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GEGENWIND/481: Politische Bildung und das Theater der Unterdrückten


Gegenwind Nr. 275 - August 2011
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Politische Bildung und das Theater der Unterdrückten

Von Suzanne Vogel-Vitzthum und Harald Hahn


Politische Bildung

Unter "Politischer Bildungsveranstaltung" wird meist eine formale und rationale Wissensvermittlung mit anschließender Diskussion verstanden, traditionell "Vortrag mit Diskussion". Diese Form hat für das Wissen, das Verständnis und der Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge ihre Berechtigung. Ist die Zielsetzung Politischer Bildung die Emanzipation, Mündigkeit und Aufklärung der Subjekte und die Befähigung zu eigenständigen politischen Handeln, ergeben sich interessante Schnittstellen zu den Konzepten des Theaters der Unterdrückten.

Das "Theater der Unterdrückten" ist eng verbunden mit den Kämpfen lateinamerikanischer Befreiungsbewegungen. Im Sinne einer Kultur des Dialogs (Freire) wurden von den AkteurInnen sozialer Bewegungen Herrschaftsverhältnisse und soziale Ausgrenzung bewusst gemacht und Gegenstrategien im Rahmen der Theaterarbeit (Boal) entwickelt. Das Theater der Unterdrückten ist aus einer Form emanzipatorischer politischer Bildungsarbeit entstanden und beinhaltet gleichzeitig Dimensionen ästhetischer Bildung. In den 70ern gab es in der Zielsetzung ähnliche emanzipatorische Bestrebungen der politischen Erwachsenenbildung und Kulturarbeit in Deutschland (siehe Holzapfel 1994, Hufer 2001; Flowers 2004).

Heutzutage wird in der Bildungsarbeit viel über Methodenvielfalt, Empowerment, lebenslanges Lernen und "Neue Lernkultur" etc. gesprochen. Verschleiert bei dem Einsatz bloßer Vielfalt an Methoden die Ansprüche einer postfordistischen Gesellschaft und neoliberalen Anforderungen an das Subjekt, wie z.B. Selbststeuerung und Selbstmanagement zu lernen, um sich nahtlos in die moderne neoliberale Gesellschaft einzugliedern. Politische Bildung verstanden als Intervention zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ist verpflichtet die gesellschaftlichen Widersprüche, die sich im Subjekt mit seiner Wahrnehmung von Welt widerspiegeln, aufzugreifen. Das Theater der Unterdrückten lädt ein zur Selbstemanzipation und Erprobung des Dialogs. Im Mittelpunkt stehen während der Erarbeitung eines "Theaterstücks" die Interessen der jeweiligen AkteurInnen, die gleichzeitig ihre eigenen Widersprüche reflektieren müssen. Neben der kognitiven Auseinandersetzung und Thematisierung gesellschaftlicher Strukturen werden körperlich-sinnliche Erfahrungen gemacht und alternative Handlungsoptionen ausprobiert. Das Leiden des Subjektes wird in Bezug zu den gesellschaftlichen Verhältnissen gesetzt und öffnet eine Tür zur Selbstermächtigung. Das Spannungsverhältnis wird nicht aufgelöst, es regt vielmehr die ZuschauerInnen an, selbst aktiv zu werden.

Das Theater der Unterdrückten sollte in einer handlungsorientierten und emanzipatorischen Bildungsarbeit größere Beachtung finden.


