Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GEGENWIND/872: 8. Mai 1945 - "Das Morgenrot der Menschheit"


Gegenwind Nr. 380, Mai 2020
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

8. Mai 1945: "Das Morgenrot der Menschheit"

Deshalb: Achter Mai arbeitsfrei! Zeit für Antifaschismus!

von Günther Stamer


"Das da hätt einmal fast die Welt regiert.
Die Völker wurden seiner Herr. Jedoch
Ich wollte, daß ihr nicht schon triumphiert:
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch"

Bertolt Brecht, Kriegsfibel (1955)

"Wer vom Faschismus redet,
darf vom Kapitalismus nicht schweigen."

Max Horkheimer (1940)


Zum 75. Jahrestages des 8. Mai mehren sich in Deutschland die Stimmen, diesen Tag bundesweit endlich als Gedenktag/Feiertag zu verankern. Auch in Schleswig-Holstein gibt es hierzu eine Initiative.

Gemeinsam haben die Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein, die Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein und die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte einen Aufruf gestartet, um den 8. Mai im ersten Schritt als offiziellen Landesgedenktag zu etablieren. Die weitergehende Forderung nach einem dauerhaften bundesweiten arbeitsfreien Feiertag sei perspektivisch das Ziel. Für die Online-Petition, die sich an die Landesregierung und den Landtag Schleswig-Holsteins richtet, konnten bereits eine Reihe namhafter Persönlichkeiten und Organisationen gewonnen werden.

online-Petition [1]


Der 8. Mai muss endlich Gedenktag werden - auch in Schleswig-Holstein!

In der Petition heißt es u.a.: "Nach 75 Jahren und mehreren Generationenwechseln wird der 8. Mai heute von der Gesellschaft größtenteils als Jahrestag der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur gesehen.

Es ist befremdlich und unverständlich, dass das demokratische Deutschland es bis heute mehrheitlich vermieden hat, den 8. Mai offiziell zu einem seiner wichtigsten politischen Gedenktage zu erheben. Erst diese Zäsur, erst diese Befreiung von außen durch die Alliierten ermöglichte eine 75-jährige friedliche, demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung. Die Zögerlichkeit und Unentschiedenheit im Umgang mit dem 8. Mai wird, je länger das Datum zurückliegt, zum geschichtspolitischen Skandal. Wir müssen endlich vorbehaltslos anerkennen, dass dieser epochale Einschnitt die Bedingung der Möglichkeit für eine humane und demokratische Neuorientierung bezeichnet und für eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus steht.

In fünf Bundesländern ist der 8. Mai bereits ein offizieller staatlicher Gedenktag: in Mecklenburg-Vorpommern seit 2002, seit 2015 auch in Brandenburg und in Thüringen, in Bremen seit März 2020 und Berlin hat ihn für 2020 einmalig zum arbeitsfreien gesetzlichen Feiertag erklärt.

Jüngst hat auch die 95-jährige Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano nochmals mit Nachdruck gefordert: 'Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten.'

Dieser Aussage schließen wir uns an. Wir fordern die Abgeordneten des Schleswig-Holsteinischen Landtages und die schleswig-holsteinische Landesregierung auf:

• den 8. Mai 1945 per Gesetz zum Gedenktag zu bestimmen

• und sich für einen entsprechenden Gedenktag auch auf
Bundesebene einzusetzen."


Achter Mai - arbeitsfrei! Zeit für Antifaschismus!

Bundesweit haben Esther Bejarano und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) eine Unterschriftensammlung gestartet, den 8. Mai zu einem gesetzlichen arbeitsfreien Feiertag zu machen [2]. Esther Bejarano schreibt: "Ich überlebte als Mitglied des 'Mädchenorchesters' das deutsche Vernichtungslager Auschwitz und konnte vor 75 Jahren auf dem Todesmarsch der Häftlinge des KZ-Ravensbrück der SS entkommen. Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Die militärische Zerschlagung des Faschismus durch die Alliierten, Partisan*innen und Widerstandskämpfer*innen als Befreiung zu begreifen, bedeutet die richtigen Schlüsse zu ziehen und auch so zu handeln. Es ist nicht hinnehmbar, dass 75 Jahre danach extreme Rechte in allen deutschen Parlamenten sitzen und in immer rascherer Folge Mord auf Mord folgt. Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen nicht. Es muss gestritten werden für die neue Welt des Friedens und der Freiheit, die die befreiten Häftlinge im Schwur von Buchenwald als Auftrag hinterlassen haben. Ein offizieller bundesweiter Feiertag wäre dafür die regelmäßige Verpflichtung. - Nicht nur, aber eben auch an jedem 8. Mai. Deshalb: Achter Mai - arbeitsfrei! Zeit für Antifaschismus!"


Zum Umgang mit dem 8. Mai in BRD/Deutschland

Jahrzehntelang tat sich das "offizielle" Bonn/Berlin schwer im Umgang mit dem 8. Mai. Vier Jahre nach Ende des Krieges befasste sich am 8. Mai 1949 in Bonn das Plenum des Parlamentarischen Rates mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Nach langer Debatte wurde kurz vor Mitternacht das Grundgesetz mit 53 Jastimmen gegen 12 Neinstimmen angenommen. Im Rahmen der Debatte bewerte der zukünftige Bundespräsident Theodor Heuss (der im übrigen 1933 als Reichstagsabgeordneter der "Deutschen Staatspartei" für das Nazi-"Ermächtigungsgesetz" gestimmt hatte) den 8. Mai als die "tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind."

