaritätskampagne für ihn einen großen Anteil daran. Mumia hat durch seine Artikel, Kolumnen und Radiosendungen das Scheinwerferlicht auf die Todesstrafe und auf die Ungerechtigkeit im US-Justizsystem geworfen. Die US-Regierung sorgt sich natürlich um ihr "Menschenrechts"-Image im Ausland. Mumias Anwalt Robert R. Bryan betont immer wieder, dass die Unterstützung für Mumia, die aus Deutschland und Frankreich kommt, auch für den Kampf in den USA maßgebend ist.

Unser Kampf muss weitergehen und mehr Menschen und breitere Kreise einschließen, damit - um es mit Mumias Worten zu sagen - "die Überraschung kommt, dass das Gericht einmal wirklich gerecht oder richtig entscheidet".

Mumia schrieb in der Kolumne, die ich eingangs zitierte: "Das Gesetz und die Gesetzgeber haben sich immer schon nur dann bewegt, wenn die Machtlosen sich organisierten, um sie zu Veränderungen zu zwingen. Frederick Douglass, legendärer Gegner der Sklaverei und Freiheitskämpfer, hat es auf den Punkt gebracht: 'Die Mächtigen gewähren nichts, wenn es ihnen nicht abgefordert wird. Das war immer so und wird immer so sein.'"

Und ich möchte hinzufügen: Das wird auch so sein unter einem Präsidenten mit einem sympathischen braunen Gesicht.


Weitere Informationen und die wöchentliche Kolumne von Mumia Abu-Jamal:
→  http://www.freedom-now.de

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INTERNATIONALES

Jederzeit und überall: Fingerabdrücke von jedermann

Fingerabdrücke nehmen und abgleichen - jederzeit, überall, von jedermann. Das will die britische Polizei möglichst noch in diesem Jahr erreichen, spätestens aber Anfang 2010 soll es soweit sein. Ermöglichen sollen das im Vereinigten Königreich mobile Fingerabdruck-Scanner, die aktuell produziert und getestet werden. Einen königlichen Namen trägt auch das Projekt: Es heißt MIDAS (Mobile Identification At Scene), wie der legendäre Herrscher von Phrygien. Der wurde vor allem durch seine Gier und seine Dummheit bekannt. Das entsprechende, bereits seit 2006 taufende Modellprojekt "Laterne" begeistert die beteiligten Polizisten jedenfalls: "Einfach weil sie den Apparat sahen, gaben Leute zu, dass sie falsche Angaben gemacht hatten", erklärte einer der Beamten.

Wenn diese Apparate mit MIDAS flächendeckend eingeführt werden, können Polizisten Fingerabdrücke ganz einfach auf der Straße nehmen - bei jeder Routinekontrolle, bei jedem Falschparker, bei jedem Jugendlichen, der einfach nur rumhängt. Innerhalb von zwei Minuten können die kleinen Geräte in der Größe eines Mobiltelefons die Scans mit der nationalen Polizei-Datenbank Ident1 abgleichen, die aktuell die persönlichen Daten von mindestens 7,5 Millionen Einwohnern enthält. Damit nicht genug: Pläne für eine landesweite Datei von Kopfbildern (Facial Images National Database/Find) wurden zwar letztes Jahr fallen gelassen, werden aber in Zusammenhang mit MIDAS wieder hervorgeholt.

Die Aufnahmen der Fingerabdrücke (oder vielleicht auch Gesichter) werden verschlüsselt im öffentlichen UMTS-Netz verschickt, das derzeit auch in der Mobiltelefonie verwendet wird. Der Kontrollierte muss dazu nicht mehr - wie bisher nötig - auf die Wache gefahren werden. Das dauert im Schnitt 67 Minuten, erklärte die NPIA (National Policing Improvement Agency/Nationale Agentur zur Verbesserung der Polizeiarbeit) und argumentiert deshalb, dass durch den Einsatz der Geräte die Festnahme von möglicherweise Unschuldigen vermieden werden könnte.