Theater der Unterdrückten

Das Theater der Unterdrückten (TdU) wird auf der ganzen Welt praktiziert. Es ist eine partizipative Theaterform, um unterschiedliche Formen von Unterdrückung sichtbar zu machen. Die mannigfaltigen Methoden werden angewandt, um aufzuzeigen das persönliche und gesellschaftliche Veränderung machbar und möglich ist. Die Menschen können sich in Workshops und Theaterprojekten ein theatralisches Handwerkszeug aneignen, das ihnen hilft, aus der Lethargie und Passivität herauszukommen. Auch ohne Schauspielausbildung ist es möglich das Theater für die Veränderung der empfundenen unterdrückerischen Situation nutzbar zu machen, wobei die individuelle Situation immer in einen politischen gesellschaftlichen Kontext gesetzt werden soll. Individuelle Problemlagen werden somit kollektiviert und nicht als individuelles Problem dargestellt. So ist z.B. Armut aufgrund von Erwerbslosigkeit kein individuelles Problem, obwohl natürlich der von Armut betroffene Mensch damit tagtäglich umgehen muss und eine Strategie um aus der Armut zu entkommen durchaus nützlich ist, um diesem Joch der materiellen Exklusion zu entkommen, dennoch ist es im Sinne des Theaters der Unterdrückten notwendig auf die gesellschaftlichen Strukturen einen Blick zu werfen die Armut erzeugt. Im Kieztheater in Berlin Kreuzberg haben wir verschiedene gesellschaftlich relevanten Themen auf die Bühne gebracht, um im Stadtteil über Ausgrenzung aufgrund von Armut oder Behinderung mit den BewohnerInnen zu diskutieren. In einer Szene die wir gespielt haben, gab es in einer Familie nicht genügend Geld für den Musikunterricht des Kindes. In der Aufführung wurde der Fokus auf die Fragen gestellt ob es ein individuelle Entscheidung ist, Kinder zu bekommen und somit man auch alleine damit klar kommen muss, wenn es keine finanziellen Möglichkeiten gibt einen Musikunterricht zu bezahlen, oder ob es nicht eine gesellschaftliche Verantwortung ist Kinder eine glückliche und kreative Kindheit zu ermöglichen, was nicht am Einkommen der Eltern scheitern darf.(1)

Auch werden im Theater der Unterdrückten Tabus aufgezeigt und durch die Sichtbarmachung und der Kommunikation darüber auch eine Kollektivierung der Probleme vorangetrieben. Persönliche Diskriminierungserfahrungen haben auch immer eine gesellschaftliche Machtebene und betrifft nicht nur das Individuum welches die Diskriminierung erfährt, sondern ein erster Schritt um Diskriminierung gesellschaftlich zu verorten kann z.B. sein zu erkennen, das andere Menschen aufgrund von externen Zuschreibungen auch diskriminiert werden. Durch die theatrale Sichtbarmachung und Kommunikation darüber ist das erlebte kein individuelles Problem mehr.

Der Gründer des "Theater der Unterdrückten" Augusto Boal der 2009 in seiner Heimat Brasilien starb, sah im ästhetischen Raum des Theaters, die Möglichkeit des Probenhandelns. Er verband es mit der Hoffnung das die emanzipatorische Erfahrung des aktiven Theaterspielens Auswirkungen auf die Alltagspraxis und Handelns eines Menschen hat. Weitverbreitet ist das Forumtheater in dem Menschen ihre selbst erlebte Unterdrückungssituation auf die Bühne bringen und das Publikum von der starren Zuschauerrolle entbunden wird und selbst als ZuschauspielerInnen auf die Bühne gehen kann. Die ZuschauspielerInnen können aktiv in die Szene eingreifen und somit die Spielszene verändern. Leider wird die Methode des Forumtheaters unter anderem Namen auch zunehmend im Unternehmenstheater z.B. zur Einübung von Verkaufsgesprächen eingesetzt, das natürlich nie im Sinne von Augusto Boal gewesen wäre. Neben dem Forumtheater, gibt es auch das Zeitungstheater, sowie die Techniken aus dem "Regenbogen der Wünsche" in der verinnerlichte Formen von Unterdrückung sichtbar gemacht werden können. In dem Empowermentprogramm: "Heimliche Begleiter - Soziale Herkunft und Bildung" verwenden wir die Technik um herauszufinden welche sozialisationsbedingt erworben "Heimlichen Begleiter" einem erfolgreichen Studienabschluss eventuell im Wege stehen.(2)


Das Unsichtbare Theater

Eine sehr spannende Theaterform ist das Unsichtbare Theater das Augusto Boal sowohl in Brasilien als auch bei verschiedenen Projekten in Europa angewandt hat.(3) Das besondere an dieser Theatermethode ist das Theater im öffentlichen Raum gespielt wird ohne das dass Publikum merkt das es Theater ist. Ein verstecktes Theater das Misstände zum Thema macht. Diese Theatermethode ist sehr anspruchsvoll weil sie eine sehr intensive Vorbereitung benötigt, denn wenn das Publikum merkt, dass Theater gespielt wird, funktioniert das Unsichtbare Theater nicht mehr, weil es dann enttarnt ist. Auch sollte man ein ernsthaftes Anliegen haben um an die Öffentlichkeit zu gehen, so ist das UT keinesfalls eine Theaterversion von "Versteckte Kamera" wo Menschen vorgeführt werden oder hinters Licht geführt werden. Die Gruppen die mit Unsichtbarem Theater experimentieren sollten sich sehr genau überlegen was ihr Anliegen ist und welche Reaktionen sie sich von ihren Mitmenschen erhoffen.

