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GLEICHHEIT/2871: Feuertod im Polizeigewahrsam - BGH hebt Freisprüche auf


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Feuertod im Polizeigewahrsam: BGH hebt Freisprüche auf

Von Martin Kreickenbaum
14. Januar 2010


Der Prozess um den Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh, der in einer Zelle im Polizeigewahrsam in Dessau verbrannte, muss neu aufgerollt werden. Der Bundesgerichtshof (BGH) kassierte am vergangenen Donnerstag die Freisprüche der beschuldigten Polizisten und wies das Verfahren zur Neuverhandlung an das Landgericht Magdeburg zurück. Der Strafsenat des BGH unter Vorsitz der Richterin Ingeborg Tepperwien hob damit zwar ein skandalöses Urteil auf, doch ist zu bezweifeln, ob die Vertuschungen und Lügen in einem neuen Verfahren beendet werden und der Fall Oury Jalloh tatsächlich vor Gericht aufgeklärt wird.

Vor genau fünf Jahren, am 7. Januar 2005, wurde Oury Jalloh von Dessauer Polizisten zur Identitätsfeststellung auf das Polizeirevier geschleppt. Da sich der Asylbewerber gegen die Behandlung wehrte, wurde er trotz seines stark alkoholisierten Zustands in eine Zelle im Keller der Polizeiwache gesperrt und an Händen und Beinen fixiert auf eine feuerfeste Matratze geschnallt. Drei Stunden später verbrannte Oury Jalloh elendig in seiner Zelle.

Bis heute ist völlig unklar, wie das Feuer in der Zelle ausbrechen konnte. Vor dem Landgericht Dessau wurde lediglich der - eigentlich unwahrscheinliche - Hergang verhandelt, dass Oury Jalloh mit einem versteckten Feuerzeug und trotz seiner Fixierung die feuerfeste Matratze selbst entzündet habe.

Die beiden angeklagten Polizisten mussten sich daher auch nur des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung erwehren. Hans-Ulrich M. wurde vorgeworfen, bei der Durchsuchung ein Feuerzeug in der Hosentasche Jallohs übersehen zu haben; dem Dienstgruppenleiter Andreas S. wurde vorgeworfen, die Gegensprechanlage zur Zelle leiser gestellt und den Rauchmelder, der den Ausbruch des Feuers anzeigte, mehrmals ignoriert zu haben.

Die Staatsanwaltschaft in Person von Christian Preissner hatte sich bei den Ermittlungen von vornherein auf die Version der Selbsttötung Oury Jallohs festgelegt und dabei eklatante Widersprüche sowie Ermittlungspannen und -fehler ignoriert. So diente der Prozess vor dem Landgericht Dessau vor allem dazu, die Polizisten zu schützen und jeglichen Verdacht des Rassismus, der Gewalttätigkeit oder gar des Mords im Keim zu ersticken. Die Verhandlung begann erst über zwei Jahre nach dem tragischen Vorfall, zog sich über 59 Prozesstage hin und endete mit einem Freispruch.

Der damalige Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff hatte den Prozess letztlich "für gescheitert" erklärt und seinen Freispruch selbst mit dem schonungslosen Kommentar versehen: "Das hat mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun." Er sei, so Richter Steinhoff, "selten so konsequent und dreist von Beamten belogen" worden. Die Polizisten hätten die Wahrheit gebeugt, sich in Widersprüche verstrickt und dadurch eine Aufklärung des Falles unmöglich gemacht.

Steinhoff kapitulierte vor der eisernen Mauer des Schweigens der Polizei. Der Freispruch der Angeklagten sorgte dementsprechend für Entsetzen und löste Tumulte und Proteste im Gerichtssaal aus. Der Richter stützte den Freispruch auf die konstruierte Annahme, der Tod Jallohs sei durch die starke Hitzeentwicklung beim Brand innerhalb kürzester Zeit eingetreten und daher wäre jede Hilfe zu spät gekommen.

Der Strafsenat am Bundesgerichtshof nannte die Feststellungen des Landgerichts nun "schwer nachvollziehbar". Die Vorsitzende Richterin Tepperwien mahnte im Wesentlichen vier Lücken und Ungereimtheiten an, die in einem neuen Verfahren aufzuklären seien.

Erstens soll überprüft werden, ob der Rauchmelder in der Zelle erst beim Ausbruch des Feuers Alarm schlug, wie das Dessauer Gericht annahm, oder ob bereits das Ankokeln der Matratze dafür ausreichte, der Alarm also wesentlich früher ausgelöst worden sein muss.

Zweitens sei ein Gutachten missachtet worden, wonach Oury Jalloh beim Ausbruch des Feuers an seiner fixierten Hand sehr frühzeitig Schmerzensschreie ausgestoßen haben müsse, die auch durch eine leiser gestellte Gegensprechanlage nicht zu ignorieren waren.

Drittens soll der Widerspruch in der Zeugenaussage der Polizeibeamtin Beate H. aufgeklärt werden. Sie hatte zunächst angegeben, Andreas S. habe den Brandalarm zweimal ausgestellt und erst ein Telefonat zu Ende geführt, ehe er in den Zellentrakt im Keller der Polizeiwache ging. Vor Gericht sagte Beate H. dann aber aus, dass zwischen dem ersten Alarmsignal und dem Nachsehen durch Andreas S. höchstens zehn Sekunden vergangen seien.

Viertens monierte der Strafsenat, dass "das wichtige Bindeglied fehle, ob und wie es Jalloh möglich gewesen sein soll, den Brand zu legen". Die Gutachten und Rekonstruktionen hätten zwar ergeben, dass ein gefesselter Mensch noch irgendwie in der Lage sei, ein Feuerzeug aus der Hosentasche zu ziehen. Auch das stufenweise Inbrandsetzen der feuerfesten Matratze - Aufprokeln der Naht der feuerfesten Umhüllung, Anzünden der brennbaren Innenfutters aus Schaumstoff - sei möglich. Die Beweisführung der Selbsttötung lasse aber ungeklärt, ob ein betrunkener Mann, der mit der Hand an der Zellenwand fixiert ist, tatsächlich zur Ausführung all diese Schritte in der Lage sei.

Jörg Schindler hat den Spruch des Bundesgerichtshofes in der Frankfurter Rundschau als "Erfolg für den Rechtsstaat" gewertet und Heribert Prantl meinte in der Süddeutschen Zeitung sogar, die Justiz habe "den Teppich weggezogen", unter den der Skandal gekehrt werden sollte. Doch das ist völlig verfehlt. Nichts spricht dafür, dass ein zweites Verfahren Licht in das Dunkel des Falles bringen wird. Denn auch der Bundesgerichtshof hält an der Version fest, dass Oury Jalloh sich selbst verbrannt habe. Tepperwien betonte zudem in der Urteilsbegründung, dass "der Ausgang des neuen Hauptverfahrens völlig offen sei" und auch für Polizeibeamte der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" gelte.

Dabei weist der Fall noch eine Fülle weiterer Ungereimtheiten auf, die die Version der Polizei in arge Zweifel ziehen und auch vom BGH unberücksichtigt blieben. So hat die Polizei gleich mehrere Versionen geliefert, wie Oury Jalloh in Besitz des Feuerzeugs kommen konnte. Schweigen herrscht aber über den Umstand, dass das Feuerzeug in der ersten Asservatenliste gar nicht aufgetaucht war. Das Feuerzeug, das später als Tatwerkzeug präsentiert wurde, wies zudem kaum Verschmorungen auf, obwohl es der enormen Hitze in der Zelle ausgesetzt war. Andere Beweismittel wie die Handschellen und entscheidende Passagen des Videobandes der Spurensicherung sind verschwunden.

Der Obduktionsbericht wurde zurückgehalten und eine zweite Obduktion, die erst auf Initiative der Familie des Opfers durchgeführt wurde, stellte einen Nasenbeinbruch und eine Verletzung des Trommelfels fest, Verletzungen, die vor dem Brand entstanden sein müssen und auf schwere Misshandlungen Oury Jallohs durch die Polizei hinweisen.

Die Hauptzeugin Beate H. veränderte ihre Aussage, nachdem während des Landgericht-Prozesses im Polizeirevier Dessau ein Zeugeninformationstreffen stattgefunden hatte. Hier war anscheinend der Korpsgeist der Polizei beschworen worden.

Die polizeiliche Willkür zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass Oury Jalloh überhaupt auf die Wache geschleppt wurde. Am Morgen des 7. Januar 2005 hatte Jalloh drei Frauen angesprochen, um sich ein Mobiltelefon von ihnen zu leihen. Sie lehnten ab, und als Oury Jalloh nicht locker ließ, verständigten sie die Polizei, die den Asylbewerber zur Identitätsfeststellung mitnahm.

