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GEGENWIND/680: Der große Streik


Gegenwind Nr. 337 - Oktober 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

WIRTSCHAFT
Der große Streik

von Günther Stamer


Mitten im sogenannten "Wirtschaftswunder" erlebte Schleswig-Holstein einen bundesweit einmaligen Arbeitskampf. Zwischen Oktober 1956 und Februar 1957 streikten landesweit Beschäftigte der Metallindustrie 114 Tage lang. Es war der längste Streik in der deutschen Geschichte seit dem Jahre 1905.

Am 24. Oktober 1956 legten mit Beginn der Frühschicht um 6 Uhr über 18.000 Metallarbeiter in 15 schleswig-holsteinischen Betrieben die Arbeit nieder; maßgeblich beteiligt waren vor allem die Werftarbeiter. Wegen des Streiks musste auf den Howaldtswerken in Kiel der für den 31. Oktober angesetzte Stapellauf eines deutschen Frachtschiffes abgesagt werden. Auch auf den Werften in Lübeck, Flensburg, Elmshorn, Lauenburg und Rendsburg kam die Arbeit Vollständig zum Erliegen.

"Wir wollen nicht länger Menschen zweiter Klasse sein!"

Wofür kämpften die Metallarbeiter? Die zentrale Forderung der IG Metall war die nach Lohnausgleich im Krankheitsfall und damit die Gleichstellung mit den Angestellten. "Wir wollen nicht länger Menschen zweiter Klasse sein!" lautete eine schlagkräftige Losung. Die Gewerkschaft verdeutlichte ihre Forderungen an einem Beispiel: Ein Arbeiter mit Frau und zwei Kindern verdiente für 28 Tage brutto 406,80 DM. Nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen verblieben ihm 350,30 DM. Wenn dieser Arbeiter krank wurde, bekam er an den ersten 3 Tagen (Karenzzeit) gar kein Geld, dann für 9 Tage Hausgeld von insgesamt 58,86 DM und 16 Tage Krankengeld in Höhe von 116,32 DM. In den vier Wochen seiner Krankheit erhielt er daher nur 175,18 DM. Seine Einkommensminderung betrug also die Hälfte seines normalen Verdienstes. Die Arbeitgeber wiesen die Forderungen der Gewerkschaft mit der Begründung zurück, dass diese zu einer zu starken finanziellen Belastung der Betriebe führten, die Arbeitsplätze gefährden und die gesamte heimische Wirtschaft belasten würden.

In einer Urabstimmung der IG Metall am 11. und 12. Oktober 1956 sprachen sich 77,7 % der schleswig-holsteinischen Metaller für den Arbeitskampf aus.

Der Streik beginnt

Daraufhin traten am 24. Oktober Metallarbeiter zwischen Flensburg und Lauenburg in den unbefristeten Streik. Er begann als Schwerpunktstreik in den gewerkschaftlich am besten organisierten Werftbetrieben und Maschinenfabriken. Mitte November ging die zentrale Streikleitung, die ihren Sitz in Kiel im Gewerkschaftshaus hatte, dazu über," auch kleinere Betriebe in den Streik einzubeziehen. Insgesamt wurde der Arbeitskampf bis zum 11. Januar 1957 auf 38 Betriebe mit 34.000 Beschäftigten ausgedehnt. Bei den Howaldtswerken z. B. beteiligten sich von 11.500 Lohnempfängern knapp 10.000 an den Streikaktionen.

Täglich wurden die "Streik Nachrichten" der IG Metall-Bezirksleitung an die Arbeiter verteilt, um sie über den Stand der Verhandlungen zu unterrichten. Auf montäglichen Streikversammlungen und auf mehreren Großkundgebungen an den großen Streikorten wurde die Streikbereitschaft der KollegInnen "am Kochen gehalten."

