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GEGENWIND/416: "Vision Zero" umsetzen


Gegenwind Nr. 260 - Mai 2010
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

VERKEHR
Sicherheitspotenziale im Straßenverkehr bleiben ungenutzt
"Vision Zero" umsetzen
Auch bei den Länderbehörden besteht erheblicher Handlungsbedarf

Von Klaus Peters


Der Rückgang von Unfallzahlen muss paradoxerweise als Grund betrachtet werden, der konsequentes Handeln, das Ausschöpfen vorhandener Sicherheitspotenziale bisher tendenziell verhindert hat. Das "3. Aktionsprogramm für Verkehrssicherheit der EU" (2003) und das deutsche "Programm für mehr Sicherheit im Straßenverkehr" aus dem Jahr 2001 waren, weil ohne Verbindlichkeit - das deutsche Programm auch noch ohne zahlenmäßige Ziele und Zeithorizonte -, unzureichend. Der Rückgang der Unfallzahlen dürfte vor allem auf den allgemeinen technischen Fortschritt, also auf die Erneuerung des Fahrzeugbestandes, zurückzuführen sein. Sowohl die neue EU-Kommission, federführend die Generaldirektion Transport, als auch die Bundesregierung wollen neue Programme vorlegen.


Unfallstatistiken nicht als Erfolgsbilanzen präsentieren

Für das Jahr 2009 meldete das Statistische Bundesamt 4.160 im Straßenverkehr Getötete (-7,1% gegenüber 2008) und 397.000 Verletzte (-2,7%)[1]. Auf eine Million Einwohner bezogen waren es 51 Getötete. Der Rückgang der Unfallzahlen war allerdings niedriger als zwischen 2008 und 2007 (-9,5 % und -4,9 %). In den Bundesländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern betrug die Zahl der Getöteten pro eine Million Einwohner 80 bzw. 94. In Mecklenburg-Vorpommern stieg die Zahl der Getöteten sogar um fast 19%, in Bremen und dem Saarland auch geringfügig.

Die volkswirtschaftlichen Kosten der Straßenverkehrsunfälle betragen nach Angaben der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) jährlich rund 30 Milliarden Euro. Straßenverkehrssicherheit ist nicht nur bezogen auf Wegunfälle auch eine besondere Aufgabe von öffentlichen Einrichtungen und privaten Unternehmen.


Bisherige Reaktionen - der Weg zu "Vision Zero"

Für die Medien und breite Öffentlichkeit, aber auch für viele verantwortliche Akteure, sind die Meldungen über Unfallzahlen zur Routine geworden. Das zuständige Verkehrsministerium, der größte Automobilverband, der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) mit 16 Millionen Mitgliedern und der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) mit 220 Mitgliedsorganisationen, hatten bis vor wenigen Jahren auf unverbindliche Konzepte, gelegentliche Kampagnen zu Einzelaspekten gesetzt. Lediglich der Verkehrsclub Deutschland (VCD) hatte frühzeitig ein umfassendes, verbindliches Programm, nämlich "Vision Zero" nach dem in Schweden in den neunziger Jahren entwickelten Leitbild gefordert.

2004 legte der VCD einen Masterplan als Handlungskonzept vor. Seit 2007 setzt sich auch der DVR für die Umsetzung von "Vision Zero" ein. Mit einer größeren Zahl von Vorstandsbeschlüssen hat der DVR in den letzten Jahren Maßnahmen gefordert, die der Zielsetzung von "Vision Zero" entsprechen. Im Mai 2009 hatte sich schließlich auch der damalige Bundesverkehrsminister nach einem Spitzengespräch mit Vertretern des DVR und anderen Verbänden zur Notwendigkeit von "Vision Zero" bekannt. Ein neues nationales Verkehrssicherheitsprogramm ist in Vorbereitung. "Vision Zero" muss integraler Bestandteil dieses Programms sein und rasch umgesetzt werden. Einzelne Maßnahmen in der Verantwortung des Bundes oder der Länder lassen sich vorziehen.

Die EU wird demnächst das 4. Aktionsprogramm Straßenverkehrssicherheit für den Zeitraum 2010 bis 2020 vorlegen, das wegen des Kommissionswechsels nicht mehr wie geplant bis Ende 2009 fertiggestellt worden ist. Das deutsche Programm soll 2011 vorliegen und hoffentlich weitgehende, konkrete Ziele und Maßnahmen enthalten. In der Vorbereitungsphase des neuen EU-Programms hatte der European Transport Council (ETSC - Europäischer Verkehrssicherheitsrat) ein Positionspapier vorgelegt, mit dem die EU aufgefordert wird, stärkeres Engagement für Straßenverkehrssicherheit und Führung auf Rats-, Parlaments- und Kommissionsebene aufzubauen. Neben Verbesserungen auf institutioneller Ebene werden zahlreiche konkrete Maßnahmen zum Verhalten, zur Verbesserung der Infrastruktur und zur Fahrzeugtechnologie vorgeschlagen.