Jalloh hatte aber einen Ausweis dabei und war gerade einige Wochen zuvor auf der gleichen Wache einer Identitätsfeststellung unterzogen worden. Ihm wurde keine Straftat zur Last gelegt, seine Identität hätte innerhalb von Minuten bestätigt werden können, aber auf dem Revier wurde er in Gewahrsam genommen, anscheinend misshandelt, stundenlang auf eine Matratze geschnallt und so bewegungsunfähig gemacht - zu seiner eigenen "Sicherheit", wie es im Polizeijargon heißt.

Ein derart schikanierendes Verhalten gegenüber Flüchtlingen, Drogenabhängigen und Obdachlosen ist bei der Polizei kein Einzelfall. So war bereits 2002 in der gleichen Zelle des Dessauer Polizeireviers ein Obdachloser gestorben, der fünfzehn Stunden in Gewahrsam verbringen musste, davon lange Zeit völlig unkontrolliert. Bereits damals wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den gleichen Polizeibeamten Andreas S. eingeleitet, jedoch alsbald eingestellt.

Im Zuge des Prozesses gegen Neonazis, die im Sommer 2000 in Dessau den Mosambikaner Alberto Adriano ermordet hatten, kam heraus, dass die Polizei im Dessauer Stadtpark regelrecht Jagd auf Schwarzafrikaner gemacht hatte. Unter Verdacht des Drogenhandels wurden die Afrikaner öffentlich nackt ausgezogen und durchsucht. Schon damals hatte es ein Ermittlungsverfahren gegen drei Polizisten gegeben, die auf der Wache einen 18-jährigen Afrikaner geschlagen und getreten hatten.

Nach einer Studie der Universität Halle starben zwischen 1993 und 2003 bundesweit 128 Menschen im Polizeigewahrsam. Die Autoren der Studie kamen zu dem Schluss, dass jeder zweite Tod hätte verhindert werden können. Zu Ermittlungsverfahren, Gerichtsverhandlungen oder gar Verurteilungen kommt es jedoch höchst selten. Alleine in Berlin wurde im Jahr 2008 in 550 Fällen Anzeige gegen Polizeiübergriffe erstattet, in ganzen zwei Fällen kam es auch zur Anklage.

Wie Polizei und Staatsanwaltschaften aktiv Ermittlungen gegen eigene Leute verhindern, zeigt der Fall Oury Jalloh beispielhaft. Denn dass dieser Fall überhaupt publik wurde, ist nicht unwesentlich dem Engagement von Mouctar Bah zu verdanken, der auch die Eltern von Oury Jalloh informierte und durchsetzte, dass sie als Nebenkläger im Prozess zugelassen wurden. Den Polizisten und Behörden in Dessau galt er dadurch aber fortan als Störenfried, und man versuchte ihm, wo es nur ging, Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Ende 2005 wurde dem gebürtigen Guineer unter fadenscheinigen Gründen die Gewerbelizenz für seinen Telefonladen entzogen. Bah wurde zum Angestellten in seinem eigenen Laden, wo nun regelmäßig Razzien und Kontrollen durchgeführt wurden. So auch gezielt am 16. Dezember 2009, als sich Bah mit Freunden auf den Weg nach Karlsruhe machen wollte, um an der Verhandlung über die Zulassung der Revision im Fall Oury Jalloh teilzunehmen. Gegen 14 Uhr stürmten Polizisten das Telecafe, in dem Bah arbeitete, durchsuchten vier Stunden lang ohne richterlichen Beschluss die Räumlichkeiten und verschwanden wieder, ohne ein Durchsuchungsprotokoll zu hinterlassen.

Begründet wurde die Aktion vor Ort mit dem neuen Polizeigesetz, laut dem "verrufene und verruchte Orte" auch ohne richterlichen Beschluss durchsucht werden dürfen. Der Einsatzleiter war nicht vor Ort, sondern saß in der Dienststelle und war für Bah unerreichbar. Federführend bei der Aktion, die sich vordergründig gegen angebliche Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz richtete, war der Staatsanwalt Christian Preissner, der im Fall Oury Jalloh die Anklage vertreten und nur in Richtung Selbsttötung ermitteln lassen hatte.

Rechtsbeugungen, Vertuschung, Lügen, Schlamperei und unterlassene Ermittlungen haben hier offensichtlich System. Die Vorfälle in Dessau erinnern an schlimmste Zeiten polizeilicher Willkür.

Siehe auch:
Dessauer Landgericht spricht beschuldigte
Polizisten frei (12. Dezember 2008)

Asylbewerber stirbt im Polizeigewahrsam in Dessau
(19. Februar 2005)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 14.01.2010
Feuertod im Polizeigewahrsam: BGH hebt Freisprüche auf
http://wsws.org/de/2010/jan2010/oury-j14.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2010