Ob die Rechte Unschuldiger tatsächlich dadurch geschützt werden, dass jedermanns Fingerabdrücke vor aller Augen abgenommen und identifiziert werden können, sei dahingestellt. Immerhin kann jeder Bürger die Prozedur auf offener Straße verweigern und darauf bestehen, aufs Revier gefahren zu werden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren auch, dass durch dieses vereinfachte Verfahren die Daten unschuldiger Bürger in den Datenbanken gespeichert würden. "Die genommenen Abdrücke müssen auch wieder gelöscht werden", sagte Gareth Crossman, Vorsitzender der Organisation "Liberty". Und: "Die Beamten müssen mit absoluter Sicherheit dafür sorgen, dass sie Fingerabdrücke nur nehmen, wenn sie eine Person einer Straftat verdächtigen und ihre Identität nicht feststellen können."

Die in der Anti-Personalausweis-Kampagne aktive Gruppe NO2ID erklärte, es gebe bei allen bekannten biometrischen Scannern Fehlerquoten - "nicht zuletzt bei kleinen tragbaren Geräten". Phil Booth, der nationale Koordinator der Gruppe, befürchtet, dass diese Technologie genutzt würde, um Menschen aus der vergleichsweise anonymen Öffentlichkeit herauszuziehen. "Mit dieser unausgereiften Technologie bekommt die Polizei eine völlig neue Macht", sagte er.

Das Londoner Innenministerium begrüßte die mobilen Fingerabdruck-Scanner als "eine von mehreren Möglichkeiten, die den Kampf gegen Kriminalität effektiver machen könnte". Dadurch hätten die Polizisten auch mehr Zeit, auf der Straße präsent zu sein. Das bestätigte einer der am "Projekt Laterne" beteiligten Beamten: "Wir haben dank 'Laterne' jede Menge Zeit gespart, und das hält uns auf der Straße und nicht im Büro." So hat der Feldversuch laut NPIA ergeben, dass die Polizisten dank des Scanner-Einsatzes in der Hälfte der bearbeiteten Fälle durchschnittlich 87 Minuten gespart haben. Die British Transport Police (vergleichbar mit der früheren bundesdeutschen Eisenbahnpolizei/BGS) hat demnach in 83 Prozent der Fälle jeweils 37 Minuten Bearbeitungszeit einsparen können.

Bewährt hat sich der schnelle Abgleich dieser biometrischen Daten der Studie zufolge vor allem bei der Identifizierung bewusstloser oder verstorbener Personen, beim "Schutz von Großveranstaltungen", bei der Ergreifung von mit Haftbefehl Gesuchten sowie bei der Verfolgung von "disqualified drivers", also bei Fahrern, die gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen haben. Besonders effizient war der Fingerabdruck-Abgleich bei solchen Verbrechern, die schon in mehreren Verwaltungsbezirken unsauber gefahren sind. Erreicht wurde diese Effizienz durch die Verknüpfung mit der automatischen Nummernschilderkennung (siehe RHZ 4/08). Doch auch an den Landesgrenzen und in Migrationszusammenhängen sowie bei Gefangenenüberstellungen könnten die kleinen Geräte zum Einsatz kommen, erklärte Geoff Whitaker, ein hochrangiger Techniker der NPIA.

Hunderte der Maschinen könnten bereits Ende 2009 eingesetzt werden, so die NPIA. In England und Wales wurden Ende des vergangenen Jahres bereits mehrere hundert der kleinen schwarzen Apparate getestet. Der Feldversuch soll so lange weitergeführt werden, bis die mobilen Scanner landesweit zum Einsatz kommen, erklärte die NPIA. Denn die testweise mit den Geräten ausgestatteten Polizisten hätten viele Personen identifizieren können, die sie sonst nicht feststellen hätten können. Doch auch solange das Projekt noch nicht abgeschlossen ist, werden immer mehr Fingerabdruck-Scanner an Einheiten im ganzen Land ausgeliefert. Der von der Polizei behauptete Praxiserfolg gilt also als ausreichender Grund, um vor einem offiziellen Ergebnis Fakten zu schaffen. Letztendlich soll jede Polizeistreife in Großbritannien mit den Scannern ausgestattet werden. In der Phase der Erstanschaffung der dafür benötigten zehntausenden Geräte soll das Projekt MIDAS 30 bis 40 Millionen Pfund Sterling kosten.