Ausgehend von den vorhandenen Sicherheitspotenzialen sind, gestützt auf die Vorschläge des ETSC, Maßnahmen in den folgenden 5 Bereichen vorrangig notwendig: (A) Verbesserung der Fahrzeugtechnik/Ausrüstung, (B) Verbesserung der Infrastruktur, (C) Verbesserung des Verhaltens/der Ausbildung, (D) Optimierung des Rettungswesens und (E) Verlagerung der Verkehrsmittelwahl.

(A) Verbesserung von Fahrzeugtechnik/Ausrüstung

Die verbindliche Einführung des Tagfahrlichts (TFL) ist sofort umsetzbar, seit 2005 gibt es eine Empfehlung des damaligen Verkehrsministers Stolpe zur Nutzung des TFL. Die EU schreibt TFL für Neufahrzeuge ab 2011/2012 vor. Für die Mitgliedstaaten der EU wird bei konsequenter Anwendung von TFL ein Rückgang der Zahl der Getöteten von durchschnittlich etwa 15% angenommen.

Alle Neuwagen werden inzwischen mit Airbags ausgestattet. Die Anzahl, Anordnung und Wirksamkeit sollte verbindlich festgelegt werden.

Seit 2004 besteht eine Selbstverpflichtung der europäischen Automobilindustrie, neue PKW mit Antiblockierschutz (ABS) auszurüsten. Für Busse und schwere LKW gibt es bereits eine Ausrüstungspflicht mit ABS. Die Verfügbarkeit von Fahrzeugen, die mit dem Elektronischen Stabilitätsprogramm (ESP) ausgestattet sind, ist ständig gestiegen. Ab November 2011 müssen alle Neuwagen der EU mit ESP ausgerüstet sein. Für Motorräder sollte die Ausrüstung mit ABS vorgeschrieben werden.

Die Crash-Kompatibilität ist wesentlich zu verbessern. Alle Fahrzeuge müssten gemäß den Vorgaben des EuroNCAP-Crashtestsystems Schritt für Schritt die höchsten Anforderungen erfüllen. (PKW erfüllen durchweg bereits erhöhte Anforderungen: 4 oder 5 Sterne). Ist ein Fahrzeug nur halb so schwer wie das des Unfallgegners, erhöht sich Risiko von Insassen des leichteren Fahrzeugs getötet zu werden nach Expertenangaben um den Faktor 12. Bei LKWs muss vorrangig der Heckunterfahrschutz verbessert werden.

Das Mitführen von Feuerlöschern ist in einigen EU-Mitgliedstaaten bereits Pflicht und kurzfristig umsetzbar. Die Ausstattung mit Feuerlöschern und entsprechenden Halterungen sollte für alle Fahrzeuge vorgeschrieben werden. Busse und LKW sind mit automatischen Löschanlagen auszustatten.

(B) Verbesserung der Infrastruktur

Die Straßeninfrastruktur ist systematisch auf Sicherheitsdefizite zu überprüfen. Dazu sind die "Empfehlungen zum Schutz vor Unfällen mit Aufprall auf Bäume (ESAB)" aus dem Jahr 2006 endlich konsequent und rasch umzusetzen (prinzipiell keine Neuanpflanzungen, Entfernung gefährlich nah am Straßenrand stehender Bäume und Sicherung von erhaltenswerten Alleen). Unfälle mit einem Aufprall auf Bäume haben schwerwiegendste Folgen, 20 bis 25% der Getöteten waren bisher Jahr für Jahr dieser Unfallart zuzurechnen. Die meisten dieser Unfälle passieren auf Landstraßen. Spätestens ab 2010 sind Sicherheitsüberprüfungen von Transitstraßen gemäß der neuen "EU-Richtlinie 2008/96 über das Sicherheitsmanagement für die Straßeninfrastruktur" durchzuführen. Diese EU-Richtline sieht zudem vor, Straßenplanungen ebenfalls einem Sicherheitscheck zu unterziehen. Erhöhte Anforderungen an systematische Überprüfungs- und Vorsorgemaßnahmen für Straßen sind in Deutschland bereits 2002 und 2003 durch das Bundesverkehrsministerium prinzipiell für alle Straßen eingeführt worden, die Länder haben diese Maßnahmen bisher aber völlig unzureichend umgesetzt.

(C) Verbesserung des Verhaltens und der Ausbildung

Die Fahrschulausbildung sollte wie in Österreich zweistufig erfolgen und ein Gefahrentraining einschließen. Das Gefahrentraining dient der Optimierung des Verhaltens in Gefahrensituationen, die auch in üblichen Geschwindigkeitsbereichen auftreten können.

Auch mit obligatorischem Gefahrentraining können nicht die für das Fahren im Hochgeschwindigkeitsbereich notwendigen Anforderungen an Fahrzeugführer vermittelt werden. In allen europäischen Staaten und nahezu weltweit gelten generelle Tempolimits. Auf Landstraßen sind überwiegend nur 80 bis 90 km/h für PKW und Motorräder zugelassen, auf Autobahnen 100 bis 120 km/h. Bei einer höheren zulässigen Geschwindigkeit auf Autobahnen sollte für Kleinlaster nur eine reduzierte Geschwindigkeit zugelassen werden. Reduzierte Tempolimits tragen auch zur Minderung der Umwelt- und Gesundheitsbelastungen bei. Zudem sind Ressourcen- und Kosteneinsparungen zu erwarten.