Zusätzlich wurde eine Vielzahl von Unterhaltungsveranstaltungen organisiert, die den Zweck verfolgten, die Streikenden und ihre Familien zusammenzuführen und ihnen dadurch das Bewusstsein zu geben, dass sie in diesem Kampf nicht allein sind. Zu diesem Programm gehörten Streikrevuen, z. B. am 31. Oktober 1956 in der Kieler Ostseehalle, Kabarettveranstaltungen, Operettenabende, kostenlose Kinovorführungen, Skat- und Schachturniere; zur Weihnachtszeit veranstaltete die Gewerkschaft landesweit Weihnachtsfeiern.

Aus dem ganzen Bundesgebiet wie auch aus anderen Ländern kamen Solidaritätsbekundungen und Solidaritätsspenden. So schrieben z.B. die Essener Krupp-Arbeiter: "Wir Arbeiter der Krupp-Werke in Essen haben erkannt, daß Ihr im Interesse aller Metallarbeiter in der Bundesrepublik handelt. Wir erklären uns mit Euch solidarisch. Gebt den Streik nicht früher auf, bevor nicht die Forderungen erfüllt sind."

Dänische Werftarbeiter erklärten, daß sie nicht bereit seien, Arbeiten auszuführen, die von bestreikten bundesdeutschen Werften an dänische Werften übergeben werden könnten, der Vorsitzende der United Steel Workers of America sandte ein Solidaritätstelegramm. Der Internationale Gewerkschaftsbund in Prag behandelte den Streik ausführlich, vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund aus der DDR gingen Solidaritätsspenden ein.

CDU-Regierungen und Leitmedien auf Seiten der Unternehmer

Die IG Metall sah sich von Beginn des Streiks an einer beispiellosen Hetzkampagne ausgesetzt. Die Adenauer-Regierung in Bonn und die Landesregierung unter Kai Uwe von Hassel in Kiel versuchten mit Hilfe der Medien die Moral und Kampfkraft der Metaller zu brechen. So behauptete der damalige Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, die Metallarbeiter setzten den Wiederaufbau Deutschlands aufs Spiel und untergrüben den Wirtschaftsstandort Deutschland. Auf große Empörung stieß eine Maßnahme des schleswig-holsteinischen Innenministers Dr. Lemke (CDU). Der Altnazi ließ ein Exposé an alle Polizeidienststellen verbreiten, in dem Streikposten als Terroristen bezeichnet wurden. Eine gerichtliche Abfuhr erlebten auch die Metallunternehmer, die in Anzeigen die Behauptung aufstellten, dass der Streik längst zu Ende gewesen wäre, wenn die Arbeiter durch den Terror der zentralen Streikleitung am Betreten ihrer Werke nicht gehindert worden wären. Diese Äußerungen wurden vom Arbeitsgericht in einer einstweiligen Verfügung verboten, weil es sich um einen legalen Streik handele, der nach erfolgter Urabstimmung beschlossen worden sei.

Und selbstverständlich wurde auch auf antikommunistische Stimmungsmache gesetzt. So erklärte der Vorsitzende der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Dr. Paulssen: "Eine Gewerkschaft, die einen Streik wie in Schleswig-Holstein beginnt, arbeitet der verbotenen Partei (KPD) in die Hände." Die 'Kieler Nachrichten' stellten fest, dass noch keine tariflichen Streitigkeiten vorüber gegangen seien, "bei denen sich nicht radikale Kräfte (Kommunisten oder Personen aus der Sowjetzone) eingeschaltet haben."