Bereits im Einsatz sind solche Geräte in einigen US-amerikanischen Polizeibehörden. Hier wird inzwischen an einer Verbesserung der Apparate gedacht, so dass auch Gesichtserkennungen durchgeführt werden können. Auch im australischen Bundesstaat New South Wales hat die Polizei im Juni einen Pilotversuch mit mobilen Fingerabdruck-Scannern gestartet. Die eingesetzten Endgeräte sind über eine Next-G-Mobilfunkverbindung mit dem Zentralserver der Behörde verbunden. Darüber hinaus können auf dem Gerät selbst bis zu 180.000 biometrische Datensätze gespeichert werden. Die Abnahme der Fingerabdrücke gehört in New South Wales zur Standardprozedur, wenn ein Autofahrer für ein Verkehrsvergehen mit einer Anzeige bestraft wird. Sollte der Feldtest mit vorerst zehn Geräten erfolgreich verlaufen, will die Behörde ihre Mitarbeiter ebenfalls bereits 2009 flächendeckend mit den Handscannern, die vom französischen Unternehmen Sagem produziert werden, ausstatten.

http://www.npia.police.uk/en/10046.htm

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INTERNATIONALES

"Unwahr und sektiererisch"

Leserbrief von Florian Osuch, Berlin, zum Artikel "Irisch-Republikanische Gefangene und der politische Status" in RHZ 4/2008

Der Beitrag von "Republican Sinn Féin Wien" in der Ausgabe 4/2008 der RHZ zum Themenkomplex "politische Gefangene der irisch-republikanischen Bewegung" strotzt vor Unwahrheiten und Fehlinterpretationen der Situation im Norden Irlands sowie Verleumdungen gegenüber linken AktivistInnen von irisch-republikanischen Basisinitiativen sowie Aktiven aus der irischen Linkspartei Sinn Féin.

Es ist peinlich, dass dieser Artikel in der RHZ abgedruckt wurde und die linken Kräfte in Irland so unkommentiert diffamiert werden.

Gerade die Fehlinterpretation der AutorInnen über das "Karfreitagsabkommen", welches 1998 die Grundlage für den Friedensprozess lieferte, sind fatal und verdeutlichen den sektiererischen Charakter des Beitrages. Nach einem Waffenstillstand der Guerilla IRA verhandelte ihr politischer Arm Sinn Féin unter Führung von Gerry Adams und Martin McGuinness mit Vertretern politischer Kräfte aus Irland und Großbritannien.

Ergebnis war das "Karfreitagsabkommen", welches in zwei Referenden im Mai 1998 von 90 Prozent der Bewohner der Republik Irlands und 71 Prozent der Bewohner Nordirlands mit überdeutlicher Mehrheit angenommen wurde.

Im "Good Friday Agreement" (Karfreitagsabkommen) unterzeichneten erstmalig Parteien aller Lager sowie die irische und britische Regierung, dass sie den Konflikt überwinden und gemeinsam Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit in Nordirland verwirklichen wollen.

Neben vielen kleinen Punkten hatte der Friedensprozesses folgende Inhalte, die inzwischen umgesetzt wurden:

Selbstentwaffnung der IRA (dieses Zugeständnis war tatsächlich höchst umstritten innerhalb der irisch-republikanischen Bewegung)
Demilitarisierung und Rückzug der britischen Besatzungstruppen aus Nordirland
Auflösung der britisch-paramilitärischen Polizeitruppe RUC (an ihre Stelle tritt eine "normale" Polizei)
Freie Wahlen und eine Allparteien-Regierung
Freilassung der politischen Gefangenen, die sich dem Friedensabkommen verpflichten

Die IRA sowie ihr politischer Arm Sinn Féin haben sich immer als "Peoples Army" - als Armee des Volkes - begriffen, was durch die überwältigende Zustimmung zum "Karfreitagsabkommen" ein weiteres Mal bestätigt wurde.