Erstmals im Bundestag wurde des 8. Mai im Jahre 1970 gedacht. Willy Brandt (der als Antifaschist den 8. Mai 1945 in Stockholm erlebt hatte) war seit wenigen Monaten Bundeskanzler. Er sagte u.a.: "Was in jenen Tagen vor 25 Jahren von unzähligen Deutschen neben der persönlichen und nationalen Not empfunden wurde, war für andere Völker die Befreiung von Fremdherrschaft, von Terror und Angst."

Erstmals als Tag der Befreiung auch für das deutsche Volk bezeichnete Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 den 8. Mai in seiner Rede im Bundestag. "Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." Und erstmals würdigte ein westdeutsches Staatsoberhaupt den "Widerstand in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, den Widerstand der Kommunisten."

Aber es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis praktische Konsequenzen aus dieser Feststellung gezogen wurden: Erst 2002 wurden Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert. Bis dahin galten sie als vorbestraft - das Wesen der mörderischen Nazi-Wehrmachtsjustiz wurde jahrzehntelang als rechtens betrachtet. Und erst im Jahre 2009 wurden die sogenannten "Kriegsverräter" rehabilitiert. Diese zu Tausenden zum Tode verurteilten und hingerichteten hatten Juden geholfen, Kriegsgefangenen ein Stück Brot zugesteckt oder sich kritisch zum Kriegsverlauf geäußert.


Und so erlebte ich den 8. Mai 1945

Wie haben Menschen die Tage der Befreiung erlebt? Hier zwei Augenzeugenberichte, die vor 25 Jahren von Antifaschisten aufgeschrieben wurden:


Alfred Bringmann, Lübeck

"Ich war schon am 10. Juli 1933 verhaftet worden. Seitdem war ich in verschiedenen Haftanstalten und KZs, zuletzt im KZ Sachsenhausen. Im April 1945 sind wir von Sachsenhausen aus evakuiert worden, und ich befand mich mit fast 30.000 anderen Häftlingen auf dem Todesmarsch nach Lübeck, in Trupps von etwa 500 Häftlingen. Entsprechend dem Befehl Himmlers, daß kein Häftling lebend in die Hände der Alliierten fallen sollte, wollte man uns auf die ,Cap Arcona' und die anderen Flüchtlingsschiffe in der Lübecker Bucht bringen. Man wollte uns zusammen mit Tausenden von Häftlingen aus anderen Konzentrationslagern in der Ostsee versenken.

Wir kamen nur noch bis kurz vor Schwerin. Hier wurde der Zug von Alliierten gestoppt. Hinter uns hörten wir die Geschütze der Roten Armee. Für die SS-Leute gab es kein Entkommen. Sie wurden von der Militärpolizei festgenommen. Wir waren endlich frei."


Rudi Jürgensen, Eckernförde

"Gestern noch flogen englische Kampfflugzeuge ihre Angriffe gegen die Kriegsschiffe in der Bucht, gestern verschossen junge Männer in HJ-Uniformen die letzten Panzerfäuste, gestern noch stolzierten die 'Kettenhunde' der Feldgendarmerie durch die Straßen, ja gestern schlichen tatsächlich noch drei Männer in den 'kackbraunen' Uniformen zu ihrem SA-Lokal.

Und heute: Heute sah man keine deutschen Uniformen. Oder doch? Zwei Männer kamen vom Bahnhof und bogen in die Kieler Straße ein. 'Straße der SA' hieß sie gestern. Solche 'Uniformen' hatte ich vorher nie gesehen. Die gestreiften Hosen und Jacken schlotterten den beiden um ihre ausgemergelten Körper. Gebeugt und langsam gingen sie in die Stadt. 'De kummt seeker ut KZ', sagte mein Lehrgeselle, als ich ihm nachher davon erzählte. Und so erlebte ich den Mai 1945 [3].

Peter Gingold, europaweit geehrter deutscher Widerstandskämpfer, der im August 1944 auf Seiten der Resistance am Aufstand zur Befreiung von Paris teilnahm und den 8. Mai 1945 bei den italienischen Partisanen in Turin erlebte, wurde nicht müde zu betonen, dass dieser Tag "das Morgenrot der Menschheit" sei.


Anmerkungen:
[1] https://www.change.org/p/schleswig-holsteinischer-landtag-der-8-mai-muss-endlich-gedenktag-werden-auch-in-schleswig-holstein [2] Der gesamte Text unter:
https://www.change.org/p/8-mai-zum-feiertag-machen-was-75-jahre-nach-befreiung-vom-faschismus-getan-werden-muss-tagderbefreiung-bkagvat-bundesrat
[3] Beide Berichte aus: antifa-rundbrief der VVN-BdA, Mai 1995

*

Quelle:
Gegenwind Nr. 380, Mai 2020, Seite 62-64
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
E-Mail: redaktion@gegenwind.info
Internet: www.gegenwind.info
 
Der "Gegenwind" erscheint zwölfmal jährlich.
Einzelheft: 3,00 Euro, Jahres-Abo: 33,00 Euro,
Solidaritätsabonnement: 46,20 Euro, ermäßigtes Abo: 23,10 Euro,
Probeabo (3 Hefte) 5,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang