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GLEICHHEIT/2352: Sozialistische Perspektive für die französischen Arbeiter


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Kommitee der Vierten Internationale (IKVI)

Für den Kampf gegen die Wirtschaftskrise brauchen französische Arbeiter eine sozialistische Perspektive

Erklärung der Redaktion der World Socialist Web Site
30. Januar 2009
aus dem Englischen (28. Januar 2009)


Folgende Erklärung wurde am 29. Januar von Unterstützern des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in mehreren Städten Frankreichs verteilt. An diesem Tag riefen die französischen Gewerkschaften zu einem eintägigen Protest gegen die Regierungspolitik in der Wirtschaftskrise auf.

An diesem nationalen Aktions- und Streiktag, zu dem die französischen Gewerkschaften aufrufen, besteht die wichtigste Frage für Arbeiter in der politischen Perspektive: Wie kann die arbeitende Bevölkerung in der Wirtschaftskrise ihre Arbeitsplätze und ihren Lebensstandard verteidigen?

Das 360 Milliarden Euro schwere Rettungspaket, das Präsident Nicolas Sarkozy vergangenen Oktober schnürte, reiht sich in die Rettungspläne ein, mit denen jetzt weltweit Billionen Euros in die Banken gepumpt werden. Es steht für ein kolossales Scheitern des Kapitalismus. Sein Ziel ist die Stabilisierung des erschütterten globalen Finanzsystems, aber es tastet nicht die Reichtümer an, die über Jahrzehnte durch Abenteurertum und soziale Angriffe auf die Arbeiterklasse angehäuft wurden. Alle Rettungspakete zusammen haben es nicht geschafft, den Zusammenbruch des Kreditwesens und der Industrieproduktion zu verhindern.

Die Arbeiterinteressen können nur verteidigt werden, wenn die gesamte Arbeiterklasse in den Betrieben mobilisiert wird und in Frankreich und auf der ganzen Welt dafür kämpft, die Banken und großen Konzerne in öffentliches Eigentum zu überführen und sie unter die demokratische Führung und Kontrolle der Bevölkerung zu stellen. Das Festhalten am Privateigentum führt nur dazu, dass weiterhin Billionen Euro auf die Konten der Superreichen geschaufelt werden. Die Arbeiterklasse hat jetzt die Aufgabe, die Tätigkeit der Wirtschaft aufrechtzuerhalten und auszuweiten und so die Verarmung der Bevölkerung - der Arbeiter, Rentner und kleinen Selbständigen - zu verhindern.

Dieser Kampf erfordert in erster Linie den politischen Bruch mit der Gewerkschaftsbürokratie und dem politischen Establishment Frankreichs. Diese Kreise haben keine Antwort auf die Krise, denn all ihre Vorschläge sind völlig national orientiert. Eine neue politische Führung der Arbeiterklasse muss auf der Grundlage eines revolutionären, sozialistischen Programms aufgebaut werden, das die Wirtschaft unter die demokratische Kontrolle der Arbeiterklasse stellt.

Die staatlichen Bankenrettungspläne enthüllen Sarkozys ganzen Klassendünkel. Er verlangt, den Rotstift an Krankenhäuser, Renten und Sozialhilfe zu setzen, weil man sparen müsse. Er ist aber nicht der einzige, der solche Vorschläge macht. Vor ihm haben Präsident Jacques Chirac und auch der Premierminister der Sozialistischen Partei (PS), Lionel Jospin, ihre jeweiligen Spar- und Privatisierungsorgien mit der gleichen Begründung gerechtfertigt.

Wann immer die Reichen und die Banken Geld brauchen, ist die Regierung schnell dabei, es aufzutreiben. Nur wenn es um die existentiellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse geht, ist alles zu teuer.

Der Rettungsplan nützt weder der Kreditvergabe noch der Industrie. Laut Daten der Zentralbank sind die Kredite, die an die Unternehmen verliehen werden, seit September jeden Monat rückläufig, und die Konsumentenkredite sind im November um sieben Prozent gesunken. Die Daten zeigen, dass die Industrieproduktion in Frankreich vergangenen Monat mit einer Jahresrate von neun Prozent zurückgegangen ist. Bei kleinen Industrieunternehmen, so berichtet Le Monde, habe der Rückgang sogar 25 Prozent betragen. Im November wurden 64.000 Arbeitsplätze vernichtet, das ist eine Rekordzahl.