Als Folge des Friedensabkommens wurde der Norden Irlands umfassend demilitarisiert. Hunderte Armeegebäude, Überwachungstürme in ländlichen Regionen, Grenzposten sowie komplette Kasernen der britischen Armee wurden geschlossen und abgerissen. Aus einem Kriegsgebiet wurde binnen weniger Jahre einezivile Region, in der linke AktivistInnen ungestört von Besatzungstruppen und Militärkontrolle für ihre Sache streiten können.

Wenn jetzt ein/eine Autorin in der RHZ schreibt, an der Situation in Irland hätte sich "nichts geändert", dem ist die grausame Unterdrückung, den die irische Bevölkerungsminderheit im Norden Irlands über Jahrhunderte und zuletzt in fast 30 Jahren Bürgerkrieg mit der britischen Armee erleiden musste, nicht bewusst.

Im Zuge des "Karfreitagsabkommen" wurden zudem hunderte Gefangene, darunter Männer und Frauen mit zum Teil lebenslänglichen Haftstrafen (!), in die Freiheit entlassen. Das Symbol des brutalen britischen Knast-Systems, die berüchtigten H-Blocks bzw. Long Kesh wurden geschlossen und demontiert. In Long Kesh starb 1981 unter anderem Bobby Sands als IRA-Kommandeur bei einem Hungerstreik.

Tatsächlich sitzen noch immer Gefangene aus bewaffneten Gruppen in Gefängnissen, darunter sogar Mitglieder der IRA. Letztere wurden erst nach (!) dem Friedensabkommen inhaftiert und kamen nicht in den Genuss der oben genannten Amnestie. Gefangene aus Splittergruppen wie der "Continuity IRA" und der "Real IRA" lehnten trotz der eindeutigen Abstimmung zum "Karfreitagsabkommen" eine Selbstentwaffnung ab und wurde demnach auch nicht freigelassen. Der politische Rückhalt dieser Gruppen innerhalb der Bevölkerung tendiert dementsprechend auch gegen Null. Sie verfügen über keinen einzigen (!) Vertreter in politischen Gremien in Nordirland oder der Republik Irland - nicht mal in den Hochburgen von Belfast oder Derry.

Gänzlich verschwiegen wurde in dem Beitrag von "Republican Sinn Féin Wien" in der RHZ die Tatsache, dass die "Real IRA" für den Bombenanschlag in Omagh mit 29 getöteten Zivilisten im August 1998 verantwortlich ist. Im 30-jährigen Bürgerkrieg zwischen der IRA und der britischen Armee war dies der Anschlag mit den meisten Todesopfern. Die 29 Getöteten waren ausschließlich (!) Zivilisten, darunter ArbeiterInnen, Kinder, RentnerInnen und Touristen.

Durch den brutalen Anschlag von Omagh verloren die Splittergruppen die wenige Unterstützung vollständig. Die Weigerung, das Votum der überwältigen Mehrheit der Bevölkerung für das "Karfreitagsabkommen" anzuerkennen, sowie die völlige Abstinenz in politischen Gremien zeigt, dass die irischen Splittergruppen keine "Peoples Army" waren und in absehbarer Zeit auch nicht sein werden.

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REZENSION

Deutsche Karrieren - die Kontinuität der Verfolgung von Linken

Peter Nowak

Wer schon immer geahnt hat, dass der Verfolgungsapparat gegen Linke in Deutschland viele Regime überdauerte, kann sich jetzt auf Quellen stützen. Der Historiker Siegfried Grundmann wollte mit seinem Buch "Der Geheimapparat der KPD im Visier der Gestapo" vor allem erforschen, warum innerhalb kürzester Zeit einer der eigentlich bestgeschützten Teile der KPD von der Gestapo ausgehoben werden konnte. Der Geheimapparat sollte die KP vor Agenten schützen und sammelte Dokumente und Informationen über Rüstungsprogramme und andere Maßnahmen, die sich potentiell gegen die Sowjetunion richten konnten. Dafür nutzte man Kontakte mit Menschen, die gerade nicht als Kommunisten bekannt waren. KP-Mitglieder im Geheimapparat mussten sogar ihr Parteibuch abgeben, um möglichst unauffällig zu sein.