In einer größeren Zahl der Mitgliedstaaten der EU ist das Mitführen von Warnwesten bereits auch für PKW vorgeschrieben. Die Warnwesten müssen außerorts beim Verlassen des Fahrzeugs getragen werden. Diese Maßnahme lässt sich kurzfristig umsetzen.

Das Tragen von Helmen sollte zumindest für junge Fahrradfahrer obligatorisch sein.

(D) Optimierung des Rettungswesens

Im Rettungswesen ist eine Angleichung auf höchstem Niveau auf EU-Ebene erforderlich. Die Eintreffzeiten von Rettungskräften müssen auch auf nationaler Ebene angeglichen werden (Verkürzung in ländlichen Regionen).

(E) Verlagerung der Verkehrsmittelwahl

Schließlich kann die Straßenverkehrssicherheit durch einen Wechsel der Verkehrsmittel erhöht werden. Busse sind um den Faktor 20, Bahnen um den Faktor 40 sicherer als der motorisierte individuelle Verkehr. Erforderlich ist eine Erhöhung der Attraktivität alternativer Verkehrsmittel. Bisher hatten der Straßenbau und die Beschleunigung des Straßenverkehrs immer Vorrang vor dem Ausbau und der Verbesserung der Bahninfrastruktur.


Gründe für das Ignorieren von Sicherheitspotentialen

Die Gründe für den nicht vorhandenen politischen Willen für konsequente Straßenverkehrssicherheitspolitik und das Ignorieren von Sicherheitspotenzialen sind als systembedingt zu charakterisieren. Für die Automobilhersteller und deren Anteilseigner sind möglichst hohe Verkaufszahlen und damit maximaler Profit entscheidend. Die Mitarbeiter und Betriebsräte haben praktisch keinen Einfluss auf die Geschäftspolitik. Die Vollzugsbehörden sind bürokratisch strukturiert und von der Politik abhängig, Einfluss von außen kann unterstellt werden, die politischen Entscheidungsträger sind wiederum stark von den Banken, Konzernen oder Verbänden mit Macht- und Profitinteressen beeinflusst oder sogar abhängig. Die Konsumenten sind nicht angemessen informiert und sind in egoistischem bzw. kleinbürgerlichem Denken verfangen. Das Fahrzeug muss attraktiv und möglichst hoch motorisiert, muss prestigeträchtig sein. Hochgeschwindigkeitsfahrten sollen Prestigebedürfnisse befriedigen oder Frustrationen abbauen. Eine große Zahl der Verkehrsteilnehmer kann sich finanziell nur kleine oder ältere Autos leisten. Die Fähigkeit zum dialektischen Denken ist nicht vorhanden oder unterentwickelt. Es wird überwiegend eindimensional gedacht, Zusammenhänge werden nicht erkannt oder verdrängt. Subjektive Wertungen dominieren.

Anmerkung [1]:
Die Anzahl der Schwerverletzten ist noch nicht bekannt gegeben worden, sie lag in der BRD in den letzten Jahren bei 20% der Zahl der insgesamt Verletzten. Etwa 10% der Unfälle sind Wegunfälle.


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WAS "VISION ZERO" BEDEUTET:

"Das Straßensystem ist nicht an die Tatsache angepasst, dass Menschen manchmal Fehler machen. Den perfekten Menschen gibt es nicht. Im Straßenverkehr geschieht es viel zu oft, dass einfache Fehler mit dem Tode bestraft werden.

Der Einzelne ist für die Einhaltung der Gesetze und Bestimmungen verantwortlich, während die Systemgestalter dafür zu sorgen haben, dass das gesamte System sicher ist. Neben Straßengestaltern, Fahrzeugherstellern und Transportunternehmen gehören beispielsweise auch Politiker, Beamte gesetzgebender Behörden und die Polizei zu den Systemgestaltern."

(Vägverket, Die Nullvision, Schwedisches Zentralamt für Straßenwesen, 1995)


"Ziel von 'Vision Zero' ist es, die Mobilität lebenswert zu sichern und unfallfrei zu gestalten und dadurch das Sicherheitsbedürfnis der Menschen zu befriedigen. Dies entspricht Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UNO 1948): 'Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.' Der Denkansatz von 'Vision Zero' ist in anderen Lebensbereichen, z.B. im Arbeitsschutz, selbstverständlich und erfolgreich." (DVR, 2007)


Bei Straßenverkehrsunfällen 2009 Verunglückte und Getötete

Land


Mecklenburg -Vorpommern

Schleswig -Holstein

Deutschland


Verunglückte insgesamt
Veränderung gegenüber 2008 in %
Getötete insgesamt
Veränderung gegenüber 2008
Veränderung gegenüber 2008 in %
Getötete je eine Million Einwohner

7.977
-4,3
157
+25
+18,9
94

15.508
-2,2
139
-10
-6,7
49

402.026
-2,8
4.160
-317
-7,1
51


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Quelle:
Gegenwind Nr. 260 - Mai 2010, Seite 26-28
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2010