Es muss klar ausgesprochen worden: Die Gewerkschaften verfolgen mit diesem Streik nicht das Ziel, den Kampf der Arbeiterklasse gegen die Auswirkungen der Krise voranzubringen, sondern ihn unter Kontrolle zu halten und zu verwässern. Le Monde schrieb kürzlich: "Im Elysée-Palast wie in der Sozialistischen Partei, in Gewerkschafts- wie in Unternehmenskreisen fürchtet man eine Explosion des sozialen Kessels." Diese Vertreter des Establishments fürchten den Ausbruch einer sozialen Bewegung, die sie nicht mehr kontrollieren können.

Deswegen warteten die Gewerkschaften mit dem Aufruf zum Streik bis Dezember, anstatt ihn sofort im September auszurufen, als nach dem Bankrott der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers die Kredit- und Aktienmärkte kollabierten und klar wurde, dass die Finanzkrise enorme wirtschaftliche Folgen haben würde. Die Gewerkschaften bewahrten auffälliges Stillschweigen, als in Grichenland nach dem Tod des 15-jährigen Alexandros Grigoropoulos durch eine Polizeikugel Unruhen ausbrachen. Sie befürchteten, dass ähnliche Massenproteste sich auf ganz Europa ausdehnen könnten.

Die Verzögerung des Streiks bis Januar zielte auch darauf ab, die Proteste der Oberschüler gegen Sarkozys Schulreform zu isolieren,

Erneut geht im französischen Establishment die Furcht vor einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse um. Der konservative Figaro schrieb: "Die Furcht vor breiten Aufständen der Bevölkerung gegen die Krise beginnt sich in den Köpfen europäischer Politiker festzusetzen." Unter Verweis auf Massendemonstrationen und Unruhen in den baltischen Staaten, Island und Bulgarien fügte die Zeitung hinzu: "Weil es keine schnelle Lösung gibt, muss man deshalb nicht fürchten, dass sich diese Oppositionsbewegung auf ganz Europa ausbreitet?"

Die Gemeinsame Erklärung vom 5. Januar, mit der die Gewerkschaften zum Streik aufriefen, um die Formulierung der Politik der Regierung zu beeinflussen, wimmelt nur so von Widersprüchen. Sie fordert zur Verteidigung von Arbeitsplätzen auf, bittet aber gleichzeitig Firmen, die mit Auftragsrückgängen kämpfen, über kürzere Arbeitszeiten und Kurzarbeit zu verhandeln, "mit dem Ziel, Arbeitsplätze und Löhne zu erhalten". Sie fordert die Regierung zu Regulierungen auf, um "der Spekulation, Steuerparadiesen, der Undurchsichtigkeit des internationalen Finanzsystems und unkontrollierten Kapitalbewegungen ein Ende zu setzen". Es ist unklar, auf welche Weise Sarkozy - selbst wenn er das wollte -, seine Freunde unter den französischen Milliardären regulieren sollte, ganz zu schweigen von den Finanziers in New York, London, Tokio oder Hongkong.

Die nationalistische Perspektive der Gemeinsamen Erklärung ist reaktionär und nicht umsetzbar. Der französische Staat kann die französische Wirtschaft genauso wenig in eigener Regie von der globalen Krise abschirmen, wie Sarkozy im vergangenen Jahr die Inflationswelle niederhalten konnte. Die Ursache dieser Inflationswelle waren die massiven Preisanstiege auf den Weltrohmärkten. Obwohl die Krise sich am Anfang wesentlich auf einige Länder konzentrierte - der Zusammenbruch des Subprime-Hypothekenmarkts 2007 und der Zusammenbruch der Kredit- und Immobilienblase ergriffen zuerst die USA und einige europäische Länder wie Großbritannien und Spanien -, ist sie jetzt ein weltweites Phänomen. Die globale Kreditklemme und der Zusammenbruch von Anlagewerten und des Welthandels wirken sich inzwischen auf alle Länder aus.

Die Inkonsistenz des Gewerkschaftsprogramms ist kein Zufall. Die Bürokratie traut sich nicht, offen zu sagen, was sie vor hat. Sie versucht als Juniorpartner der herrschenden Elite, der Arbeiterklasse gegen ihren Willen Kürzungsmaßnahmen aufzuzwingen. Das lässt sich allerdings immer schwerer verschleiern. Am 25. Januar gab Sarkozys Generalsekretär Claude Guéant der Zeitung Le Parisien ein Interview, in dem er erklärte, er sei über den Streik am 29. Januar "nicht besorgt, nur aufmerksam". Auf die Frage, ob Sarkozy für starke Gewerkschaften sei, antwortete Guéant: "Ja, denn ihre Rolle ist extrem wichtig. Wir werden Initiativen ergreifen, um die Gewerkschaften repräsentativer, stärker und zu noch besseren Partnern zu machen."