Grundmann sieht für die Zerschlagung dieser Struktur durch die Gestapo vielfältige Gründe. Nicht zuletzt sind seiner Meinung nach eine falsche Politik der KPD und eine Verletzung der Regeln der Konspiration dafür verantwortlich. Es ist natürlich zu begrüßen, dass der Autor die Genossinnen und Genossen im Widerstand nicht als Heilige ohne Fehl und Tadel, sondern als Menschen, die auch schwerwiegende Fehler machen, darstellt. Damit stehen sie wieder auf gleicher Augenhöhe mit den heutigen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, was eine Voraussetzung ist, um von ihnen zu lernen.

Zumal Grundmann gerade im Nachwort noch einmal deutlich macht, dass er den Widerstand, einschließlich der Tätigkeiten, die gern als Spionage ausgegrenzt werden, für absolut legitim hält. "Es gab in Deutschland, und zwar nicht erst fünf Minuten vor dem Ende sondern schon in der Blütezeit des Dritten Reiches, nicht zu viele sondern zu wenig Hochverräter. Das Deutsche Reich schwächen und die Gegner stärken war (...) eine gute Tat." Wichtig ist auch, dass Grundmann den Blick auf die Verfolger lenkt und ihre Biographie genau untersucht. Die Beamten des Kommunismus-Dezernats hatten zum großen Teil die Verfolgung von Linken schon in der Weimarer Zeit begonnen. Mehrere von ihnen haben in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in den Freikorps gegen Linke gekämpft. Das waren extralegale Truppen, die gegen die Arbeiteraufstände der Jahre 1918/19 ebenso brutal vorgingen wie gegen die Bayerische und Bremer Räterepublik. Dort übten die Freikorps schon jenen Terror gegen tatsächliche oder vermeintliche Aufständische aus, der dann nach 1933 zum Alltag der Bekämpfung gegen Linke gehörte.

Nachdem die bürgerliche Ordnung wieder hergestellt wurde, arbeitete ein großer Teil dieser Männer auch in der Weimarer Zeit ganz legal bei der Verfolgung von Linken als Teil der politischen Polizei. Die wenigsten waren damals Mitglieder oder offene Sympathisanten der NSDAP. Aber alle wurden sie nach 1933 übernommen und hatten sich dort schnell bewährt. "Das wichtigste gemeinsame politische Merkmal der Beamten aus dem Kommunismus-Referat scheint nur zu sein, dass sie von Anfang an bis zum Schluss erbitterte Gegner der Linken bzw. der Kommunisten gewesen sind", schreibt Grundmann.

Wo es ihnen möglich war, setzten sie ihre Karriere auch nach 1945 fort. Nur wenige wurden angeklagt, wie der Kriminalsekretär Walter Habecker, der 1949 im Untersuchungsgefängnis Paderborn Selbstmord verübte. Und sie fanden Fürsprecher, die ihre jahrelange Tätigkeit gegen Linke würdigten. So schrieb der Verteidiger von Wilhelm Berg, einem der berüchtigsten Linkenjäger, der auch selber bei der Folter mit Hand angelegt hat: "Nicht als Vergehen, sondern als Verdienst des Angeklagten wird bewertet, das dieser seit 1921 bis 1945 immer in der Bekämpfung der kommunistisch-bolschewistischen Spionageorganisationen tätig gewesen ist." Er hätte den Zeitraum seiner Aktivitäten sogar noch ausweiten können. Berg sagte aus, dass er von britischen Dienststellen nach dem Krieg in vier deutschen Großstädten eingesetzt wurde, um kommunistische Spionageorganisationen aufzuspüren.

Er war nicht der Einzige, dessen Dienste auch nach 1945 gefragt waren. Auch Adolf Sauter, der als V-Mann zahlreiche Kommunisten der Gestapo auslieferte, heuerte wie sein Freund und Kumpan Rudolf Schüllenbach nach 1945 bei der Organisation Gehlen und der CIA an.