Tarifverhandlungen und Schlichtungsgespräche

Im Dezember wurden erste Schlichtungsverhandlungen geführt. Der Einigungsvorschlag der Schlichtungsstelle wurde aber von der Großen Tarifkommission der IG Metall abgelehnt. Auch 97 % der im Ausstand befindlichen Metallgewerkschaftler sprachen sich in einer Urabstimmung gegen den Einigungsvorschlag aus. In dieser Situation wandte sich Ministerpräsident von Hassel (CDU) an Bundeskanzler Konrad Adenauer, der daraufhin die Tarifparteien am 17. Januar 1957 zu einer Besprechung ins Kanzleramt einlud. Das Ergebnis der Bonner Verhandlungen wurde in einer Urabstimmung am 30. Januar mit 76 % verworfen. Die Gewerkschaftsführung beschloss die Weiterführung des Streiks, rief aber gleichzeitig, um den "Risiken eines ausgedehnten Streiks mit politischen Konsequenzen" auszuweichen, die freiwillige Schlichtungsstelle an, die am 8. Februar in Kiel zusammentrat und schon einen Tag später einen verbesserten Vorschlag verlegte. Mit nur zwei Gegenstimmen wurde er von der Tarifkommission befürwortet und den streikenden zur Annahme empfohlen.

Zwar sprachen sich in einer weiteren Urabstimmung am 13. Februar 1957 39,66 % der streikenden für und 57,66 % gegen eine Annahme aus. Da aber nach der Satzung 75 % der Stimmen für die Fortführung des Arbeitskampfes notwendig gewesen wären, war der Streik damit beendet.

Das Ergebnis des Arbeitskampfes

Wie die Urabstimmung vom Februar gezeigt hat, war das Ergebnis der Kieler Verhandlungen bei den Metallarbeitern nicht unumstritten. Es war letztlich zwischen den Tarifparteien zu einem Kompromiss gekommen, der folgendermaßen aussah:

  • Die Höhe des Lohnausgleichs im Krankheitsfall beträgt 90% des Nettolohns. Die Wartezeit (Anzahl der Karenztage) wird von sieben auf vier Tage verkürzt.
  • Bei einer Krankheitsdauer von mehr als einer Woche werden eineinhalb Karenztage voll bezahlt. Nach einer Krankheitsdauer von mehr als zwei Wochen werden drei Karenztage mit dem Nettoverdienst bezahlt.
  • Lohnfortzahlung wird bei jedem Arbeitsunfall unabhängig von der Dauer der Betriebszugehörigkeit gewährt.

Nur wenige Monate nach Beendigung des Streikes in Schleswig-Holstein verabschiedete der Bundestag das "Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall", wobei sich der Gesetzgeber an den Ergebnissen in Schleswig-Holstein orientierte. So profitierten auch Arbeiter in der gesamten Bundesrepublik von dem Erfolg der Metaller in Schleswig-Holstein. Am 1. Januar 1970 trat dann das "Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall" in Kraft. Seit dieser Zeit entfallen die Karenztage gänzlich und Arbeiter und Angestellte sind im Krankheitsfalle gleichgestellt.

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Fotoausstellung: Zeiten der Solidarität - 125 Jahre IG Metall an der Küste

Kiel
24. - 27. Oktober 2016
Gewerkschaftshaus, Legienstraße 22-24
Emma-Sorgenfrei-Foyer
geöffnet: täglich von 8 - 19 Uhr

Neumünster
31. Oktober - 4. November 2016
Rathaus Neumünster, Großflecken 59
geöffnet: Montag - Donnerstag 6.30 Uhr - 18.30 Uhr
Freitag 6.30 Uhr - 14.30 Uhr

Stadtrundfahrt/-rundgang:

147 Jahre Metallarbeiterbewegung in Kiel:
Sozialistengesetz, Streiks, Revolution und Lohnfortzahlung - Niederlagen und Erfolge

Ein Rundgang zu historischen Orten in Kiel
21. Oktober 2016, 14.30 Uhr

Treffpunkt: Gewerkschaftshaus, Legienstraße 22-24,
Ende: Gewerkschaftshaus Dauer: ca. 2,5 Stunden
Anmelden unter 0431 519512-50
Anmeldeschluss: 10. Oktober 2016

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Quelle:
Gegenwind Nr. 337 - Oktober 2016, Seite 32-34
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2016

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