Am 13. Januar hatte sich Sarkozy im Elysée-Palast mit den Führern der fünf großen Gewerkschaftsverbände getroffen (CGT, CFDT, FO, CFTC und CGC). Einer Presseerklärung des Elysée zufolge schlug Sarkozy eine bestimmte Vorgehensweise vor, "die Gewerkschaften in der Frage der Restrukturierung der Wirtschaft zu informieren und zu konsultieren", und mit ihnen an einem "modernen Beschäftigungspakt" zusammenzuarbeiten. In einer Zeit des Wirtschaftszusammenbruchs kann das nur eine Verschwörung mit dem Staat zum Zweck der Arbeitsplatzvernichtung und Lohnsenkung bedeuten.

Diese Strategie der Gewerkschaften stellt eine Neuauflage der Zusammenarbeit mit der Regierung dar, wie sie bei den Streiks vom Frühjahr und Sommer 2008 praktiziert wurde. Damals handelten die Gewerkschaften eine gemeinsame Position und ein Abkommen mit Sarkozy aus, das Rentenkürzungen und die Aufweichung der Arbeitsgesetze und der 35-Stundenwoche beinhaltete. Dann riefen sie zynisch zu einer Reihe von Streiks auf, die über einen größeren Zeitraum verteilt wurden, um Dampf abzulassen und die Arbeiter zu demoralisieren. Das Ergebnis war, dass alle Kürzungen der Regierung durchgesetzt wurden. Im Dezember blieben sehr viele Arbeiter den Gewerkschaftswahlen verärgert fern.

Jetzt geben die Gewerkschaften erneut vor, sie würden Sarkozy die Stirn bieten, indem sie zu Massendemonstrationen aufrufen. Das können sie nur wagen, weil sie sich darauf verlassen können, dass von den etablierten politischen Kräften in Frankreich niemand ihre führende Position in Frage stellt, geschweige denn in die Offensive geht, um die Krise durch einen Kampf für Arbeiterkontrolle über die Wirtschaft und für eine Arbeiterregierung zu lösen. Und die Gewerkschaften haben durchaus recht, wenn sie sich auf die Loyalität der so genannten linken Parteiführungen in Frankreich gegenüber der herrschenden Klasse verlassen.

Die offiziellen linken Parteien, die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und die Grünen, unterstützen die Gewerkschaften und schüren die Vorstellung, dass Massendruck von unten die Wirtschaftspolitik der herrschenden Elite verändern könne. Die "ganz linken" Parteien sind genauso entschlossen, die Kämpfe der Arbeiterklasse in die Kanäle der Gewerkschaftsbürokratie zu lenken, auch wenn sie sich gegelentlich die eine oder andere Kritik an ihr erlauben. Vor allem wollen sie eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse verhindern. Diese Parteien, die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), ihre Neue Antikapitalistische Partei (NPA), Lutte Ouvrière (LO) and Parti Ouvrier Indépendant (POI - Unabhängige Arbeiterpartei), lehnen eine politische Bewegung zum Sturz der Regierung ab.

Französische Arbeiter brauchen dringend eine Partei, die dafür kämpft, die Arbeiterklasse in ganz Europa auf der Grundlage eines sozialistischen Programms zu vereinen. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale und die World Socialist Web Site rufen Arbeiter und Jugendliche, die nach einer sozialistischen Alternative zu Massenarbeitslosigkeit und Armut Ausschau halten, auf, die WSWS zu lesen, Kontakt zum IKVI aufzunehmen und für den Aufbau einer französischen Sektion des IKVI in Frankreich zu kämpfen.

Siehe auch:
1968 - Generalstreik und Studentenrevolte in
Frankreich (21.Mai bis 4. September 2008)

Die radikale Linke in Frankreich
(6.-27. Mai 2004)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 30.01.2009
Für den Kampf gegen die Wirtschaftskrise brauchen
französische Arbeiter eine sozialistische Perspektive
http://wsws.org/de/2008/jan2009/fra-j30.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2009