Das Buch liefert hier gute Detailstudien über ein bisher vernachlässigtes Kapitel des Widerstands gegen das NS-System in Deutschland. Nur zwei Kritikpunkte seien genannt. Der Herausgeber beschränkt sich leider nicht, seine Position zum Widerstand und zum Kommunismus am Beginn und am Ende des Buches darzulegen. Oft genug hat er in den Text eigene Bemerkungen eingeschmuggelt. Doch hier sind sie überflüssig und auch störend. Auch bei den Dokumenten scheint Grundmann gelegentlich nach dem Prinzip "Doppelt hält besser" vorgegangen zu sein. So kann man mehrmals den Ausschnitt eines Dokuments in der Fußnote und den gleichen Text dann noch einmal im Text lesen. Bei einer Neuauflage könnte man hier noch einmal korrigieren.

Grundmann Siegfried
Der Geheimapparat der KPD im Visier der Gestapo -
Das BB-Ressort, Funktionäre, Beamte, Spitzel & Spione

496 S., 52 Abb., Hardcover, 29,90 Euro
ISBN 978-3-320-02113-9 Dietz Verlag


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Paolo Neri kommt in die BRD

Wolfgang, Gefangenen Info

Im Gefangenen Info sind schon mehrere Photos von Mosaiken aus Marmor von sieben Gefangenen aus der RAF, die den Knast nicht überlebt haben, veröffentlicht: Von Holger Meins, Siegfried Hausner, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, Andreas Baader, Christiane Ensslin und Ingrid Schubert. Eins von Sigurd Debus ist noch in Arbeit. Sigurd selbst war nicht Mitglied der RAF, aber er gehörte einer anderen bewaffneten Gruppe an.

Paolo wird in März mit seinen Werken hierher kommen:

In Hamburg vom Sonntag, den 15. März bis Mittwoch, den 18. März: Centro Sociale, Sternstraße 2, Backsteingebäude Ecke Neuer Kamp, U-Bahn Feldstraße, 20357 Hamburg
In Bremen vom Donnerstag, den 19. März bis Sonntag, den 22. März: Galerie Cornelius Hertz, Richard Wagner Straße 22, 28209 Bremen

Paolo schreibt zu seinem Projekt: "DAS FEUER ERLISCHT NICHT - Präsentation einer Ausstellung

Der Titel stammt aus einem Gedicht, das Pablo Neruda anlässlich des Todes der Genossin Tina Modotti geschrieben hat. Ich habe mich entschieden, diesen Satz zu übernehmen für das Werk das ich am fertigstellen bin. Es besteht aus acht Mosaiken aus Marmor, wovon sieben bereits beendet sind, das achte zu Sigurd Debus ist in Bearbeitung. Die Portraits repräsentieren militante, deutsche Angehörige der RAF und des Widerstandes, welche in den Gefängnissen der Bundesrepublik Deutschland gestorben sind.

Ich habe die Absicht, diese Ausstellung in Europa zu zeigen, vor allem aber in Deutschland. Ich denke, dass ich nicht erklären muss, dass dieses Werk nicht verkäuflich ist. Walter Benjamin bemerkt in seinem Werk 'Der Autor als Produzent', dass ein Kunstwerk zusammen mit der richtigen politischen Tendenz auch jede andere künstlerische Qualität beinhalten soll. Dem Künstler, der für das Proletariat eintritt, stellt sich die Frage nach dem richtigen politischen Inhalt als auch die Frage der künstlerischen Qualität. Die Tendenz eines Werkes kann im politischen Sinne nur richtig sein, wenn es auch richtig ist aus dem künstlerischen Blickwinkel.

Es wäre wünschenswert, wenn die Ausstellungsräume dem Betrachter eine Distanz von mindestens fünf Metern zum Bild ermöglichen könnten. Die Masse der Mosaike variiert ungefähr zwischen fünfzig und hundert Kilo."