Auch kann das Unsichtbare Theater als theatrale Forschungsmethode genutzt werden. Im Rahmen eines Theaterfestival an den Uckermärkischen Bühnen mit deutschen und polnischen Jugendlichen wurde das Unsichtbare Theater genutzt um herauszufinden, was passiert wenn polnische Jugendliche in einem Einkaufszentrum einkaufen. Der Hintergrund war eine Erzählung von polnischen Teilnehmern des Workshops, das sie wenn sie im Einkaufszentrum sind immer gleich die Verkäuferin kommt und sie beobachtet. Die Gruppe wollte herausfinden, ob das so sei und wir spielten Unsichtbares Theater in der Einkaufspassage, und in der Tat war immer die Verkäuferin nah an der Gruppe dran.


Über Harald Hahn:

Harald Hahn ist Theatermacher, Autor und Sänger. Er wirkt in vielen theaterpädagogischen Projekten und Workshops mit den verschiedenen Formen des Theaters der Unterdrückten. Harald Hahn hat die Gabe kreative Gruppenprozesse phantasievoll anzustoßen, so dass auch Menschen, die zum ersten Mal zusammenarbeiten, sich auf einen kreativen Dialog einlassen können. Er hat die Fähigkeit die Zusammenarbeit so zu gestalten, dass die TeilnehmerInnen sich trauen, mit der Stimme und mit dem Körper ihre Ausdrucksweisen zu erweitern. Er ermutigt Menschen, sich auszuprobieren, Fehler machen ist erlaubt. Gleichzeitig gibt er während des Entstehensprozesses eines Theaterstücks/Performance wichtige Impulse für eine erfolgreiche Umsetzung. Theaterarbeit ist abhängig vom Regisseur. Harald Hahn inspiriert mit seiner Anleitung Menschen, sich auf neue Wege einzulassen. Und die Arbeit mit ihm macht viel Spaß.


Workshop in Kiel: Unsichtbares Theater

26. bis 28. August 2011

Die Rosa Luxemburg Stiftung Schleswig-Holstein unterstützt in Folge die jährlich stattfindenden Theaterworkshops, die die attac Theatergruppe Kiel mit Harald Hahn als Referenten organisiert. In diesem Jahr findet vom 26. bis 28. August ein Workshop in Kiel zum "Unsichtbaren Theater" nach Augusto Boal statt. Anmeldungen bis zum 20.08.2011 unter vogel@rosalux.de oder 0431/2607043.


Anmerkungen:

(1) Im Rahmen des Kieztheaterprojektes des Nachbarschaftshauses Urbanstrasse in Berlin Kreuzberg experimentierten wir mit Forumtheater als aktivierende Methode der Gemeinwesenarbeit. Die Erfahrungen wurden in dem Buch: "Das Kieztheater - Forum und Kommunikation für den Stadtteil", Hrsg: Jens Clausen / Harald Hahn / Markus Runge, Ibidem Verlag 2009 veröffentlicht.

(2) Informationen zu dem Projekt. Heimliche Begleiter befindet sich auf der Website www.heimliche-begleiter.de

(3) Eine ausführliche Darstellung der Methode befindet sich im Standardwerk des TdU: "Theater der Unterdrückten Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler" Augusto Boal, 1989 Frankfurt a. Main, S. 74 - 82


Suzanne Vogel-Vitzthum

Regionalbüro RLS SH, Kiel,
www.sh.rosalux.de
(Teil 1 - Politische Bildung)

Harald Hahn

Theatermacher, Autor und Sänger,
Berlin, www.harald-hahn.de
(Teil 2 - Theater der Unterdrückten


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Quelle:
Gegenwind Nr. 275 - August 2011, Seite 20-22
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2011