Bilder im Internet:
→  http://www.bibliotecamarxista.org/manifesti.htm unter mosaici artistici

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http://www.rotehilfegreifswald.blogsport.de

Hagen-Lüdenscheid
c/o Quadrux Buchladen
Lange Straße 21
58089 Hagen
hagen-Luedenscheid@rote-hilfe.de

Halle
c/o Infoladen
Ludwigstraße 37
06110 Halle
Telefon 0345/170 12 42
Fax 0345/170 12 41
halle@rote-hilfe.de
http://halle.rote-hilfe.de
Sprechzetten: jeden Di 18:00-19:00 Uhr

Hamburg
Postfach 30 63 02
20329 Hamburg
hamburg@rote-hilfe.de
www.rote-hilfe.de/hamburg

Hameln
c/o VVN BdA
Postfach 101230
31762 Hameln
hameln@rote-hilfe.de

Hannover
c/o UJZ Kornstraße
Kornstraße 28
30167 Hannover
hannover@rote-hilfe.de
www.rote-hilfe.de/hannover

Heidelberg
Postfach 10 31 62
69021 Heidelberg
Fax 06221/16 37 67
heidelberg@rote-hilfe.de
www.rote-hilfe.de/heidelberg

Heilbronn
c/o Infoladen
Postfach 2204
74012 Heilbronn
heilbronn@rote-hilfe.de

Jena
c/o Infoladen Jena
Schillergäßchen 5
07745 Jena
jena@rote-hilfe.de
http://jena.antifa.net/rh

Kiel
Postfach 6444
24125 Kiel
Telefon & Fax 0431/751 41
kiel@rote-hilfe.de

Königs Wusterhausen
c/o Shia e.V.
Bahnhofstraße 4
15711 Königs Wusterhausen
Telefon: 0177/742 09 20
kw@rote-hilfe.de
http://rotehilfekw.blogsport.de

Leipzig
c/o linXXnet
Bornaische Str. 3d
04277 Leipzig
leipzig@rote-hilfe.de
http://www.leipzig.rote-hilfe.de
Sprechzeiten: jeden 1. Do 19-20 Uhr

Leverkusen
c/o Kulturausbesserungswerk
Kolbergerstraße 95 A
51381 Leverkusen
leverkusen@rote-hilfe.de

Magdeburg
c/o Soziales Zentrum Magdeburg
Alexander-Puschkin-Straße 20,
39108 Magdeburg
magdeburg@rote-hilfe.de

Mainz/Wiesbaden
c/o Infoladen Linker Projekte
Werderstr. 8
65195 Wiesbaden
mainz-wiesbaden@rote-hilfe.de

Mönchengladbach-Düsseldorf
c/o Katrin Wasilewski
Herzogstraße 68
41238 Mönchengladbach
moenchengladbach-duesseldorf@rote-hilfe.de

München
Schwanthalerstraße 139
80339 München
Telefon 089/448 96 38
mi. 18-19 Uhr
muenchen@rote-hilfe.de
www.rote-hilfe.de/muenchen

Nürnberg, Fürth, Erlangen
c/o Buchhandlung Libresso
Bauerngasse 14
90443 Nürnberg
Telefon 0911/22 50 36
Fax 0911/272 60 27
nuernberg@rote-hilfe.de

Oberhausen
c/o projekt: archiv!
Autonomes Zentrum Mühlheim
Auerstr. 51
45468 Mühlheim an der Ruhr
oberhausen@rote-hilfe.de

Osnabrück
Postfach 3604
49026 Osnabrück
osnabrueck@rote-hilfe.de
http://www.rotehilfeosnabrueck.blogsport.de

Potsdam
c/o Madia
Lindenstraße 47
14462 Potsdam
potsdam@rote-hilfe.de

Rostock
Nikotstraße 5/6
18057 Rostock
rostock@rote-hilfe.

Saarland
c/o Verein für kommunikatives Wohnen und Leben
Postfach 103207
66032 Saarbrücken
saarland@rote-hilfe.de

Strausberg
c/o Horte
Peter-Göring-Straße 25
15344 Strausberg
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Stuttgart
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Tübingen
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Wuppertal
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KONTAKTADRESSEN DER ROTEN HILFE E.V.

Karlsruhe
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Rendsburg
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Straubing
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Ahornweg 1
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Telefon & Fax 09420/458


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IMPRESSUM

Die Rote Hilfe erscheint quartalsweise.
Für die Ausgabe 2/2008 gilt:
Erscheinungstermin: Mai 2009
Redaktionsschluß: 10. April 2009

V.i.S.d.P. M. Krause, Postfach 32 55, 37022 Göttingen.

Für die AZADI-Seiten V.i.S.d.P. Monika Morres
(Anschrift siehe AZADI-Seiten)

Namentlich gezeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder.
Die VerfasserInnen der namentlich nicht gezeichneten Artikel sind der Redaktion bekannt.

Die Rote Hilfe im Internet: www.rote-hilfe.de

Auflage 5000 Exemplare; Eigendruck auf chlorfrei gebleichtem Papier im Selbstverlag.

Preise Einzelexemplar 2 Euro, Abonnement: 8 Euro im Jahr. Für Mitglieder der Roten Hilfe e.V. ist der Bezug der Zeitung im Mitgliedsbeitrag inbegriffen. Gefangene erhalten die Zeitung kostenlos. Eine Teilauflage enthält einen Mitgliederrundbrief.

Bildnachweise Archiv Rote Hilfe

Alle Zuschriften und Anfragen bitte schicken an:
Rote Hilfe Redaktion, Postfach 32 55, 37022 Göttingen,
Telefon 0174/477 96 10, Fax 0551/770 80 09,
redaktion@rote-hilfe.de.
Diese Adresse bitte nicht für Mailinglisten verwenden!

Artikel, Leserbriefe u.ä. wenn möglich als Mail und auf 3,5"-Disketten mit einem Ausdruck schicken, vor dem Schreiben längerer Sachen die Redaktion kontaktieren.

Austauschanzeigen: Austauschanzeigen linker Zeitschriften drucken wir nach Möglichkeit ab. Anzeigen in den Datei-Formaten
jpeg, tif (jew. mind. 300dpi, Graustufen), bitmap (mind. 600dpi, sw), pdf (nach PDF/X-3 bzw. PDF/X-1a-Standard) oder Vektor-EPS an: austauschanzeigen@rote-hilfe.de

Mitgliedsbeiträge und Spenden bitte nur auf folgendes Konto überweisen:
Rote Hilfe e.V., Postbank Dortmund BLZ 440 100 46, Konto 19 11 00-462

Eigentumsvorbehalt
Nach diesem Eigentumsvorbehalt ist diese Zeitung solange Eigentum des Absenders, bis sie der/dem Gefangenen persönlich ausgehändigt worden ist. "Zur-Habe-Nahme" ist keine persönliche Aushändigung im Sinne dieses Vorbehalts. Wird die Zeitung der/dem Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, so ist sie dem Absender unter Angabe des Grundes der Nichtaushändigung zurückzusenden. Wird die Zeitung der/dem Gefangenen nur teilweise persönlich ausgehändigt, so sind die nicht persönlich ausgehändigten Teile, und nur sie, dem Absender unter Angabe des Grundes der Nichtaushändigung zurückzusenden.


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WER IST DIE ROTE HILFE?

Die Rote Hilfe ist eine parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutz- und Solidaritätsorganisation.

Die Rote Hilfe organisiert nach ihren Möglichkeiten die Solidarität für alle, unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Weltanschauung, die in der Bundesrepublik Deutschland auf Grund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden. Politische Betätigung in diesem Sinne ist z.B. das Eintreten für die Ziele der Arbeiterinnenbewegung, der antifaschistische, antisexistische, antirassistische, demokratische oder gewerkschaftliche Kampf und der Kampf gegen die Kriegsgefahr.

Unsere Unterstützung gilt denjenigen, die deswegen ihren Arbeitsplatz verlieren, Berufsverbot erhalten, vor Gericht gestellt und zu Geld- und Gefängnisstrafen verurteilt werden oder sonstige Nachteile erleiden. Darüber hinaus gilt die Solidarität der Roten Hilfe den von der Reaktion politisch Verfolgten in allen Ländern der Erde.

Aus der Satzung


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LITERATURVERTRIEB

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Quelle:
Die Rote Hilfe 1.2009 - 35. Jahrgang
Redaktion:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2009